Drygalski, verh. Derwein, Irma von Johanna Maria Lydia 

Geburtsdatum/-ort: 03.12.1892; Berlin-Charlottenburg
Sterbedatum/-ort: 04.03.1953;  Heidelberg
Beruf/Funktion:
  • Schriftstellerin
Kurzbiografie: Besuch der Volks- und höheren Töchterschule; Schauspielschule Karlsruhe bei Otto Kienscherff
1916-1918 Krankenschwester des Roten Kreuzes Heidelberg (Galizien und Rumänien)
1920-1937 Veröffentlichung zahlreicher Prosawerke, darunter zuletzt „Rineck“ 2. Aufl. 1942
1927-1933 Mitbegründerin und Mitglied der Gemeinschaft Deutscher und Österreichischer Künstlerinnenvereine (GEDOK), Heidelberg
1932-1935 Aufführung mehrerer Theaterstücke, darunter das Volksschauspiel „Das brotlose Mahl“ 1935
1935-1944 öffentliche Puppenspiele
1935 Dietrich-Eckart-Preis des Verlages Philipp Reclam jun. Leipzig
Weitere Angaben zur Person: Religion: evangelisch
Verheiratet: 1919 Braunschweig, Carl Wilhelm Herbert Derwein (1893-1961), Historiker, Stadtarchivar
Eltern: Franz Heinrich Arthur (1860-1914), königlich preußischer Oberst und Kriegsschulkommandeur
Helene Sybilla, geb. Mezger (1869-1918)
Geschwister: Eva (1894-1944), Wiesbaden
Alexandra (1895-1982), Homburg v. d. Höhe
Petronella (1897-1958), ebenda
Cäcilie (1900-1925), Engers
Margarethe (1903-1924), ebenda
Victoria (1908-1979), Rastatt
Kinder: Inge (geb. 1920)
Helmut (1922-1974)
Gisela (1924-1996)
GND-ID: GND/101216858

Biografie: Clemens Siebler (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 3 (2002), 47-50

Das weit verzweigte Geschlecht der von Drygalski war in Ostpreußen beheimatet. Gleichermaßen großen Wert legte man in der Familie auf die gesellschaftliche Rangstellung und die Bildungstradition. Drygalskis Großvater war Direktor am Kneiphöfischen Stadt-Gymnasium in Königsberg; aus einer ostpreußischen Gutsbesitzerfamilie kam die Großmutter. Der jüngere Bruder des Vaters, Erich Dagobert von Drygalski (1865-1949), war Polarforscher und langjähriger Professor für Geographie an der Universität München. Süddeutsch-schwäbischer Herkunft waren ihre mütterlichen Vorfahren, die im 18. Jahrhundert aus der Gegend um Heilbronn nach Holland ausgewandert waren. Ihr späteres Interesse an der Geschichte verdankte Drygalski hauptsächlich ihrem Großvater Johann Georg Mezger, der als Arzt in Amsterdam tätig war. In seinem Hause wurde noch immer die Erinnerung an Wilhelm von Oranien-Nassau (1533-1584) lebendig gehalten.
Daß Drygalski in Berlin geboren wurde, war eher zufällig, denn häufige Versetzungen gehörten bei ihrem Vater, der Berufsoffizier war, zum Alltag. Der Reihe nach lebte die Familie in Wiesbaden, Bad Homburg, Engers a. Rh. und Rastatt.
Schon als Zwölfjährige hatte Drygalski erste lyrische und dramatische Versuche unternommen. Für das Künstlerische besonders aufgeschlossen, entdeckte sie allmählich ihre eigenen gestalterischen Talente, und so reifte in ihr der Plan, Schauspielerin zu werden. Als die Familie 1911 nach Metz verzog, blieb sie in Rastatt und nahm von dort aus in Karlsruhe Schauspielunterricht.
Der Ausbruch des I. Weltkrieges brachte für sie einschneidende Veränderungen. Bereits im Oktober 1914 verlor sie ihren Vater vor Apremont im Argonner Wald (Departement Ardennes); 1916 fiel ihr Verlobter. Von Heidelberg, dem neuen Wohnsitz der Familie, ging sie im Spätjahr 1916 als Krankenschwester nach Galizien und Rumänien. Ihre Eindrücke vom dortigen Kriegsgeschehen und von den Leiden der Verwundeten hat sie in einer 1931 erschienenen Schrift „Heidelberger in Rumänien“ geschildert.
