Baumeister, Reinhard 

Geburtsdatum/-ort: 19.03.1833; Hamburg
Sterbedatum/-ort: 11.02.1917;  Karlsruhe
Beruf/Funktion:
  • Bauingenieur, Begründer der Wissenschaft vom Städtebau
Kurzbiografie: 1843-1849 Besuch eines Hamburger Gymnasiums und einer Realschule
1849-1851 Polytechnikum Hannover, Abschluß der Schulausbildung
1851-1853 Studium der Ingenieurwissenschaften an der Ingenieurschule des Polytechnikums Karlsruhe
1853 Badische Staatsprüfung für Ingenieure
1854 Ingenieurpraktikant bei der Großherzoglichen Eisenbahnbetriebsinspektion in Karlsruhe, 1855 bei der Großherzoglichen Eisenbahnbauinspektion Waldshut
1856-1857 Assistent am Polytechnikum Karlsruhe, 1857 Studienreise nach Großbritannien
1857-1858 Ingenieurpraktikant bei der Großherzoglichen Wasser- und Straßenbauinspektion Rastatt, 1858-1860 bei der gleichen Behörde in Gernsbach
1860-1862 Bauleitender Ingenieur bei der Großherzoglich-Badischen Eisenbahnbauinspektion in Schaffhausen
1862 (Etatmäßiger) Prof. für Ingenieurwissenschaft und Städtebau am Polytechnikum Karlsruhe (ab 1885 Technische Hochschule), Direktor der Abteilung für Ingenieurwesen
1880 Baurat, 1885 Oberbaurat, 1906 Geheimer Oberbaurat
1912 Versetzung in den Ruhestand, Geheimrat II. Klasse, weiterhin Mitglied des Großen Rates der Technischen Hochschule Karlsruhe
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev.
Auszeichnungen: 1883 Ritterkreuz I. Klasse des Ordens vom Zähringer Löwen, 1892 Eichenlaub zu diesem Orden, 1896 Kommandeurkreuz II. Klasse, 1908 Friedrich-Luisen-Medaille, 1910 Eichenlaub zum Kommandeurkreuz, 1913 Stern zum Kommandeurkreuz mit Eichenlaub, 1916 Kriegsverdienstkreuz; 1906 Dr.-Ing. h. c. der Technischen Hochschule Charlottenburg, 1908 Dr. med. h. c. der Universität Jena
Verheiratet: 1857 (Karlsruhe) Anna, geb. Eisenlohr (1834-1894)
Eltern: Vater: Hermann Baumeister (1806-1877), Präsident des Oberlandesgerichtes Hamburg, zeitweilig Präsident der Hamburger Bürgerschaft
Mutter: Wilhelmine, geb. Woltman
Kinder: 1 Sohn: Hermann Baumeister, Landschaftsmaler
GND-ID: GND/116089768

Biografie: Horst Ferdinand (Autor)
Aus: Badische Biographien NF 4 (1996), 11-14

Daß eine Stadt schon zu Lebzeiten einen angesehenen Bürger mit der Benennung einer Straße ehrt, ist wohl selten – dies widerfuhr Baumeister in Karlsruhe –, und noch viel seltener dürfte es vorkommen, daß Vater und Sohn einer bürgerlichen Familie auch wieder zu Lebzeiten auf einem Denkmal dieser Stadt erscheinen, und dies geschah im Jahre 1905, als Vater und Sohn Baumeister auf dem von Hermann Billing und Hermann Binz (1876-1940) geschaffenen „Stephanienbrunnen“ zusammen mit zwölf anderen stadtbekannten Persönlichkeiten Karlsruhes in Stein gehauen abgebildet wurden. Wie kam es zu solch ganz ungewöhnlicher Ehrung?
