Stickl, Otto Anton Franz 

Geburtsdatum/-ort: 11.05.1897; Rain am Lech
Sterbedatum/-ort: 27.09.1951;  Tübingen
Beruf/Funktion:
  • Prof. der Hygiene, Rektor der Univ. Tübingen
Kurzbiografie: 1904–1917 Volksschule Rain am Lech, Progymnasien Donauwörth und Landsberg/Lech, Altes Gymnasium Bamberg
1916–1917 Infanterist, nach sechs Wochen als felddienstuntauglich entlassen, Einsatz beim Vaterländischen Hilfsdienst bei der Stadtverwaltung Füssen
1917–1922 Studium der Medizin in München, im Sommer 1919 Angehöriger der Studentenkompanie der Münchner Einwohnerwehr
1923–1925 Medizinalpraktikant und Volontärarzt an der II. Medizinischen Klinik in München; 1924 Dr. med.
1925–1926 Assistent am Hygiene-Institut Heidelberg
1926–1934 Erster Assistent, seit 1927 Oberassistent am Hygiene-Institut der Univ. Greifswald
1928 – 1934 Privatdozent für Medizinische Hygiene und Bakteriologie in Greifswald
1934–1936 Lehrstuhlvertreter (1.5.1934), dann 1934 o. Prof. der Hygiene und Direktor des Instituts für Medizinische Hygiene (1.9.1934), Stellvertreter des Dekans der Medizinischen Fakultät (15.11.1934)
1936–1951 o. Prof. der Hygiene und Direktor des Hygienischen Instituts der Univ. Tübingen (1.9.1936), Mai 1946 als Prof. entlassen, seither Leiter des (staatl.) Medizinaluntersuchungsamts am Hygienischen Institut, 1.10.1949 wieder eingesetzt
1938–1939 Dekan der Medizinischen Fakultät
1939–1945 Rektor
Weitere Angaben zur Person: Religion: rk., seit 1937 konfessionslos
Mitgliedschaften: Mitgliedschaften und Ämter: Förderndes Mitglied der SS (Nov. 1932); NSDAP (1.3.1933); Kreiskulturwart bzw. Kreisamtsleiter (1.5.1933); Ortsgruppenleiter des Kampfbundes für Deutsche Kultur (26.5.1933); Reichsluftschutzbund (11.11.1933); Unterführer der Preußischen Dozentenschaft für die Medizinische Fakultät (15.12.1933–1.2.1935); Vertrauensmann der NSDAP-Reichsleitung für die Medizinische Fakultät (18.1.1934); NS-Ärztebund (24.1.1934); Gemeinderat (Ratsherr) der Stadt Greifswald (1934); Mitglied des Vorstands der Ärztekammer Pommerns (1934); NSV (1.11.1934); kommiss. Gaudozentenbundsführer in Pommern (10.2.1936); Korrespondierendes Mitglied des Medizinischen Vereins Greifswald (26.11.1936); Mitglied der SA (1938), zuletzt Obersturmbannführer (1944); NS-Altherrenbund bzw. Kameradschaft „Yorck“ (Herbst 1938); Reichskolonialbund (Juni 1942); Beirat der Hölderlin-Gesellschaft (Juni 1943–Mai 1945); Reichsgesundheitsrat (Dez. 1943); Außenstellenleiter des Reichsgesundheitsrats (Nov. 1944)
Verheiratet: 1923 Ljuba, geb. Dobreff (1894–1961)
Eltern: Vater: Anton Stickl (1863–1924), Dr. med., Obermedizinalrat in Füssen
Mutter: Maria, geb. Röhrer (1871–1953)
Geschwister: 1
Kinder: Helmut (1926–1971)
GND-ID: GND/1012575004

Biografie: Michael Wischnath (Autor)
Aus: Württembergische Biographien 2 (2011), 281-283

Mit dem Anatomen Robert Wetzel (1898–1962), dem Psychiater Hermann Hoffmann (1891–1944) und dem Hygieniker Otto Stickl wurden im Laufe des Jahres 1936 jene drei nationalsozialistischen Mediziner nach Tübingen berufen, in deren Händen von 1938 bis 1945 die leitenden Ämter der Hochschule liegen sollten. Von ihnen war nur Stickl, Sohn eines Arztes aus dem bayerischen Schwaben, nach Herkunft und akademischem Werdegang kein „Tübinger“.
