Baum, Marie 

Geburtsdatum/-ort: 23.03.1874; Danzig
Sterbedatum/-ort: 08.08.1964;  Heidelberg
Beruf/Funktion:
  • Sozialpolitikerin, Verfolgte des NS-Regimes
Kurzbiografie: 1893-1899 Chemiestudium in Zürich, Freundschaft mit Ricarda Huch und Käthe Kollwitz
1897 Diplom als Fachlehrerin für Naturwissenschaften
1897-1899 Assistentin am chemischen Institut in Zürich
1899 Promotion
1899-1902 Chemikerin in der Patentabteilung der A.G.F.A. in Berlin
1902-1907 zweite Fabrikinspektorin in Karlsruhe als Nachfolgerin von Else Jaffe-von Richthofen
1907-1916 Geschäftsführerin des „Vereins für Säuglingsfürsorge“ im Regierungsbezirk Düsseldorf
1915 Organisation der Kriegswohlfahrtspflege in Danzig
1916-1919 Leitung der Anstalt „Soziale Frauenschule und sozialpädagogisches Institut“ in Hamburg zusammen mit Gertrud Bäumer
1919 Mitgliedschaft in der DDP, Wahl in die Verfassunggebende Nationalversammlung in Weimar
1919-1920 Reichstagsabgeordnete der DDP für den Wahlkreis Schleswig-Holstein
1919-1926 Referentin für Wohlfahrtspflege beim badischen Arbeitsministerium in Karlsruhe
1920 Einrichtung des Kinderdorfes „Heuberg“ bei Stetten am kalten Markt für ca. 1 000 Kinder
1928-1933 Lehrauftrag an der Universität Heidelberg für Sozial- und Staatswissenschaften
1931 Vortragsreise durch die USA
1932-1934 Ricarda Huch wohnt bei Baum
1933 Entzug der Lehrbefugnis wegen ihrer Abstammung aus der jüdischen Familie Mendelssohn-Bartholdy und Berufsverbot
1946-1952 erneuter Lehrauftrag an der Universität Heidelberg; Gründung der Elisabeth-von Thadden-Schule
1949 Ehrenbürgerin der Universität Heidelberg
Weitere Angaben zur Person: Religion: evangelisch
Verheiratet: unverheiratet
Eltern: Vater: Wilhelm Georg Baum (1836-1896), praktischer Arzt, Leiter des städtischen Krankenhauses in Danzig
Mutter: Fanny Auguste Florentina (Flora), geb. Lejeune-Dirichlet
Geschwister: 3 Schwestern (Rebekka, Anna, Lotte)
2 Brüder (Wilhelm, Ernst)
GND-ID: GND/116087749

Biografie: Wolfgang Bocks (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 1 (1994), 9-11

Das Elternhaus in Danzig hat bereits das breite Spektrum vorgezeichnet, das Baums Leben bestimmen sollte. Durch den Vater, der Leiter des städtischen Krankenhauses in Danzig war und als Privatarzt unentgeltlich praktizierte, erfuhr sie die Selbstlosigkeit sozialen Engagements. Die Mutter, Tochter des Gauß-Nachfolgers Gustav Lejeune-Dirichlet auf dem Göttinger Lehrstuhl für Mathematik und mütterlicherseits aus der Familie Mendelssohn-Bartholdy stammend, vermittelte den Sinn für das Mathematisch-Naturwissenschaftliche und Ästhetische.
Da zum damaligen Zeitpunkt Frauen weder zur Reifeprüfung noch zum Hochschulstudium zugelassen wurden, schickten die Eltern 1893 ihre 19jährige Tochter alleine nach Zürich, wo sie am Polytechnikum Chemie und Biologie studierte und nach 6 Jahren ihre Promotion erhielt. Ungewöhnlich für eine Frau, erhielt Baum wegen ihres Könnens trotz Widerständen eine zweijährige Assistentinnenstelle am chemischen Institut. Im liberalen und den beruflichen Leistungen der Frau aufgeschlossenen Zürich lernte Baum u. a. über den Deutschen Studentinnenverein, dessen Leiterin sie zwischenzeitlich war, einige Kommilitoninnen kennen, mit denen sie für ihr weiteres Leben freundschaftlich verbunden bleiben sollte. So die Juristin und spätere Leiterin der Deutschen Zentrale für Jugendfürsorge in Berlin, Frieda Duensing, ferner Käthe Kollwitz und vor allem Ricarda Huch, der sie in einer bedeutenden Biographie ein Denkmal gesetzt hat. Der starke Zusammenhalt der Frauen vieler Nationen untereinander, das Selbstbewußtsein als Frau, die antibürgerliche Stimmung, ein eher gefühlsbetonter Sozialismus und das Gefühl des Aufbruchs haben Baum für ihr weiteres Leben entscheidend mitgeprägt.