Die Lebensgeschichte Baumeisters beginnt in Hamburg, und das Hanseatische in ihm – Einfachheit, Bescheidenheit, die Fähigkeit, die Sache vor die Person zu stellen – hat er zeit seines Lebens bewahrt. Auch vielfältige hohe Ehrungen konnten ihn hierin nicht beeindrucken. Dazu traten der vom Vater, dem hohen Richter, vererbte kühle Verstand, das logische und analytische Denken, während die technische Begabung von der mütterlichen Seite kam. Der Großvater Reinhard Woltman (1757-1837) war ein bedeutender Techniker, Erbauer der Hafenanlagen der Hansestadt und Erfinder des „Woltman-Zählers“, eines Instruments, mit dem die Durchflußgeschwindigkeit des Wassers gemessen werden konnte. Daß sich so vielversprechende Anlagen in der Residenz des Großherzogtums Baden entfalten sollten, ist nicht dem Zufall zuzuschreiben: den jungen Techniker zog es nach Abschluß seiner schulischen Ausbildung in Hannover nach Karlsruhe, weil dort am ältesten Polytechnikum Deutschlands – Tulla hatte es 1825 gegründet – zwei der bedeutendsten zeitgenössischen Ingenieurwissenschaftler lehrten, der Architekt Jakob Friedrich Eisenlohr (1805-1854) und Ferdinand Redtenbacher (1819-1863), der Begründer der Wissenschaft des Maschinenbaues. Mit großem Eifer oblag Baumeister seinen Studien und konnte schon nach zwei Jahren das anspruchsvolle badische Examen für Ingenieure ablegen, mit ausgezeichnetem Prädikat. Er wurde sofort in den badischen Staatsdienst als Ingenieurpraktikant übernommen und sammelte erste praktische Erfahrungen beim Eisenbahnbau in Karlsruhe und Waldshut, wurde jedoch schon 1856 von einem seiner Lehrer, dem Oberbaurat Keller, als Assistent an das Karlsruher Polytechnikum zurückgeholt, wo er, 23jährig, als einzige Lehrkraft in der Abteilung für Ingenieurwesen amtierte, während Keller sich auf einer längeren Studienreise befand. Nach weiteren fünf arbeitsreichen Jahren im Dienst der staatlichen Wasser-, Straßenbau- und Eisenbahnbehörden wurde der 29jährige Baumeister im Jahre 1862 als ordentlicher Professor und Direktor der Abteilung für Ingenieurwesen an das Polytechnikum Karlsruhe berufen. Eine einzigartige, über 50jährige Laufbahn lag vor ihm.
Neben der dienstlichen Verbindung zu seinem Lehrer Eisenlohr ergab sich eine persönliche: 1857 heiratete er, nach Eisenlohrs frühem Tod, dessen Tochter, die das ihrem Architektenvater eigene Talent des „hochsensiblen Zeichners von Landschaften und Stadtansichten“ (Mathias Schreiber) dem einzigen Sohn aus ihrer Ehe mit Reinhard Baumeister, dem Landschaftsmaler Hermann Baumeister, weitergab.
Überblickt man die Lehr- und Forschertätigkeit Baumeisters am Polytechnikum – seit 1885 an der Technischen Hochschule – und sein praktisches Wirken als Architekt und Ingenieur, so lassen sich unschwer einige klare Richtlinien feststellen, die sowohl für die planerische Tätigkeit des jungen Ingenieurs wie auch für die verantwortungsvollen Aufgaben seiner reifen Jahre ausschlaggebend waren. Wesentlichstes Arbeitsprinzip war ihm die ständige Verbindung von Lehre und Praxis. So beteiligte er sich in den beiden ersten Dekaden seiner Lehrtätigkeit am Ausbau des badischen Schienennetzes; die Murgtalbahn Rastatt – Gernsbach (1868), die Strecke Freiburg-Breisach (1870-1871) und die Renchtalbahn Appenweier – Oppenau (1876) sind sein Werk. Seine Vorlesungen verband er immer mit praktischen Übungen. Er war nicht gerade ein gefürchteter Lehrer und Prüfer, aber Sarkasmus und Ironie waren ihm nicht fremd, wenn er den Eindruck gewann, daß geschwätzt wurde. Fleißige Studenten aber förderte er wirksam und begleitete ihren Werdegang mit fürsorglichem Interesse.
Nach 1870 wandte er sich ganz dem Städtebau zu, 1887 wurde diese Disziplin an der Technischen Hochschule Karlsruhe als der ersten Deutschlands selbständiger wissenschaftlicher Lehrgegenstand, der außer dem Städtebau im engeren Sinne den städtischen Tiefbau, Straßen- und Tunnelbau, den Eisenbahnbetrieb und den Brückenbau umfaßte. Die bahnbrechende Lebensleistung Baumeisters auf diesem Gebiet liegt in seiner immer und immer wieder in die Praxis umgesetzten Erkenntnis, daß es sich beim Städtebau über die architektonischen, technischen und ästhetischen Fragen hinaus um eminent wichtige volkswirtschaftliche, hygienische und soziale Probleme handelt und daß der Städtebauer, wenn er dieser umfassenden Aufgabenstellung gerecht werden wollte, Einfluß auf das Verwaltungsrecht und die Verwaltungspraxis haben mußte. Mit seinem Standardwerk „Stadterweiterungen in technischer, baupolizeilicher und wirtschaftlicher Beziehung“, Berlin 1876, legte er in einer Zeit, in der der moderne Stadtorganismus im Entstehen begriffen war, bis weit in unser Jahrhundert hineinwirkende Grundlagen für die neue selbständige Disziplin.