Seit dem Kriegsende wohnte sie dauerhaft in Heidelberg und betätigte sich vorwiegend schriftstellerisch. Sie war bereits Preisträgerin in einem Novellenwettbewerb geworden, den 1920 der schlesische Schriftsteller Paul Keller (1873-1932) in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift „Die Bergstadt“ ausgeschrieben hatte, als 1921 in der „Deutschen Zeitung“ (Berlin) ihr Roman „Im Dunkeln“ erschien. Ihr schon in der Jugend grundgelegtes Geschichtsverständnis erhielt weitere Impulse durch den Historiker Herbert Derwein, mit dem sie seit 1919 verheiratet war. Über sein Buch „Die Heidelberger Romantik“ (1922) fand sie unmittelbaren Zugang zur Geschichte ihres neuen Lebensraumes.
Ihre frühe Komödiantennovelle „Flipp Woller“ (1927) durchzieht eine romantische Grundstimmung, die in ihrem Novellenband „Im Schatten des Heiligen Berges“ (1927) zur vollen Entfaltung kommt; durch ihn ist Drygalski breiten Kreisen bekannt geworden. In einem späteren Roman „Juliane von Krüdener“ (1928) wird die in der 4. Novelle („Ein Sommernachtstraum“) dargestellte Episode von der Begegnung dieser Frau mit Zar Alexander zu einer breit angelegten, sehr komplexen Handlung ausgeweitet. Nach sorgfältigen Studien von Geschichtswerken und Memoiren gelang es der Autorin, die Seelenentwicklung der Titelgestalt eindrucksvoll und lebensnah nachzuvollziehen. Ebenfalls 1928 erschien der Roman „Der Bauernprophet“. Auf alte Ratsprotokolle und mündliche Überlieferungen gestützt, erzählt Drygalski das Schicksal des Pfälzer Bauern Johann Adam Müller aus Meckesheim, der mit dem zweiten Gesicht begabt, zu König Friedrich Wilhelm III. nach Königsberg reiste, um ihn zum Kampf gegen Napoleon zu bewegen. Zwar liegt der Begebenheit ein geschichtlicher Kern zugrunde, aber das abgerundete Bild dieses seltsamen Menschen war nur mit Hilfe der einfühlsamen Phantasie der Erzählerin zu erreichen. Vor allem durch starke Rückgriffe auf die Pfälzer Mundart gelang ihr die gewünschte Wirklichkeitsnähe.
Hinsichtlich ihrer epischen Gestaltungskraft erreichte Drygalski in ihrem letzten größeren Prosawerk „Rineck. Traum und Fluch der Landfahrer“ (1937) einen Höhepunkt. Ein von den Idealen der Philanthropie beseelter Pfarrer hatte am Ende des 18. Jahrhundert die Odenwaldgemeinde Rineck gegründet, wo er Landstreicher und Verbrecher ansiedelte, um sie zu seßhaften Bauern und besseren Menschen zu machen. Der Versuch scheiterte gänzlich an der Verdorbenheit der Vagabunden. Schon 1849 mußte das in Aufruhr geratene Dorf aufgelöst werden.
Drygalski schrieb auch Theaterstücke. Ausfluß ihrer starken Affinität zum Heimisch-Bodenständigen waren eine Reihe volkstümlicher Laienspiele. Für die Handschuhsheimer Burgspiele verfaßte sie zwei Schauspiele, zunächst „Die letzten Ritter von Handschuhsheim“ (1932); eine Laiengruppe spielte damals unter der Leitung der Autorin. Dann, 1933, „Dorf in Not“, das im Kriegsjahr 1689 spielt, als Mélac die Pfalz verwüstete. Als Reformationsspiel hat sie im selben Jahr „Das Wort vom Kreuz“ konzipiert, das die Erinnerung an Luthers Aufenthalt in Heidelberg (1518) wachhalten sollte. Wiederum ein Jahr später folgte das Theaterstück „Gottschalk der Deutsche“. Als ihr bekanntestes Volksschauspiel gilt gemeinhin „Das brotlose Mahl“, die Bühnenbearbeitung einer von Gustav Schwab in der Ballade „Das Mahl zu Heidelberg“ erzählten Episode. Für dieses Werk, das in Braunschweig uraufgeführt wurde, erhielt Drygalski 1935 den Dietrich-Eckart-Preis, den der Verlag Philipp Reclam jun. zur Gewinnung wertvoller deutscher Bühnenstücke gestiftet hatte.
