Ehrle, Franz 

Geburtsdatum/-ort: 17.10.1845;  Isny
Sterbedatum/-ort: 31.03.1934; Rom
Beruf/Funktion:
  • Jesuit, Kardinal, Bibliothekar und Archivar
Kurzbiografie: 1856 Jesuitengymnasium „Stella Matutina“ in Feldkirch (Österreich)
1861 29. Sep. Eintritt bei den Jesuiten in Gorheim (Hohenzollern)
1861-1863 Noviziat
1863-1865 Jesuitenkolleg Friedrichsburg bei Münster (Humanistik, Rhetorik)
1865-1868 Maria Laach (Philosophie), arbeitet als Bibliothekar
1868-1873 Lehrer und Erzieher in Feldkirch (Philosophie, Humanistik, Grammatik) Vizebibliothekar
1873-1876 Ditton Hall bei Liverpool (Theologiestudium)
1876 24. Sep. Priesterweihe
1878 Schloß des Grafen Stolberg Robiano in Tervueren (Bruxelles), Redaktion der Zeitschrift „Stimmen aus Maria Laach“
1880 Plan der Geschichte der Scholastik
1880 Okt. Rom Vorbereitung eines Berichtes der Apostolischen Nuntien in Deutschland während des Dreißigjährigen Krieges
1881 Neapel, Assisi, Todi, Florenz: Materialsuche zur Geschichte der Scholastik
1882 Paris, London, Oxford, Leipzig, München
1885 Gründung (zusammen mit Heinrich Denifle O.P.) des „Archivs für Literatur- und Kirchengeschichte des Mittelalters“
1887 Avignon, Toulouse, Auch, Barcelona, Madrid, Peniscola – Studien zum NL Klemens V.
1890 Ernennung zum außerordentlichen Mitglied des Kongresses und Verwaltungsrates der Vatikanischen Bibliothek
1891 Vorschlag: Ankauf der Biblioteca Borghese
1891 Transport aller Druckschriften aus dem Appartamento Borgia in die Biblioteca Leonina
1892 Eröffnung der Biblioteca Leonina (neuer Druckschriftenlesesaal)
1895 Ernennung zum ersten Kustos (Jan. provisorisch – Jun. definitiv) – ab Apr. 1910 Präfekt
1898 erster Kongress zur Restaurierung von Handschriften in St. Gallen (30. Okt.-1. Nov.) Errichtung der ersten Restaurierungswerkstätte für Handschriften
1899 Beginn der Reihe „Codices Vaticani selecti phototypicae expressi“ (Art Faksimileausgabe)
1900 Beginn der Reihe „Studi e testi“
1902 Ankauf der Biblioteca Barberini
1909-1910 Errichtung eines neuen Handschriftenlesesaales und -magazines
1914 Rücktritt – Istituto Biblico
1915-1916 Feldkirch, dann München, wo er für zwei Jahre „Stimmen der Zeit“ leitete
1919 Rückberufung nach Rom durch Benedikt XV.
1920 Lehrstuhl für Geschichte der Scholastik an der Universität Gregoriana
1920-1922 Lehre der Paläographie und Handschriftenkunde am Istituto Biblico
1922 11. Dez. Kardinaldiakon von S. Cesareo in Palatio
1924 4. Nov. Festakt zum 80. Lebensjahr – „Miscellanea Francesco Ehrle“ (Studi e testi 37-42)
1929 17. Apr. Bibliothekar und Archivar der Römischen Kirche
Weitere Angaben zur Person: Religion: rk.
Auszeichnungen: Mitglied der Akademien zu Berlin, Wien, Göttingen, München, Paris, Barcelona; Ehrendoktorate der Universitäten München, Bonn, Münster, Tübingen, Oxford, Cambridge
Eltern: Vater: Eduard Ehrle (1812-1878) Dr. med. Amtsarzt
Mutter: Berta Ludovica, geb. von Fröhlich (1818-1889)
GND-ID: GND/116408510

Biografie: Christine Grafinger (Autor)
Aus: Württembergische Biographien 1 (2006), 56-58

Die Persönlichkeit Ehrles kann man am besten als Gelehrten und Bibliothekar charakterisieren. Seine scholastischen Forschungen haben ihn auf das Gebiet der Bibliotheksgeschichte geführt. Ehrle wollte für seine geplante Geschichte der Scholastik keineswegs nur gedruckte Quellen heranziehen, vielmehr sah er seine Aufgabe darin, die noch unübersehbare Fülle der in den Handschriften überlieferten Literatur ans Licht zu bringen. Das Studium der scholastischen Texte war mit der Frage nach Entstehung, Verbreitung, Erhaltung und Untergang ihrer Überlieferung verknüpft und führte somit auch zur Handschriftenkunde. Ehrle hat zwar die geplante Geschichte der Scholastik nicht geschrieben, aber in zahlreichen Arbeiten vorbereitet.
