Weinrich, Franz Johannes 

Andere Namensformen:
  • Heinrich Lerse
Geburtsdatum/-ort: 07.08.1897; Hannover
Sterbedatum/-ort: 24.12.1978;  Ettenheim, beigesetzt 28.12.1978 Breisach
Beruf/Funktion:
  • Dichter, Schriftsteller
Kurzbiografie: Besuch der Volks- und Höheren Handelsschule Hannover mit anschließender kaufmännischer Lehre (Hannoversche Volkszeitung), verschiedene Erwerbstätigkeiten Hannover und Mülheim an der Ruhr
1916 Kriegsfreiwilliger (Soldat in einem Berliner Garde-Füsilier-Regiment); 1917 vor Arras schwer verwundet
1917-1918 Zivilangestellter an der Westfront
1919 Wohnhaft in Hannover, Arbeit an: „Ein Mensch – Szenen vom Tod eines Menschen“
1920 Neuss, Kontakt zum Schriftstellerkreis um Karl Gabriel Pfeill
1924-1978 Im südlichen Baden lebend: Horben (1924), Breisach (1940-1962), Evakuierung in Riedöschingen (1944-1945), in Hondingen (ab 1962), in Lahr (ab 1968) im Altersheim
Weitere Angaben zur Person: Religion: römisch-katholisch
Verheiratet: 1922 Neuss, Katharina, geb. Pannes (1890-1981)
Eltern: Karl (1873-1956), Maurerpolier
Katharina, geb. Martin (1877-1964)
Geschwister: 5 Brüder, 3 Schwestern
Kinder: keine
GND-ID: GND/117275441

Biografie: Clemens Siebler (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 3 (2002), 441-444