Wie in der epischen Dichtung hat Drygalski im Laufe der Jahre auch in ihren Bühnenwerken einen beachtlichen Reifungsprozeß durchgemacht. Ihr Schauspiel „Zur reinen Gewalt“ mit Szenen aus dem Befreiungskampf der Niederlande erfuhr am 15. November 1935 im Städtischen Theater Heidelberg eine vielbeachtete Uraufführung. Dieses Theaterstück kann als eine reife Frucht ihrer frühen Begegnung mit Wilhelm von Oranien im Hause ihres Großvaters betrachtet werden.
Nach dem Landfahrerroman „Rineck“, der 1942 eine Neuauflage erfuhr, trat Drygalski mit größeren Werken nicht mehr in Erscheinung. Aber sie schrieb, wie schon in früheren Jahren, weiterhin für Zeitungen und Zeitschriften, veranstaltete Dichterlesungen und hielt Vorträge, auch im Rundfunk. Viel Zeit und Liebe schenkte sie dem Handpuppenspiel, das sie meisterhaft beherrschte. In weiten Teilen des damaligen Reiches waren ihre Vorführungen geschätzt und gut besucht. Da sich Drygalski gänzlich auf ihre Improvisationskunst verließ, liegen schriftliche Aufzeichnungen ihrer Stücke nicht vor.
Als Schriftstellerin hatte Drygalski maßgeblich aus den Kräften der Heimat und des Bodens geschöpft. Daher waren ihre Werke auch im Dritten Reich wohlgelitten, und wegen ihrer schauspielerischen und künstlerischen Begabung wurde sie auch von der Partei umworben. Als die alleinige Ernährerin ihrer Familie (ihr in jungen Jahren ertaubter Mann erhielt erst 1941 eine feste Anstellung) war auch sie zu Kompromissen bereit. Es waren vorrangig wirtschaftliche Gründe, die sie bewogen haben, die Kunst des Handpuppenspiels in den Dienst der von der Partei und ihren Gliederungen (vor allem NS-Frauenschaft) betriebenen „Volkstumsarbeit“ zu stellen. Die damit verbundenen Reisen durch weite Landstriche entsprachen gleichzeitig ihrem Bedürfnis nach enger Berührung mit Land und Leuten; denn nur so glaubte sie, neue Kraftquellen für ihr dichterisches Schaffen erschließen zu können. Ihre Arbeit fand Anerkennung durch die Verleihung der Medaille für Volkspflege.
Drygalski, die schon im I. Weltkrieg schweres Leid erfahren hatte, blieb auch im II. von harten Schicksalsschlägen nicht verschont. Ihr Sohn wurde 1942 schwer verwundet; ihren Schwiegersohn verlor sie 1944 an der Front. Die ungemein leidensfähige Frau fand im selben Jahr Trost in der Geburt eines Enkelkindes, dem sie neben der ständigen Sorge um ihren behinderten Mann viel Zuwendung angedeihen ließ. Unerwartet starb sie im Alter von erst 60 Jahren an den Folgen eines Herzinfarktes.