Das Ergebnis seiner umfangreichen, in verschiedensten europäischen Bibliotheken durchgeführten Handschriften-Studien legte er 1883 in einem Aufsatz „Das Studium der Handschriften der mittelalterlichen Scholastik“ vor. Zusammen mit dem Domikaner Heinrich Denifle gründete er 1885 das „Archiv für Literatur- und Kirchengeschichte des Mittelalters“, und bis 1889 erschienen fünf ausschließlich dem 14. Jahrhundert gewidmete Bände, deren Wert in einer gerechten Beurteilung des kirchlichen Niedergangs dieser Epoche liegt. Einen wesentlichen Beitrag zur Geschichte der Bibliotheca Bonifatiana und der Avenionensis leistete Ehrle in der 1885 erschienenen Arbeit „Zur Geschichte des Schatzes, der Bibliothek und des Archivs der Päpste im 14. Jahrhundert“, und er erstellte somit ein Verzeichnis der älteren Inventare von Bonifaz VIII. (1295) bis zu Eugen IV. (1445). Die 1890 erschienene „Historia bibliothecae Romanorum Pontificum tum Bonifatianae tum Avenionensis“ ist das bedeutendste Werk Ehrles, eine Studie der Handschriftensammlung der Päpste im 14. Jahrhundert mit Verzeichnissen der vor-avignonesischen und avignonesischen Sammlung. Für ihn war Bibliotheksgeschichte nicht allein Selbstzweck einzig und allein beschränkt auf die Sammlungsgeschichte, sondern eine Dokumentation des Inhalts der Bibliotheken in der Art eines Spiegelbildes der gelehrten Bestrebungen und somit eine unschätzbare Quelle der Geistesgeschichte. Der geplante zweite Band, der das Schicksal der mit Benedikt XIII. verknüpften Zerstreuung und eine Erschließung der vereinzelten Handschriften durch umfassende Indices aufzeigen sollte, ist leider nicht erschienen.
Aufgrunds einer Forschungen zu den päpstlichen Bibliotheken wurde er 1890 als außerordentliches Mitglied in den Verwaltungsrat (Consiglio) der Vatikanischen Bibliothek berufen. Ehrle war unter den gelehrten Mitgliedern der Geeignetste, der die von Leo XIII. geplante und in die Wege geleitete Modernisierung der Vaticana zu realisieren imstande war. Gleich nach seinem Eintreten sollte er den vom Papst 1889 beschlossenen Transport der im Appartamento Borgia aufgestellten Druckschriften in den neu errichteten Lesesaal durchführen. Es gelang ihm, die 185 000 Bände mit Hilfe von 15 Arbeitern in zwei Wochen an ihren neuen Standort zu bringen. Einen genauen Bericht verfaßte er in „Die Überführung der gedruckten Bücher der Vaticana aus dem Appartamento Borgia in die neue Leoninische Bibliothek und ihre Neuordnung“. Die Konsultationsbibliothek – neben der Öffnung des Archivs eine der bedeutendsten Leistungen der leoninischen Zeit – ist mit den an die 100 000 Bänden nach wissenschaftlichen von Ehrle erstellten Kriterien bis heute eine unumgängliche Handbibliothek und wichtige Hilfestellung zum Studium der Handschriften. Nach dem Tod des ersten Kustos Isidoro Carini wurde er im Januar 1895 zuerst provisorisch und im Juni dann definitiv zu dessen Nachfolger bestellt. Die Bezeichnung „erster Kustos“ wurde schließlich im Jahre 1910 durch Präfekt der Bibliothek ersetzt.