Enttäuschend verlief – trotz Empfehlungen durch die Universität – die Suche nach einem Arbeitsplatz in den Nordschweizer Industrieunternehmen, da man einer Frau gegenüber ablehnend eingestellt war. So wechselte sie in die Patentabteilung der A.G.F.A. nach Berlin, wo sie zwar Erfolg hatte, aber den Widerspruch zwischen rücksichtslosem Wirtschaftsleben und den gesellschaftlichen Notwendigkeiten nicht mittragen wollte.
So entschied sie sich für die weitere Zukunft für den Weg der sozialen Verantwortung. Teils auf eigenen Wunsch, teils auf Vermittlung der ihr bekannten Sozialpolitikerin Alice Salomon wurde sie in Karlsruhe Nachfolgerin der ersten deutschen Fabrikinspektorin Else Jaffe-von Richthofen. Zu Fuß oder Rad, per Eisenbahn oder im Wagen hatte sie die Arbeit der 55 000 Frauen und 17 000 Jugendlichen in den Betrieben zu überwachen, ab 1904 noch zusätzlich die Kinder in der Hausindustrie; ferner prüfte sie die Einhaltung der Arbeitsordnungen. In Tarifverträgen sah Baum das einzige Mittel gegen die rechtliche Ohnmacht des einzelnen Arbeiters. Als geradezu körperlichen Schmerz empfand sie oft das geschaute menschliche Elend, die Gleichgültigkeit der Betriebsleitungen und selbst der Arbeiter gegen ihre eigene Situation. Aufsehen erregte ihre Pionierarbeit über die soziale Lage der Lohnarbeiterinnen in Karlsruhe, in der zum ersten Male die Ursachen für die Kindersterblichkeit im ersten Lebensjahr untersucht wurden. In einer Zeit ohne Jugendamt, ohne Amtsvormundschaft und Mütterberatungsstelle, ohne Fürsorgerinnen und Fürsorgearzt, in der es noch nicht einmal Kinderkliniken gab, sah Baum, daß es gerade die Kinder waren, die den Preis der Industriellen Revolution zu zahlen hatten. Ein Vortrag über „Säuglingssterblichkeit und Säuglingsfürsorge“ 1906 in Mannheim gab der Provinzialregierung in Düsseldorf Anlaß, ihr die Stelle einer Geschäftsführerin des „Vereins für Säuglingsfürsorge“ im Regierungsbezirk anzubieten. Baum nahm an, da ihre Differenzen mit dem Leiter der Fabrikinspektion, Karl Bittmann, nicht auszuräumen waren. Wie Max Weber, mit dem und seiner Frau Marianne sie befreundet war, in einem Zeitungsartikel zurecht vermutete, war der „männlichen Geschlechtseitelkeit“ das Gleichheitsprinzip zwischen den männlichen und weiblichen Kollegen geopfert worden.
Nach einem einsemestrigen Zwischenstudium der Philosophie in Heidelberg, wo sie auch den Strafrechtler und späteren Justizminister Gustav Radbruch kennenlernte, wechselte das „rote Bäumchen“, wie ihr Spitzname im Großherzogtum wegen ihrer sozialpolitischen Einstellung lautete, nach Düsseldorf. Hier rückten für sie bei einer Sterblichkeitsziffer von 1/6 der ehelichen und 1/3 der unehelichen Kinder Fragen der Geburtenregelung und einer gezielten Familienfürsorge in den Mittelpunkt.
Als Mitglied des Hauptausschusses des „Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge“ arbeitete Baum auch eng mit dem „Bund deutscher Frauenvereine“ zusammen und war überzeugte Anhängerin der Frauenbewegung.
Nach Ausbruch des Krieges setzte sie sich vehement für den Schutz der Mütter vor Arbeitsplätzen in der Kriegswirtschaft ein und organisierte zusammen mit ihrer inzwischen in Holland verheirateten Freundin aus Zürich, Margarete von Uexküll, für ca. 60 000 Kinder Ferienaufenthalte in Holland.
1916 folgte Baum einem Angebot von Gertrud Bäumer nach Hamburg, wo sie an der „Sozialen Frauenschule“ Volkswirtschaft und Sozialpolitik unterrichtete. Durch die frauenfeindliche und rigorose Politik des Demobilmachungsamtes 1919 hatte keine der Absolventinnen eine Chance, angestellt zu werden, da sämtliche Arbeitsplätze von Frauen für Männer freigemacht werden mußten, auch in dem sensiblen Bereich der Fürsorge.