Quellen: Stadtarchiv Heidelberg; Mitteilungen Frau Inge Schaffner, geb. Derwein, Heidelberg
Werke: Bibliographien (nur lückenhaft), in: Kürschners Deutscher Literatur-Kalender, 52. Jg., 82 (sub Derwein), 1952; Deutsches Literatur-Lexikon, begründet von W. Kosch, Bd. 3, Sp. 597, 3. Aufl. 1971; Kürschners Deutscher Literatur-Kalender, Nekrolog 1936-1970, 111 (sub Derwein), 1973; Gesamtverzeichnis des deutschsprachigen Schrifttums (GV) 1911-1965, Bd. 29, 227/28, 1977. Einzeltitel (in Auswahl): Die Wachspuppe. Erzählung, in: Die Bergstadt. Monatsblätter, hg. von P. Keller, 9. Jg., (1920/21) Bd. 1, 469-476; Antje Anderswiels helle Nacht. Erzählung, ebd., Bd. 2, 65-69; Flipp Woller. Eine Erzählung, 1927; Im Schatten des Heiligen Berges. Sechs Dichternovellen um Heidelberg, 1927 (6. Aufl. 1953); Der Bauernprophet. Roman, 1928; Juliane von Krüdener. Roman, 1928; Heidelberger in Rumänien. Erlebnisse bei den Stationen des Heidelberger Roten Kreuzes im Südosten während der Kriegsjahre 1916/18, 1931; Die letzten Ritter von Handschuhsheim. Ein Burgspiel, 1932; Dorf in Not. Ein Burgspiel, 1933; Das Wort vom Kreuz: Luther in Heidelberg. Ein Reformationsspiel, 1933; Gottschalk der Deutsche. Spiel in drei Akten, 1934; Das brotlose Mahl. Volksschauspiel, 1935; Zur reinen Gewalt. Schauspiel, Uraufführung Heidelberg 1935; Rineck. Traum und Fluch der Landfahrer, 1937 (2. Aufl. 1942); Heidelberger Schnurren und Anekdoten, in: EJ 23. Jg. (1942), 106 und 24. Jg. (1943), 137; Heidelberg. Das Antlitz einer Stadt. Eine Bildfolge von R. Schuler. Einleitende Worte von Irma von Drygalski mit Zeichnungen von H. Lemke, 1950 (5. Aufl. 1964); von zahlreichen Beiträgen im „Heidelberger Fremdenblatt“ seien eigens erwähnt: Die Heidelberger Anekdote, Jg. 1952/53, passim; Heiteres Heidelberg. Anekdoten aus dem Nachlaß von Irma von Drygalski, Jg. 1959/60, passim; Anekdoten, in: Heidelberg in Anekdoten, hg. von F. Nötzoldt, 1979
Nachweis: Bildnachweise: Ostdeutsche Monatshefte, 10. Jg. 1929/30, H. 9, 703, 1930; Heidelberger Fremdenblatt 1935, H. 3, 14; EJ 22. Jg. 1941, 44; Heidelberger Fremdenblatt 1953/54, H. 1, 16

Literatur: K. Gehrig, Maisbach und sein Prophet (Johann Adam Müller), in: Die Pyramide. Wochenschrift zum Karlsruher Tagblatt, 15. Jg., 1926, Nr. 45, 211-213; L. Bäte, Irma von Drygalski, in: Der Wächter. Zeitschrift für alle Zweige der Kultur, 10. Jg., 1928, H. 11/12, 269; ders., Irma von Drygalski, in: Ostdeutsche Monatshefte, 10. Jg., 1929/30, H. 9, 702-705; N. N. (dt), Eine Heidelbergerin erhält den Dietrich-Eckart-Preis. Irma von Drygalski und ihr Volksstück „Das brotlose Mahl“, in: Heidelberger Fremdenblatt 1935, H. 3, 14-16; F. Baser, Vom Roman zum Volksschauspiel. Leben und Schaffen Irma von Drygalskis, in: Die Westmark. Monatsschrift für deutsche Kultur, Jg. 1936/37, H. 4, 207, 1937; F. Lennartz, Die Dichter unserer Zeit. 275 Einzeldarstellungen zur deutschen Dichtung der Gegenwart, 1938, 59; W. E. Oeftering, Geschichte der Literatur in Baden, 3. Teil, in: Vom Bodensee zum Main, Nr. 47, 1939, 148; W. Schmidt, Irma von Drygalski. Weg und Werk, in: EJ 22. Jg., 1941, 44-49; T. T., Abschied von Irma von Drygalski, in: Heidelberger Tageblatt, 9. März 1953; E. Weis, In memoriam Irma von Drygalski, in: Rhein-Neckar-Zeitung Nr. 56, 1953; N. N., Irma von Drygalski zum Gedächtnis, in: Heidelberger Fremdenblatt 1953/54, Nr. 1, 16; F. Lennartz, Deutsche Schriftsteller des 20. Jahrhunderts im Spiegel der Kritik, Bd. 1, 1984, 397; Genealogisches Handbuch des Adels. Adelige Häuser B, Bd. 16, 1985, 167-173; R. L., Die „Bauernprophet“-Autorin wurde vor 100 Jahren geboren, in: RNZ vom 23.07.1992
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