Aufgrund seiner Initiative erwarb der Heilige Stuhl im Jahre 1892 die Borghese-Bibliothek, den Rest der päpstlichen Bibliothek, die bis 1594 noch in Avignon geblieben war. Einen wesentlichen Impuls hatte die Katalogisierung der Handschriften schon in den achtziger Jahren unter Kardinal Jean-Baptiste Pitra erfahren, jedoch durch Ehrles Ideen, der eine Beschreibung nach wissenschaftlichen Kriterien forderte, ist die Vaticana führend auf dem Gebiet der Handschriftenkatalogisierung geworden. Daneben hat er zwei bis heute bestehende Reihen begründet, die zur Aufarbeitung der vatikanischen Manuskripte einen wesentlichen Beitrag leisten: Zum einen die Reproduktion besonders wertvoller Handschriften in „Codices e vaticanis selecti phototypice expressi“ (1899) und zum anderen deren wissenschaftliche Erforschung in „Studi e testi“ (1900). Die Bedeutung des Schutzes und der Erhaltung der Manuskripte hatte sich Ehrle früh zur Aufgabe gemacht und eine internationale Konferenz nach St. Gallen einberufen (30. September 1898). Im Zusammenhang mit dieser Tagung hat er sich in einem Artikel mit den durch steigende Benutzung verursachten Schäden und der Erhaltung dieser einzigartigen Dokumente eingehend auseinandergesetzt. Auf seine Initiative hin und unter seiner Aufsicht wurde in der Vaticana eine der ersten Restaurierwerkstätten eingerichtet, deren Tätigkeit zunächst der Restaurierung der eigenen Bestände galt, aber bald internationalen Ruf erlangte und Codices der geistlichen Bibliotheken Italiens vor der Zerstörung bewahrte.
Im Zuge der Eröffnung der Biblioteca Leonina und der Einführung neuer Methoden entstand in Zusammenarbeit mit dem Skriptor Enrico Stevenson eine Studie zu den Fresken Pinturicchios „Gli affreschi di Pinturicchio nell'appartamento Borgia del Palazzo Apostolico Vaticano riprodotti in fototipia e accompagnati da un commentario“ (1897). Ehrle gelang es nach monatelangen Verhandlungen, die Biblioteca Barberini, eine der reichsten Privatbibliotheken Roms mit 10 000 Handschriften, 40 000 Druckwerken und einem reichen Archivbestand, für den Heiligen Stuhl zu erwerben. In den Jahren 1909/10 wurde ein neuer Handschriftenlesesaal und ein darüberliegendes, mit einem Aufzug verbundenes Magazin eingerichtet.
Aus gesundheitlichen Gründen reichte Ehrle 1913 seinen Rücktritt ein, dieser wurde aber erst ein Jahr später genehmigt, nachdem Achille Ratti (später Pius XI.) zum Nachfolger bestimmt worden war. Ehrle zog sich zunächst ins Istituto Biblico zurück, und bei Kriegsausbruch begab er sich nach Feldkirch und dann nach München, wo er bessere Bedingungen für seine Studien vorfand und zwei Jahre lang die „Stimmen der Zeit“ leitete. Nach seiner Rückberufung nach Rom durch Benedikt XV. im Herbst 1919 lehrte er bis 1922 Paläographie und Handschriftenkunde am Istituto Biblico und ab 1920 Geschichte der Scholastik an der Universität Gregoriana.
Am 11. Dezember 1922 wurde er zum Kardinal ernannt und erhielt als Titelkirche S. Cesareo. Im Rahmen eines Festaktes anläßlich seines 80. Lebensjahres wurde ihm im Braccio Nuovo am 4. November 1924 die fünfbändige Festschrift „Miscellanea Francesco Ehrle“ überreicht. Als Ergebnis seiner unermüdlichen Forschungen erschien im selben Jahr „Der Sentenzenkommentar Peters von Candia, des Pisaner Papstes Alexanders V. Ein Beitrag zur Scheidung der Schulen in der Scholastik des XIV. Jahrhunderts und zur Geschichte des Wegestreites“ (1924). Im Zusammenhang mit seinen fundamentalen Studien zur Scholastik veröffentlichte er eine bedeutende Arbeit zur Geschichte der Universität Bologna „I più antichi statuti della facoltà teologica dell'Università di Bologna“ (1932).
Nach dem Tod von Aidan Gasquet wurde er am 17. April 1929 zum Archivar und Bibliothekar der Heiligen Römischen Kirche ernannt. Unermüdlich in seinen wissenschaftlichen Forschungen beschäftigte er sich in diesen Jahren mit dem Konklave „Die Conclavepläne. Beiträge zu ihrer Entwicklungsgeschichte“ (1933). Seine letzten Lebensjahre verbrachte er im Generalat der Jesuiten, wo er am 31. März 1934 verstarb. Nach den Begräbnisfeierlichkeiten in S. Ignazio wurde er im Campo Verano in Rom bestattet. Zweifelsohne hatten seine Forschungen zur päpstlichen Bibliothek auch sein Interesse am Papstpalast geweckt, posthum erschien seine bedeutende mit dem Kunsthistoriker Hermann Egger herausgegebene Geschichte „Der Vaticanische Palast in seiner Entwicklung bis zur Mitte des XV. Jahrhunderts“ (1935).