Dem politischen Kreis um Friedrich Naumann nahestehend, wurde Baum als eine von 36 Frauen Abgeordnete der DDP in der Weimarer Nationalversammlung. Auch dem ersten Reichstag der neuen Republik gehörte sie als Abgeordnete ihres Wahlkreises Schleswig-Holstein an. Über die Parteigrenzen hinweg arbeiteten die Frauen hier noch interfraktionell zusammen. Von der zunehmenden Brutalisierung des politischen Lebens abgeschreckt, verzichtete Baum auf eine weitere Legislaturperiode und folgte dem Angebot des badischen Arbeitsministeriums nach Karlsruhe, wo ihr als Referentin für Wohlfahrtspflege die Sorge um die notleidenden und hungernden Kinder übertragen wurde. Die Städte waren weitgehend überfordert mit dieser Aufgabe der Nachkriegszeit. In der Nähe von Stetten am kalten Markt organisierte Baum auf dem ehemaligen Truppenübungsgelände das Musterkinderheim der Weimarer Republik, den „Heuberg“, das schon 1920 1 000 Kinder übernehmen konnte. Der „Heuberg“ war als überkonfessioneller Zweckverband baden-württembergischer Gemeinden organisiert, dessen faktische, wenn auch nicht amtliche Vorsitzende Baum war. 1923 wurde das Heim auch für die inflationsgeschädigten Kinder des Reiches geöffnet. Bis zur Schließung durch die Nationalsozialisten 1933 konnten über 100 000 Kinder hier Erholung finden. Nach sechs Jahren gab Baum dann wiederum ihre Stelle auf, weil das inzwischen zuständige Ministerium des Inneren ihr als Frau die Arbeit mit starrer Bürokratisierung und mangelnder Unterstützung erschwerte.
Nach Untersuchungen für verschiedene Reichsverbände über Familien-, Kinder- und Jugendfürsorge erhielt Baum 1928 einen Lehrauftrag für Sozial- und Staatswissenschaften an der Universität Heidelberg, bis ihr 1933 im Namen des neuen Hochschulgesetzes die Lehrbefugnis entzogen wurde, da die direkte Verwandte eines Felix Mendelssohn-Bartholdy nicht mehr tragbar für deutsche Forschung und Lehre war. Nun zum „anderen Deutschland“ gehörend, half sie zusammen mit dem unerschrockenen Heidelberger Stadtpfarrer Hermann Maas politisch Verfolgten und ihren jüdischen Mitbürgern. Von der Gestapo beobachtet und mehrfach verhört, wurde 1941 ihre Wohnung am Friesenberg im ehemaligen Karmeliterkloster durchsucht; aber belastende Briefe von jüdischen Freunden und des Münsteraner Bischofs von Galen wurden nicht entdeckt. Während dieser Zeit halfen ihr die Kontakte zu ihren Freundinnen Marianne Weber und Ricarda Huch.
1946 wurde Baum erneut nach 12jähriger Zwangspause mit einem Lehrauftrag an der Universität Heidelberg betraut und hielt Vorlesungen über Sozialpolitik und soziale Fragen. Daneben half sie, das Lebenswerk ihrer Freundin Elisabeth von Thadden, die 1944 aufgrund einer Denunziation in Berlin hingerichtet worden war, die nach ihr benannte Schule im Schloß Wieblingen bei Heidelberg wieder zu gründen.
