Kohleiss, geb. Bergmann, Annelies 

Geburtsdatum/-ort: 12.11.1919; Kaiserslautern
Sterbedatum/-ort: 06.06.1995;  Rheinfelden (Baden), Beisetzung am 14.06.1995 auf dem Waldfriedhof Stuttgart-Degerloch
Beruf/Funktion:
  • Volkswirtin und Juristin, Frauenrechtlerin, Senatspräsidentin am Landessozialgericht Baden-Württemberg und Vorsitzende des Deutschen Juristinnenbunds e. V.
Kurzbiografie: 1940-1942 Volkswirtschaftsstudium an der Universität München; Abschluß: Diplom
1943 Promoviert durch Prof. Dr. Terhalle, Universität München, zum Dr. rer. pol., Aufnahme des Jurastudiums
1946 I. Juristisches Staatsexamen in Heidelberg
1949 II. Juristisches Staatsexamen
1951 Gerichtsassessorin am Landesversicherungsamt, Stuttgart
1967 Mitglied des Deutschen Akademikerinnenbundes
1970 Senatspräsidentin am Landessozialgericht Baden-Württemberg, Vorsitzende eines Rentenversicherungssenats
1973 Mitglied des Deutschen Juristinnenbundes e. V. (DJB)
1976 Mitglied der Evangelischen Heimstiftung
1977-1979 Mitarbeit in der Staatlichen Sachverständigenkommission zur Neuordnung der sozialen Sicherung der Frau und der Hinterbliebenen
1977 In den Bundesvorstand des DJB gewählt
1978 Vorsitz in der Rentenkommission des DJB
1979-1981 Zweite Vorsitzende des DJB
1981-1983 Erste Vorsitzende des DJB
1984 Ruhestand
1985 Stellvertretende Vorsitzende der evangelischen Heimstiftung e. V.
1994 Verdienstmedaille des Landes Baden-Württemberg
Weitere Angaben zur Person: Religion: evangelisch
Verheiratet: 1950 Heidelberg, Wolfgang Kohleiss (1908-1966), Präsident des Landesjustizprüfungsamts Baden-Württemberg
Eltern: Richard Bergmann (1890-1972), evangelischer Pfarrer
Setti, geb. Oberthür (1900-1986)
Geschwister: Hellmut (geb. 1921)
Kinder: Claudia Kohleiss-Rottmann (geb. 1952, Stuttgart), Rechtsanwältin
GND-ID: GND/1012702065

Biografie: Sibylle Thelen (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 3 (2002), 199-202

Kohleiss wächst in einer evangelischen Pfarrfamilie auf. Der Vater wird vom pfälzischen Dorf Mittelbrunn zuerst nach Kirchheim-Bolanden, dann 1930 nach Ludwigshafen an die Martin-Luther-Gemeinde versetzt. Der Wechsel ermöglicht Kohleiss und ihrem jüngeren Bruder Hellmut den Besuch des Gymnasiums. Die Eltern legen Wert auf Bildung. Das Studium der Tochter ist so selbstverständlich wie das des Sohnes. In diesem Bewußtsein wächst Kohleiss schon als kleines Mädchen auf. Insbesondere der Vater, ein von Friedrich Naumann beeinflußter liberal gesinnter Theologe, gibt ihr dabei moralische Unterstützung. Die Mutter hatte nach der mittleren Reife von einer Berufsausbildung als Lehrerin abgesehen und geheiratet.
Die Eltern lehnen die Nationalsozialisten strikt ab. Mit dem 30. Januar 1933 ist man in der Opposition. Diese Haltung prägt Denken und Handeln der Tochter. Sie lernt für das Leben, daß man sich im Widerspruch zur herrschenden Meinung befinden und am Ende doch recht behalten kann. Weil der Vater von der Gestapo beobachtet wird, erfährt Kohleiss Druck in der Schule. Sie fühlt sich als Außenseiterin. Die ständige Angst vor der Verhaftung des Vaters beeinflußt die Wahl ihres Studienfachs. Erst will sie Medizin studieren. Doch sie entscheidet sich für Volkswirtschaft. Damit folgt sie dem Rat ihrer Familie, denn der Studiengang ist kurz und läßt sich im schlimmsten Fall auch ohne Abschluß beruflich nutzen. Im Februar 1943, als die Geschwister Scholl verhaftet werden, bereitet sie sich in München auf die Promotion vor. Sie besucht die Verhandlungen gegen die Scholls vor dem Volksgerichtshof – eine Erfahrung, von der sie noch im hohen Alter persönlich berührt berichtet. In ihrem Alltagsleben macht Kohleiss keinen Hehl aus ihrer ablehnenden Haltung. „Daß sie rauchte“, erinnert sich die Juristin Gertrud Hofmann im Nachruf, „war eine Trotzhandlung gegen den NS-Propagandaspruch ‚Eine deutsche Frau raucht nicht‘.“ Früher als andere erkennt Kohleiss, daß das Ende des NS-Regimes naht. Sie beginnt – als eine der wenigen Frauen an der Fakultät – mit dem Jurastudium. Im „Dritten Reich“ sind Frauen im Richteramt oder im Anwaltsberuf nicht erwünscht.