Zum Nationalsozialismus will Stickl bereits in den für ihn prägenden Münchner Studienjahren ein enges Verhältnis gewonnen haben, trat der Partei jedoch erst 1933 bei, wobei er Wert darauf legte, den Aufnahmeantrag schon drei Tage vor der Machtergreifung gestellt zu haben. Die fachlichen Leistungen, das politische Engagement und sein Ansehen bei der längst mehrheitlich nationalsozialistischen Studentenschaft prädestinierten den Greifswalder Oberassistenten und Privatdozenten zu raschem Avancement. An der Medizinischen Fakultät hatte er als Vertreter der Dozentenschaft und Vertrauensmann der Partei bald eine Schlüsselposition inne. Bereits im Frühsommer 1933 – damals standen nicht weniger als fünf Hygienelehrstühle zur Neubesetzung an – attestierte ihm die Fakultät die Berufungsfähigkeit und stellte unüblich früh den Antrag auf Verleihung des Professorentitels. Noch ehe es dazu kam, übernahm Stickl im Mai 1934 nach dem Wechsel Gerhard Dresels (1885–1964) nach Leipzig dessen Lehrstuhl, zunächst vertretungsweise, seit September als Ordinarius und Institutsdirektor. Einen Ruf nach Göttingen hatte er ausgeschlagen. Schon 1936 verließ Stickl Greifswald. Dabei wurde die bereits wirksam gewordene Versetzung nach Kiel in letzter Minute rückgängig gemacht, nachdem er sich für das Tübinger Angebot entschieden hatte. Hier bot sich ihm die Chance, das kleine, völlig unzulänglich untergebrachte Institut nach dem schon länger geplanten Umzug in das alte Akademische Krankenhaus nach seinen Vorstellungen ganz neu einzurichten und auszubauen. Im Januar 1938 wurde das neue Institut eröffnet. Es erfreute sich auch in der Folge des besonderen Wohlwollens Ministerpräsident Mergenthalers, mit dessen Unterstützung es 1942 als erstes deutsches Hochschulinstitut ein Elektronenmikroskop und noch 1944 eine Ultrazentrifuge für präparative und analytische Zwecke erhielt. Das Elektronenmikroskop, Stickls ganzer Stolz, wurde schon im Mai 1945 nach Paris abtransportiert. Trotzdem zog das hochmodern ausgestattete Institut damals den Besuch zahlreicher alliierter Experten an und galt als besonderer Aktivposten der Hochschule. Als Wissenschaftler beherrsche Stickl die ganze Breite seines Faches mit dem Schwerpunkt auf Bakteriologie, Immunitätslehre und Karzinomforschung. Bereits in seiner Habilitationsarbeit hatte er die Möglichkeiten der chemotherapeutischen Beeinflussung des experimentellen Tierkarzinoms untersucht und diesen Ansatz auch später weiterverfolgt, freilich ohne seine ausgedehnten Arbeiten auf diesem Gebiet zum Abschluss bringen zu können. Ebenfalls auf dem Gebiet der Chemotherapie lagen Untersuchungen zur Wirkung von Sulfonamiden auf die Darmbakterienflora und über die Wirkungsweise der Sulfonamide bei Ruhr und Typhus, die für die spätere klinische Anwendung grundlegend waren. Weitere Arbeiten waren der Mutation und Variation insbesondere der Typhus- und Tuberkelbazillen gewidmet, seine letzte größere Veröffentlichung behandelte „Bakteriologie und Immunologie der Tuberkulose“.
Unter Hoffmann, der Ende 1937 das Rektorat übernommen hatte, wurde Stickl im Dezember 1938 erst Dekan der Medizinischen Fakultät und am 1. November 1939 dessen Nachfolger als Rektor. Damals war die Universität geschlossen, Stickl selbst stand als beratender Hygieniker einer Armee am Oberrhein. Seine Amtsgeschäfte versah er zunächst im Wechsel mit Hoffmann als Prorektor, wozu beide pro Woche je drei Tage Fronturlaub erhielten. Von Beginn des Westfeldzugs im Mai 1940 bis zu Stickls Beurlaubung vom Heeresdienst fungierte Wetzel, als Rektor-Stellvertreter. Unter den Bedingungen des Krieges und im Spannungsfeld konkurrierender Interessen blieb Stickl wenig Spielraum zu eigener Initiative. Im Gegensatz zu den fanatischen Nationalsozialisten Hoffmann und Wetzel – letzterer gerierte sich bis zu seiner Ablösung als Dozentenführer als der eigentlich „starke Mann“ der Universität – war der persönlich gewinnende und im Ton konziliante Stickl um Ausgleich und Vermittlung bemüht, so dass ihm später stets nur persönliche Lauterkeit und untadelige Amtsführung im Interesse von Universität und Wissenschaft nachgerühmt wurden. Dabei stand seine politische Zuverlässigkeit außer Frage. Der weltanschaulich motivierte Umbau im nationalsozialistischen Sinn ging auch unter seiner Ägide weiter, allerdings kriegsbedingt verlangsamt und überlagert von der Notwendigkeit, unter immer schwierigeren äußeren Bedingungen vor allem den Klinik- und Ausbildungsbetrieb aufrechtzuerhalten.