Greifen wir aus dem umfassenden Erneuerungsprogramm Baumeisters einen einzigen Vorgang heraus, dessen Bedeutung wir uns heute nur noch schwer vergegenwärtigen können, weil uns Einrichtungen wie zentrale Wasserversorgung der Städte und zentrale Entwässerung nicht weiter diskutable Selbstverständlichkeiten geworden sind: aber noch im 19. Jahrhundert waren Cholera und Typhus regelmäßig wiederkehrende Plagen; 1892 starben in Hamburg 8000 Menschen bei einer Epidemie. Es ist – neben den medizinischen Errungenschaften – der von Baumeister und anderen bedeutenden Vertretern seines Fachs wie Camillo Sitte und Josef Stübben immer wieder nachdrücklich propagierten und praktizierten Regelung der Trink- und Abwasserprobleme zu verdanken, daß diese Seuchen in den sich um die Jahrhundertwende formierenden Massenstädten verschwanden, trotz der Verschlechterung des Wohnungswesens. Ohne dessen durchgreifende Verbesserung sei der Kampf gegen die Tuberkulose aussichtslos, wiederholte Baumeister immer wieder. Mit seinem Vorschlag einer reichsgesetzlichen Regelung aller Fragen des Bauwesens eilte er seiner Zeit weit voraus; sie kam infolge des Pochens der Bundesstaaten auf ihre Eigenständigkeit nicht zustande.
Bis zu seinem letzten Tage beschäftigten ihn die Probleme der baulichen Nutzung des Bodens, energisch wandte er sich gegen die in den Gründerjahren einsetzende Bodenspekulation und setzte sich unermüdlich für einen gerechten Ausgleich zwischen „Gemeinwohl und Sondernutzen“ ein. Noch seine letzte, unter diesem Titel veröffentlichte Arbeit – Berlin 1918 – ist dieser Problematik gewidmet. Zurecht wurde sie sein „soziales Vermächtnis“ genannt, und zurecht hat ein Sachkenner festgestellt, daß seit Thomas von Aquin nicht mehr „mit so heißem Bemühen um das justum pretium, um den gerechten Preis, gerungen wurde wie bei diesem Ausgleichsversuch zwischen Gemeinwohl und Sondernutzen“ (Roman Heiligenthal). In gleicher Weise lehnte er Regelungen ab, die nur den einzelnen, nicht aber das Gemeinwohl begünstigten.
Zahlreiche Stadtverwaltungen suchten den Rat des zu seiner Zeit den ersten Platz unter den Städtebauexperten einnehmenden Gelehrten: Baden-Baden, Rastatt, Heidelberg, Mannheim, Stuttgart, Heilbronn, Ulm, Wiesbaden, Straßburg, Hamburg danken seinen Gutachten und seinem kundigen und immer objektiven Rat sachgemäße und die sozialen Erfordernisse berücksichtigende Planung bei der sich damals vollziehenden Erweiterung der Stadtbereiche. Selbstverständlich gestaltete er auch viele Projekte seiner zweiten Heimat Karlsruhe federführend, so die Verlegung des Hauptbahnhofs und den Neubau des Rheinhafens.
Baumeisters programmatisches Ziel, im Dienst des Städtebaus Einfluß auf die Entscheidungen der kommunalen Verwaltungen zu gewinnen, wußte er in der badischen Residenz durch die Teilnahme am öffentlichen Leben und die Übernahme von Ehrenämtern zu verwirklichen. Als Mitglied der Konservativen Partei betätigte er sich in städtischen Kommissionen – dem Bürgerausschuß, dem Künstlerischen Beirat für die Stadterweiterung, dem Ortsgesundheitsrat –, wo seine Stimme bei der Beschlußfassung über Entwicklungsfragen der Stadt Karlsruhe oft den Ausschlag gab. Der überzeugte evangelische Christ Baumeister wirkte bei der Evangelischen Kirchengemeindeverwaltung und der Stadtmission mit und war seit 1876 gewähltes Mitglied der Generalsynode der Badischen Landeskirche. Die wirtschaftliche Sicherung des, im Vergleich, neuen „Standes“ der Techniker und Ingenieure lag ihm besonders am Herzen, in den deutschen Architekten- und Ingenieurverbänden spielte er eine führende Rolle.