Nach dem zweiten Staatsexamen arbeitet Kohleiss in Heidelberg kurze Zeit als Anwältin. Auch nach ihrer Hochzeit mit dem Juristen Wolfgang Kohleiss im Mai 1950 bleibt sie in Heidelberg, bis sie eine Stelle in Stuttgart, am Wohnort ihres Mannes findet. 1951 zieht Kohleiss nach Stuttgart um. Sie wird Richterin am Landesversicherungsamt, dem Vorläufer des Landessozialgerichts Baden-Württemberg. Beim Einstieg, aber auch bei ihrer Verbeamtung zwei Jahre später wird ihre Ehe mit einem Beamten beim Landesjustizministerium zum spezifisch weiblichen Problem: Bei ihrer Einstellung in den Justizdienst muß sie unterschreiben, gegebenenfalls einem „anstellungswürdigen“ männlichen Assessor ihren Platz freizumachen. Und bei ihrer Verbeamtung 1953 beschäftigt sich sogar der Landtag mit der Frage, ob es eine Beamtin im höheren Dienst geben darf, die bereits mit einem Beamten im höheren Dienst verheiratet ist. Ein Verweis auf das bereits geltende Gleichstellungsgebot im Grundgesetz beantwortet diese Frage. Dennoch gibt die Episode ein einschlägiges Bild von der ehelichen Rollenverteilung in den 1950er Jahren – ein Bild, dem sich Kohleiss nicht anpaßt, auch als sie 1952 ihr erstes und einziges Kind, Claudia, zur Welt bringt. Acht Wochen nach der Niederkunft ist sie wieder im Dienst. Claudia wächst in der Obhut einer Haustochter auf. Kohleiss wendet einen wesentlichen Teil ihres Gehalts für die personelle Organisation des Haushalts auf: Zuhause führt das Ehepaar Fachgespräche; ihr Mann schätzt die berufliche Kompetenz seiner Frau. Stolz erfüllt ihn, als sie beim Juristentag 1963 erstmals öffentlich das Wort ergreift und Stellung bezieht, erinnert sich die Tochter Claudia.
Am Landesversicherungsamt arbeitet sich Kohleiss in das Sozialrecht ein. 30 Jahre soll sie die Rechtsprechung des Landessozialgerichts prägen, davon 14 Jahre bis zu ihrer Versetzung in den Ruhestand 1984 als Senatspräsidentin. Mit ihrem Fleiß, ihrem großen Wissen und nicht zuletzt mit ihrem beherzten, mitunter kompromißlosen Engagement gewinnt sie die Anerkennung der Kollegen. Der Aufstieg allerdings ist für sie als Frau nicht einfach. Vergebens bewirbt sie sich um das Amt des Vizepräsidenten und des Präsidenten am Landessozialgericht. Die Vorbehalte gegen eine Frau in diesen Würden werden deutlich zum Ausdruck gebracht.