Die von der Universität Heidelberg zum 75. Geburtstag „aufgrund hingebenden, vorbildlichen und bahnbrechenden Wirkens auf dem Gebiet der praktischen Sozialfürsorge ... sowie ihrer langjährigen, umfassenden und erfolgreichen Lehrtätigkeit“ mit der Würde einer Ehrenbürgerin Ausgezeichnete blieb bis zu ihrem Tode in engem Kontakt mit ihren Studenten und Studentinnen, die in ihrer Wohnung eine Verbindung unter dem Pestalozzi-Wort gründeten: „Laßt uns Menschen werden, damit wir Bürger und Staaten werden können.“
Quellen: Nachlaß: ein Teil in der UB Heidelberg (Heid. Hs. 3675); der andere Teil, Marie Baums lebenslange Sammlung des größten Teils von Ricarda Huchs Nachlaß, im DLA Marbach, vgl. dazu: Publiziertes Nachlaß-Verzeichnis: Barbara Götschelt, in: Jahrbuch der Schiller Gesellschaft 16, 1972, 689-716; mündliche Auskünfte von Frau Elisabeth Kraushaar-Baldauf, Riehen bei Basel
Werke: (in Auswahl, eine vollständige Bibliographie ist nicht vorhanden) Anna von Gierke. Ein Lebensbild. Weinheim 1954; Ein Beitrag zur Frage der Beziehungen zwischen Kinderzahl und Kindersterblichkeit. Berlin 1910; Beiträge zur planmäßigen Ausgestaltung der Erholungsfürsorge für Kinder und Jugendliche. Berlin 1910 = Schriftenreihe des Deutschen Archivs für Kinder und Jugendliche, H. 7; Drei Klassen von Lohnarbeiterinnen in Industrie und Handel der Stadt Karlsruhe. Karlsruhe 1906; Der Einfluß der gewerblichen Arbeit auf das persönliche Leben der Frau. Jena 1910 = Schriften des ständigen Ausschusses zur Förderung der Arbeiterinneninteressen, H. 3; Fabrikarbeit und Frauenleben. Göttingen 1910 = Verhandlungen des evangelisch-socialen Congresses, Bd. 21; Familienfürsorge. Karlsruhe, 2. Aufl. 1928 = Schriften des Vereins für öffentliche und private Fürsorge, NF H. 12; Das Familienleben in der Gegenwart. 182 Familienmonographien. Berlin 1930 = Deutsche Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit. Forschungen über „Bestand und Erschütterung der Familie in der Gegenwart“, Bd. 1; Die gewerbliche Ausbildung der Industriearbeiterin. Leipzig 1907 = Kultur und Fortschritt, H. 107; Grundriß der Gesundheitsfürsorge. Unter Mitwirkung von Anna Gierke. Wiesbaden 1919, München 2. Aufl. 1923; Ricarda Huch. Sammlungen. Briefe an die Freunde. Tübingen 1960; Leuchtende Spur. Das Leben Ricarda Huchs. Tübingen 1950 (4 Auflagen); Rhythmus des Familienlebens. Berlin 1931 = Forschungen über „Bestand und Erschütterung der Familie in der Gegenwart“, Bd. 5; Rückblick auf mein Leben. Heidelberg 1950; Sterblichkeit und Lebensbedingungen der Säuglinge in den Stadtkreisen M.-Gladbach und Rheydt und in dem Landkreise M.-Gladbach. Leipzig 1909 = Zeitschrift für soziale Medizin, Säuglingsfürsorge und Krankenhauswesen 5, 1910; Weber Marianne. Lebenserinnerungen, in: Ruperto-Carola 6, Nr. 13/14, 1954, 46 f.; Der alte und der neue Marianne Weber-Kreis, in: Der Marianne Weber-Kreis. Festgabe für Georg Poensgen. Heidelberg 1958, 7-17; Vergessene und Unvergessene aus der Stadt Heidelberg, in: Den Unvergessenen. Opfer des Wahns 1933 bis 1945. Heidelberg 1952, 98-104; Die Wohlfahrtspflege, ihre einheitliche Organisation und ihr Verhältnis zur Armenpflege, in: Schriften des deutschen Vereins für Armenpflege und Wohltätigkeit, H. 104, München 1916
Nachweis: Bildnachweise: bei Frank-Zoeldi, ferner in Baums Autobiographie „Rückblick“

Literatur: Wolfgang Bocks, Die badische Fabrikinspektion. Arbeiterschutz, Arbeiterverhältnisse und Arbeiterbewegung in Baden 1879 bis 1914 = Forschungen zur oberrheinischen Landesgeschichte XXVII, Freiburg i. Br./München 1978; Erdmuthe Falkenberg, in: Ruperto Carola 13/14, 1954, 106 f.; Edda Frank-Zoeldi, Frauen im Reichstag. Von Wohlfahrtsarbeit zum Lehrauftrag, in: Das Parlament 39-40, 29.09.-06.10.1984; Barbara Guttmann, Marie Baum. Chemikerin, Fabrikinspektorin, Abgeordnete, in: Blick in die Geschichte, Karlsruher stadthistorische Beiträge 11, 08.06.1991; Dorothee Mussgnug, Die vertriebenen Heidelberger Dozenten. Zur Geschichte der Ruprecht-Karls-Universität nach 1933, Heidelberg 1988; Nachrufe: Elly Coler, in: Sozialpädagogik 1965, 206-210; Lina Mayer-Kulenkampff, in: Ruperto Carola 35, 1964, 223-225; K. H. Stuckenbrock, in: Arbeits- und Sozialrecht 13, 1964, 45 f.; ders., in: Chemiker-Zeitung 88, 1964, 221
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