Ehrenvolle Rufe an andere deutsche Technische Hochschulen lehnte er ab, und ebenso verfuhr er beim Angebot seiner Geburtsheimat Hamburg, als Oberingenieur die Leitung des gesamten hanseatischen Ingenieurwesens zu übernehmen. Einer zeitweise bestehenden Neigung, dieser verlockenden Offerte zu folgen, begegnete das Badische Staatsministerium mit dem in einem ähnlichen Fall – Gustav Wendt – erprobten, allerdings kostspieligen Mittel, einer beträchtlichen Erhöhung seiner Bezüge.
Als Baumeister im Jahre 1912 79jährig in den Ruhestand trat, konnte er, geehrt und angesehen im In- und Ausland, auf ein halbes Jahrhundert erfülltester Tätigkeit im Dienst des Gemeinwohls zurückblicken. Dreimal war er von seiner Hochschule zum Direktor bzw. Rektor gewählt worden. Seine Bedeutung auf dem Gebiet des Städtebaus geht vielleicht am einleuchtendsten daraus hervor, daß die von ihm allein gelehrten Fächer bei seinem Ausscheiden auf zwei Ordinariate verteilt werden mußten. Seit dem Tode seiner Ehefrau, die ihm eine treue Gefährtin und Helferin insbesondere bei seinen Aktivitäten im religösen und sozialen Bereich war, wohnte er im Familienheim seines Sohnes Hermann in der Karlsruher Wörthstraße. Sein Pflichtbewußtsein veranlaßte ihn, bei Beginn des Weltkrieges 1914 seine Vorlesungen wiederaufzunehmen, die er bis zu seinem Tode fortführte. Im Jahre 1917 erlitt er bei einem bösen Sturz in der verdunkelten Wohnung den Bruch einer Kniescheibe; eine Lungenentzündung und ein Schlaganfall folgten nach wenigen Tagen. Er starb in dem von ihm erbauten Diakonissenhaus. Die Erfahrung des Zusammenbruchs im Jahre 1918 blieb dem Patrioten Baumeister erspart.
Quellen: Aufzeichnungen von Frau Gertrud Baumeister, geb. Grässer (Schwiegertochter von R. Baumeister) aus dem Jahre 1947 (im Besitz von Herrn Siegbert Oehler, Karlsruhe); Pers.-Akten R. Baumeister im GLAK Sign. 235/1765, 67/392.
Werke: Bibliographie (22 Werke) von Engelbert Strobel in: BH 2/1980, 284 (siehe Literatur), zu ergänzen um: Die Kunstformen d. Brückenbaues, 1886; Die Bauordnung und die Wohnungsfrage, 1910; Allgem. Konstruktionslehre d. Ingenieurs, nach Vorträgen Baumeisters ausgearb. von E. v. Feldegg, 1878.
Nachweis: Bildnachweise: in: E. Strobel, R. Baumeister (siehe Literatur).

Literatur: (Auswahl) Dr. Marcilly-Duverger, Le Docteur R. Baumeister, in: L'Encyclopédie contemporaine, Paris, vom 30. 4. 1911; R. Baumeisters 80. Geb. in: Bad. Presse vom 19. 3. 1913; Geh. Rat Professor Dr. Baumeister gestorben, in: Ebd. vom 12.12.1917; Franz Schnabel, Die TH, in: Karlsruhe, im Auftrag des Landesvereins BH hg. v. Hermann Eris Busse, Karlsruhe 1928, 165-171; Roman Heiligenthal, R. Baumeister, in: TH Fridericiana Karlsruhe, (FS) Karlsruhe 1950, 17-21; Karl Heinz Hoeffler, R. Baumeister (1833-1917), Begründer d. Wissenschaft v. Städtebau, in: Schriftenreihe d. Inst. f. Städtebau u. Landesplanung d. Fakultät f. Bauingenieur- u. Vermessungswesen Univ. Karlsruhe 9, Karlsruhe 1976; Engelbert Strobel, R. Baumeister, der Schöpfer u. Begründer d. wissenschaftl. Städtebaues, in: BH 2/1980 281-284; Mathias Schreiber, Wachenheimer Lust oder Sehnsucht nach der Mitte – Zwischen Pfälzer Wald u. Rheinebene ist Raum f. toskanische Gefühle, in: FAZ vom 18. 9. 1986 (Beschreibung einer von J. F. Eisenlohr erbauten Villa); Weitere Literatur vgl.: BbG 6; LB 2, 4, 6; NDB 1 und zu J. F. Eisenlohr: BbG 6,8; BB 1; ADB 5 – zu F. Redtenbacher: BbG 6, 8; BB 2; ADB 27, LB 4.
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