Kohleiss konzentriert sich früh auf das Rentenversicherungsrecht. Dabei widmet sich die Juristin nicht nur der Rechtsauslegung und -anwendung, vielmehr hat die leidenschaftliche Rechnerin das System im Blick. Ihr geht es darum, die Interessen der Leistungsempfänger einerseits und der Leistungsträger andererseits in einer tragfähigen, finanzierbaren Rentenversicherung auszutarieren. Bei diesem ehrgeizigen Anliegen reicht ihr das Gericht als Forum nicht aus. Mit der bewußt provozierenden Frage „Ist das sozial?“, so der Titel ihres 1967 erscheinenden Buches, wendet sie sich an die Öffentlichkeit – und löst prompt eine heftige Debatte über die Sozialversicherung aus. Anhand von Beispielen deckt sie Ungerechtes und Ungereimtes auf. Ihr Ideal ist dabei ein Sozialversicherungsrecht, das mehr als bisher auch den Versicherten gerecht wird, die heute und in Zukunft durch ihre Arbeitsleistungen und ihre Beiträge die Mittel für die Leistungen aus der Sozialversicherung aufbringen, und das mehr als das bisherige Recht dazu angetan ist, das Verantwortungsbewußtsein nicht herabzusetzen, sondern zu stärken. Doch weil sie unangenehme Fakten präsentiert, wird ihr öffentlich unterstellt, „Stoff für einen Angriff auf die Sozialversicherung“ zu liefern. In Fachkreisen gilt sie indes als Expertin im Rentenrecht. Das Bundesarbeitsministerium beruft sie in eine Sachverständigenkommission und das Bundesverfassungsgericht hört sie als Sachverständige. Für den Deutschen Juristinnenbund, dem sie 1973 gemeinsam mit der Tochter beitritt, und den Deutschen Frauenrat firmiert sie als die Spezialistin in rentenrechtlichen Fragen. Ein Aspekt ihres Spezialgebiets liegt Kohleiss ganz besonders am Herzen. Er wird zum Thema ihres Lebens, ja sogar zur Lebensaufgabe: die eigenständige Sicherung der Frau in der Rentenversicherung. Im Verlauf der Jahrzehnte weist sie immer wieder kritisch auf die Benachteiligung der Frauen im Rentenrecht und bei den Rentenreformen hin. „Die Erziehung von Kindern gefährdet die eigene Altersversicherung“ stellt sie in ihrem Buch „Sie heiratet ja doch“ (1983) fest. Von einem echten Generationenvertrag kann deshalb ihrer Meinung nach nicht gesprochen werden. Es empört sie, daß Kindererziehungszeiten im Rentenrecht wie eine „verschuldete Nichtleistung“ ignoriert werden. Und es empört sie umso mehr, als das Rentenrecht in anderen Fällen – etwa bei Krankheit – durchaus beitragslose Zeiten rentensteigernd berücksichtigt. Mit kritischer Ironie prangert sie diesen Mißstand immer wieder an, so auch in einem Interview des Süddeutschen Rundfunks: „Der Motorradfahrer, der im betrunkenen Zustand an den Baum gefahren ist und zwei Jahre arbeitsunfähig krank war, dem wurde selbstverständlich diese Zeit ... angerechnet. Der Mutter, die zwei Jahre ausgefallen ist, weil sie ein Kind hatte – wie kam die auf die Idee, auch dafür noch was haben zu wollen?“ Mitte der 1970er Jahre gehört sie zu den ersten Experten, die für die Anrechnung der Kindererziehungszeiten im Rentenrecht werben, stößt aber auf taube Ohren. Doch die Rentenexpertin ist ihrer Zeit wieder voraus: Im sogenannten Trümmerfrauenurteil vom 7. Juli 1992 fordert der 1. Senat des Bundesverfassungsgerichts die Bundesregierung dazu auf, Kindererziehungszeiten im Rentenrecht zu berücksichtigen und Nachteile abzubauen. Die Richter stellen fest, daß es sich bei dieser Aufgabe um die den dauerhaften Bestand der Alterssicherung erhaltende Leistung handelt. Damit bestätigt das Urteil die von Kohleiss ausgearbeitete Stellungnahme.
In zahlreichen Urteilen folgt das Verfassungsgericht den Stellungnahmen der Rentenexpertin. So erklärt Karlsruhe am 16. Juni 1981 die 1965 eingeführten unterschiedlich hohen Tabellenwerte für die ersten Versicherungsjahre und Ausbildungszeiten für Frauen und Männer für verfassungswidrig. Kohleiss bezeichnet diesen Sieg als den größten Erfolg des Deutschen Juristinnenbundes. „Es entsprach ihrer bescheidenen Art, nicht von ihrem Erfolg zu sprechen“, stellt Gertrud Hofmann fest, mochte die Stellungnahme des DJB auch von ihr gewesen sein. Kohleiss setzt sich zudem mit ihren Stellungnahmen zur Höhe der Hinterbliebenenrente, zur Verfassungsmäßigkeit des neuen Scheidungsrechts und des Versorgungsausgleichs durch. Und sie obsiegt beim vorgezogenen Altersruhegeld für Frauen: Die Verfassungsrichter stellen am 28. Januar 1987 fest, daß die frühere Verrentung von Frauen angesichts der zahlreichen Benachteiligungen gegenüber den Männern nur einen geringen Ausgleich bringt und deshalb nicht anfechtbar ist. Ein Mann hatte Verfassungsbeschwerde eingelegt, weil Frauen bereits mit 60, Männer hingegen erst mit 63 Jahren Rente erhalten können.