Nach der Besetzung Tübingens (19.4.1945) glaubte Stickl zunächst, das Rektoramt bis zur Konsolidierung der Verhältnisse weiterführen zu können. Er wurde aber am 7. Mai von den „Nichtparteimitgliedern“ unter der Professorenschaft zum Rücktritt genötigt. Im Herbst 1945 als Parteimitglied nur kurzzeitig suspendiert, wurde er auf Anordnung der Militärregierung bei einer weiteren Säuberungswelle im Mai 1946 entlassen, die vor allem frühere Dekane und Rektoren betraf. Stickl verlor zwar Lehramt und Institutsleitung, andererseits war seine Kompetenz auf dem Gebiet der Seuchenbekämpfung und -prophylaxe nicht zu entbehren. So behielt er mit Zustimmung der Militärregierung, die den renommierten Wissenschaftler im Grunde in Tübingen halten wollte, die Leitung des Medizinaluntersuchungsamtes „am“ Hygiene-Institut. Als solches fungierte eine Abteilung des Instituts nach preußischem Vorbild bereits seit 1938 für eine Reihe württembergischer Landkreise. Jetzt erweiterte sich seine Zuständigkeit sogar auf das gesamte französisch besetzte Gebiet Württembergs und Hohenzollerns.
Trotz des Drucks der Landesregierung ließ die Universität den Hygienelehrstuhl fast drei Jahre unbesetzt, um wenige Tage nach Inkrafttreten des Spruchkammerurteils vom November 1948, das ihn als „Mitläufer“ eingestuft hatte, mit nur einer Gegenstimme Stickls Wiederberufung vorzuschlagen. Widerstrebend setzte ihn die Landesregierung am 1. Oktober 1949 schließlich wieder in sein Amt ein. Die damit verbundene Gehaltskürzung um 20 % wurde schon nach einem Jahr aufgehoben, um die Wegberufung nach Marburg oder Göttingen zu verhindern. Am 27. September 1951 erlag Stickl einem Herzinfarkt. Sein früher Tod verhinderte nicht nur das Reifen mancher wissenschaftlichen Pläne, sondern auch seine Lösung vom Nationalsozialismus, dem „tragischen Irrtum, seines Lebens“, wie sein Nachfolger urteilte. Wohl ist die noble Art menschlich beeindruckend, in der sich Stickl auch in persönlichen Aufzeichnungen negativer Urteile selbst über seine Gegner enthielt. Aber seine Kritik am NS-Regime ging über die Feststellung, Vertreter der Partei hätten „fachlich und menschlich“ versagt, nicht hinaus. Was ihn selbst anging, so fand er nichts, wovon er im Rückblick meinte, es rechtfertigen oder erklären zu müssen. Selbst seine Rektoratsreden, in denen er von NS-Phraseologie allerdings eher zurückhaltend Gebrauch gemacht hatte, hätten seiner Meinung nach mit kleinen terminologischen Anpassungen genau so wieder gehalten werden können. Sein Denken blieb gefangen in den Kategorien von Pflicht, Treue und nationaler Ehre, und das bestimmte bis zuletzt auch sein Urteil über die Entnazifizierung, deren auch nur prinzipielle Berechtigung er nicht einzusehen vermochte.
Quellen: UA Tübingen, Bestände 117, 125, 126/669 (PA Greifswald/Kiel/Tübingen), 205, 663 (NL).
Werke: UA Tübingen Bestand 663/3 (Rektoratsreden), 663/11 (Schriftenverzeichnis).
Nachweis: Bildnachweise: UA Tübingen.

Literatur: Michael Grüttner, Biographisches Lexikon zur nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik, 2004, 168 f.; Johannes Michael Wischnath, Eine Frage des Stolzes und der Ehre. Die politische Säuberung der Univ. Tübingen und ihr letzter NS-Rektor Otto Stickl, in: Wolfgang Sannwald (Hrg.), Persilschein, Käferkauf und Abschlachtprämie, 1998, 103–123.
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