Zahlreiche Anerkennungen und Ehrungen wurden Ehrle, dem Bibliothekar und Gelehrten, zuteil, darunter zahlreiche Ehrendoktorate von Universitäten, wie München, Bonn, Münster, Cambridge oder Oxford und die Mitgliedschaft der bedeutendsten wissenschaftlichen Akademien, wie Institut de France, der Akademien Göttingen, Berlin, München und Wien. Er war zugleich Gelehrter und Organisator, Mann der Wissenschaft und der Praxis, und mit Ehrfurcht vor der Vergangenheit und Aufgeschlossenheit gegenüber den Forderungen der Zeit stellte er seine Kräfte in den Dienst von Kirche und Wissenschaft. Sein Verdienst als Leiter der Vatikanischen Bibliothek war es, den unvergleichlichen Handschriftenschatz der Forschung zugänglich zu machen und die Vaticana zu einer der bestorganisiertesten und liberalsten Bibliotheken der Welt gemacht zu haben.
Quellen: ARSI Vitae – Viri illustres 1028-1043: Card. Ehrle; BAV, Carte F. Ehrle (wiss. Arbeiten) in Hss.abteilung, administrative Korrespondenz im Archiv der Bibliothek.
Werke: Bibliotheca Theologiae et Philosophiae scholasticae selecta, 1885; Historia Bibliothecae Romanorum Pontificum, 1890; Gli affreschi di Pinturicchio nell’appartamento Borgia del Palazzo Apostolico Vaticano riprodotti in fototipia e accompagnati da un commentario (mit Enrico Stevenson), 1897; Martin de Alpartils, Chronica Actatorum temporibus Domini Benedicti XIII. (1906); Specimina codicum Latinorum Vaticanorum, 1912; Le piante maggiori di Roma dei secoli XVI e XVII riprodotte in fototipia, 1915; Der Sentenzenkommentar Peters von Candia, des Pisaner Papstes Alexanders V. Ein Beitrag zur Scheidung der Schulen in der Scholastik des XIV. Jh.s und zur Geschichte des Wegestreites, in: Franziskanische Studien Beiheft 9, 1924; I più antichi statuti della facoltà teologica dell'Università di Bologna, 1932; Die Conclavepläne. Beiträge zu ihrer Entwicklungsgeschichte, 1933; Der Vaticanische Palast in seiner Entwicklung bis zur Mitte des XV. Jh.s (mit Hermann Egger), 1935. – ausführliches Werkverzeichnis in: Miscellanea F. Ehrle, Album, in: Studi e testi 42 (1924) (Foto).
Nachweis: Bildnachweise: Ölportrait im Lesesaal und Marmorbüste im Handschriftensaal der BAV; zu Fotos vgl. Werke und Lit.; Album im Archiv der Präfektur der BAV; ARSI 4 Fotos.

Literatur: Miscellanea F. Ehrle: scritti di storia e paleografia/pubblicati sotto gli auspici di S.S. Pio XI in occasione dell'ottantesimo natalizio dell'e.mo cardinale F. Ehrle, in: Studi e testi 37-42, Biblioteca Apostolica Vaticana, 1924; K.O. Müller, Aus Familienbriefen des Kardinals F. Ehrle, in: ThQ 116 (1935), 1-35; K. Christ, Kardinal F. Ehrle, in: Zentralblatt für Bibliothekswesen 52 (1935), 1-47 (Foto); M. Grabmann, Heinrich Denifle O.P. und Kardinal F. Ehrle, in: Philosophisches Jb. 56 (1946), 9-26; L. Oliger, Ehrle F., in: Enciclopedia Cattolica 5 (1950), 185-187 (Foto); W. Holtzmann, Ehrle F., in: NDB 4, 360f.; M. Batllori, El Pare Ehrle, prefecte de la Vaticana, en la seva correspondència amb el cardenal Rampolla, in: Collectanea Vaticana in honorem Anselmi M. Card. Albareda vol. 1, in: Studi e testi 219 (1962), 75-117; J. Bignami Odier, La Bibliothèque Vaticane de Sixte IV à Pie XI. Recherches sur l'histoire des collections de manuscrits avec la collaboration de José Ruysschaert, in: Studi e testi 272 (1973), 238-240, 252 n. 94; Ehrle F., in: BBK 1, 1975, 1472-1473 (mit wichtigsten Nekrologen); P. Walter, Ehrle F., in: LThK 3, 1995, 513-514; R. S. Gerlich, Ehrle F., in: Diccionario histórico de la Companía de Jesús 2, 2001, 1221-1223.
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