Kohleiss betreibt regelrecht Frauenforschung. Sie spürt Quellen auf, aus denen sich die rechtliche Lage von Frauen in den vergangenen Jahrhunderten, aber auch in der Moderne ableiten läßt. Engagiert greift sie zur Feder, ohne Scheu vor harten Formulierungen. „Eheschließung bedeutete für Frauen auch im Jahr 1950, 1951 und 1952 noch weitgehende Entmündigung“, stellt sie 1988 in der Frauenzeitschrift „Emma“ in einem Artikel über die mühsame Anpassung der Gesetze an Artikel 3 im Grundgesetz fest. Immer wieder weist sie auf frauendiskriminierende Rechtslagen hin. Dann übt sie harte Kritik am Gesetzgeber, hinter dem sich in der Mehrheit Männer verbergen. Und sie kritisiert leise resigniert die Betroffenen: „Frauen nehmen offensichtlich auch heute noch verfassungswidrige Benachteiligungen eher hin“, schreibt sie noch im Mai 1995 gemeinsam mit ihrer Tochter.
Ein Jahr vor ihrem Tod wird Kohleiss mit der Verdienstmedaille des Landes Baden-Württemberg ausgezeichnet. Diese späte Würdigung ihres Lebenswerkes, angeregt vom Hauptgeschäftsführer der Evangelischen Heimstiftung e. V., Albrecht Teichmann, gilt ihrer richterlichen Tätigkeit, vor allem aber auch ihrem ehrenamtlichen Engagement im sozialen Bereich und ihrem konsequenten Einsatz für die Gleichberechtigung. In den Nachrufen werden ihre Verve und Ausdauer, ihre warmherzige und uneitle Art, ihre Kompromißlosigkeit und Unbeirrbarkeit gewürdigt. Vielen jüngeren Kolleginnen sei sie Ansporn und Vorbild gewesen, stellt der Vizepräsident des Landessozialgerichts, Wolfgang Ost, fest.
Bis zu ihrem Lebensende ist Kohleiss aktiv. Im Ruhestand setzt sie ihre ehrenamtliche Arbeit für Frauenverbände wie den Deutschen Juristinnenbund fort. Sie schreibt Rechtsgutachten, hält Vorträge, ist – in Erinnerung an ihre Wurzeln in einem evangelischen Elternhaus – für die Evangelische Heimstiftung aktiv. Ende April 1994 diagnostizierten die Ärzte Krebs. Sie übersteht eine Operation gut. Mit großer Leidenschaft arbeitet sie mit der Tochter gemeinsam an einer Verfassungsbeschwerde gegen die Pflegeversicherung, wird schließlich aber doch innerhalb von nur zwei Monaten dahingerafft und stirbt im Kreis ihrer Familie.
Quellen: Gespräche mit Claudia Kohleiss-Rottman 1995 und 1996; Gespräch mit Dr. Hertha Engelbrecht, Geschäftsführerin des Deutschen Juristinnenbunds
Werke: (Auswahl) Die Gewerbesteuer in 36 bayerischen Gemeinden – ein Beitrag zur Frage des Finanzausgleichs (Diss. München, Manuskript) 1943; Sie heiratet ja doch – Ehe und soziale Sicherheit der Frau gestern, heute und morgen 1983, 125 S.; Neue Modelle und neue Probleme – Zur Neuordnung der Hinterbliebenenversorgung. Frankfurter Rundschau 18.08.1984; Frauen in und vor der Justiz – der lange Weg zu den Berufen der Rechtspflege, in: Kritische Vierteljahrsschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 1988, 115-127; Der Ehe-Vertrag, in: Emma, 5/1988; Die Gefährdung der eigenen Alterssicherung der Frauen durch Kindererziehung, Familie und Recht 1991, 147-150; Kindererziehungszeiten in der Rente, in: Informationen für die Frau, Folge 1, Januar 1994, 42. Jg., 17; mit Claudia Kohleiss-Rottmann, Scheidung – Versorgungsausgleich – und doch keine Rente bei Erwerbsunfähigkeit, in: Informationen für die Frau, Folge 5, Mai 1995, 44. Jg., 5
Nachweis: Bildnachweise: Foto in Stuttgarter Zeitung, vgl. Literatur Lepiorz

Literatur: Claudia Braune, Die kritische Frage einer Sozialrichterin: Ist das sozial? – Selbst Betrüger werden noch geschützt, in: Stuttgarter Nachrichten vom 31.01.1968; N. N., Ist das sozial? in: Die Welt, 12.03.1968; Susan Lepiorz, Annelies Kohleiss, Juristin, in: Stuttgarter Zeitung vom 23.10.1981 (samt Foto); Gertrud Hofmann, In memoriam Dr. Annelies Kohleiss, in: Aktuelle Info des DJB, S. 32/1995; Dr. Wolfgang Ost, Ansporn und Vorbild für jüngere Kolleginnen, in: Informationen für die Frau, Folge 7/8 Juli/August 1995, 44. Jg. 26; Irmgard Jalowy, Anwältin der Frauen mit Verve und Ausdauer, in: Informationen für die Frau a. a. O.; Interview im SDR: „Heute im Gespräch“ SDR 1, Schlechte Behandlung von Müttern im Recht, 05.12.1995
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