Weinrichs dichterischer Aufbruch vollzog sich im Angesicht der ganzen Not, die der I. Weltkrieg ausgelöst hatte. In seiner seelischen Erschütterung glaubte er, untrügliche Vorboten einer Weltkatastrophe mit apokalyptischen Ausmaßen zu erkennen, die nur durch eine tiefgreifende religiöse Erneuerung aufgehalten werden könne. Als Dichter wollte er Bote und Künder Gottes in einer Welt des Hasses, der Zerrissenheit und der Verzweiflung sein.
Geboren wurde er in Hannover. Seine Eltern stammten aus der katholischen Enklave des Eichsfeldes. Angesichts der bescheidenen sozialen Verhältnisse, in denen die Familie mit neun Kindern lebte, war an eine gehobene Berufsausbildung nicht zu denken. Als kaufmännischer Gehilfe seit Kriegsbeginn stellenlos, betätigte sich Weinrich u. a. als Dachdecker, Liftbediener und Angestellter bei einer Feldpostsammelstelle. Doch bereits in jenen Jahren fühlte er sich zum Dichterberuf hingezogen. In allzu langer Erwartung des Einberufungsbefehls meldete er sich 1916 freiwillig. Als Kriegsteilnehmer trug er eine schwere Verwundung davon, an der er zeitlebens zu leiden hatte. Der ganzen seelischen und körperlichen Not jener Kriegsjahre hat er in seinem 1920 erschienen Werk „Ein Mensch – Szenen vom Tod eines Menschen“ Ausdruck verliehen; wahrscheinlich sind die Skizzen hierzu in einem Granattrichter oder Schützengraben notiert worden. Am Kriegsende arbeitslos, seelisch verbittert und selbst der Verzweiflung nahe, wurden eine Reihe von ihm verfaßter revolutionärer Proklamationen zu seinen „ersten Dichtungen“. Doch wenig später vollzog sich in ihm ein radikaler Gesinnungswandel. Die aus dem blutigen Krieg gewonnene Gewißheit der Existenz des Teufels hatte in ihm eine negative Gotteserkenntnis bewirkt, und so trat er damals den „Weg nach Damaskus“, den Weg der Um- und Heimkehr zu Gott an.
An diesem Wendepunkt seines Lebens stieß Weinrich auf den expressionistischen Künstler- und Schriftstellerkreis um Karl Gabriel Pfeill (1889-1942) in Neuss. Dort lernte er auch seine spätere Frau kennen. Pfeill hatte 1919 seinen Aufruf zum „Weißen Reiter“, dem „Jungrheinischen Bund für kulturelle Erneuerung“ im Geiste des Christentums, veröffentlicht. Kurz danach erschien in Düsseldorf „Der Weiße Reiter“ als Programmbuch, in dem Weinrich mit mehreren Beiträgen vertreten ist.
Weinrichs Frühwerke „Himmlisches Manifest“ (1919) und „Ein Mensch – Szenen vom Tod eines Menschen“ (1920) sind wichtige Marksteine auf seinem eigenen Weg, weil sie den Vorstoß aus dem Trotz der Subjektivität zum ewigen Grund der Dinge sichtbar werden lassen. Der „neue“ Mensch Weinrichs erfährt seine Entfaltung vor allem in der Lyrik. Schon in seinem ersten Gedichtband „Mit Dir ertanze ich den nächsten Stern“ (1921) ist der bei ihm vertraute Grundton der beglückenden Gewißheit, in Gott geborgen zu sein, unüberhörbar. In der Lyrik hat Weinrich dauerhaft die ihm ureigene hohe, religiöse literarische Gattung gefunden (u. a. „Mittag im Tal“, 1924; „Trost in der Nacht“, 1947).
Zusammen mit „Der Tänzer Unserer Lieben Frau“ (1921) ist „Das Tellspiel der Schweizer Bauern“ (1923) zum Lieblingsspiel der aus der Jugendbewegung hervorgegangenen Jugendspielscharen geworden. Unter dem Eindruck der französischen Einquartierung geschrieben, hatte Weinrich mit seinem „Teil“ vor allem die Jugend des besetzten Gebietes begeistert. In diese dramatische Periode fällt auch das Trauerspiel „Columbus“ (1923), das im Mannheimer Nationaltheater seine Uraufführung erlebte.
Weinrichs epische Dichtung bekommt entscheidende Impulse aus seiner Lyrik (z. B. „Die Meerfahrt“, 1926, eine Thematisierung der Irrfahrten Parzivals). In seinem späteren Roman „Der Jüngling neben uns“ (1961), in dem die biblische Tobiasgeschichte anklingt, wird Gottes Handeln im Leben des Menschen besonders deutlich. Doch geht der Autor keineswegs den Zeitproblemen aus dem Weg, so in seiner Tragödie „Rückkehr von Babylon“ (1932), wo er auf das schon damals aktuelle Problem der Palästinensischen Frage einging; und in dem immer wieder als Großstadtroman mißdeuteten Prosawerk „Die Löwengrube“ (1932) und in „Die versiegelte Kuppel“ (1935) wird das menschliche Leben in seiner Not und schuldhaften Verstrickung im christlichen Sinn gedeutet. Ähnliches gilt für „Die Marter unseres Herrn“ (1935). Diese Erzählung trug den Ruhm des Autors über Deutschland hinaus; sie hat Übersetzungen ins Englische, Italienische, Tschechische und Niederländische erfahren. Mehrere Werke Weinrichs kreisen um die Gestalt der heiligen Elisabeth von Thüringen. „Die Magd Gottes – ein Spiel von der heiligen Elisabeth“ (1928) wurde 1930 durch die Biographie der Heiligen ergänzt, die aber keine erzählte Lebensgeschichte ist; sie entstammt vielmehr einer inneren Begegnung mit der Heiligen durch das Medium der dichterischen Vision (J. Schomerus-Wagner). Einen künstlerisch nicht ungefährlichen Boden betritt Weinrich in seinen kirchlichen Feierspielen, da hier in besonderem Maße die Gefahr eines übersteigerten Pathos aber auch der Verflachung und Verkitschung gegeben ist. Vom spanisch-christlichen Drama der ‚Autos sacramentales‘ inspiriert, gelingt ihm ein vom profanen Theater weit entferntes kultisches Spiel unter Mitwirkung der Gemeinde in Gebet und Gesang. Die Stoffe entnimmt er der Geschichte, dem Brauchtum, der Legende und dem aktuellen Tagesgeschehen (z. B. „Die Eroberung des Friedens“, 1947).
Seinen Zeitgenossen galt Weinrich als ein Mensch, der durch außergewöhnliche Liebenswürdigkeit und Wärme seines Wesens, aber auch durch eine hintergründige Schalkhaftigkeit geprägt war. Das Leid, auch in seinen körperlichen Auswirkungen, blieb ihm nicht erspart. In der Folge seiner Kriegsverwundung lähmte eine tückische Krankheit, die ihn zwei Jahre an das Krankenhaus fesselte, allmählich seine Glieder, so daß er seit 1937, wie er von sich selbst sagte, „nur noch mit seinen Versen springen“ konnte.
Leid und Bedrängnis brachte ihm auch die NS-Herrschaft. Gerade seine in den 1930er Jahren zahlreich verfaßten Werke kirchlichliturgischen Inhaltes (z. B. „Die Feier vom Königtum Jesu Christi“, 1934) standen in schroffem Gegensatz zum Führerkult und zu dem von der NS-Bewegung verkündeten irdischen Reich der Macht und Herrlichkeit. Temperamentvoll und zugleich feinfühlig in seinem Naturell, auffallend emphatisch, bisweilen sogar pathetisch in seiner Diktion, lebte er ständig in der Angst vor möglichen Zugriffen der braunen Machthaber. Dies wiederum hinderte ihn nicht, Regime- bzw. Personenkritik auf seine Weise zu artikulieren: „Das Xantener Domspiel“ (1936) enthält sowohl die Aufforderung als auch die Bereitschaft, „dem Geist des Irrtums und der Verführung, dem Vater der Lüge“ abzuschwören. Zumindest für die Kirchentreuen war die Anspielung auf die NS-Lehre und den Reichspropagandaminister deutlich. Die Reichsschrifttumskammer setzte das Werk auf die „Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums“. Viele seiner Gedichte, meist geheim vervielfältigt, wurden vor allem von der jungen Generation verbreitet, und bis in die Schützengräben des II. Weltkrieges und in die Kerker brachten sie seelische Kraft und Trost. Daß Weinrich letztlich unbehelligt blieb, war wohl dem Umstand zuzuschreiben, daß er Kriegsverletzter war und sich als Schriftsteller vornehmlich auf dem religiösen Gebiet betätigte.
Weinrich, der ein sehr zurückgezogenes Leben führte, nahm 1947 an dem Treffen französisch-deutscher christlich orientierter Schriftsteller in Lahr teil.
Wenn auch mit wechselnden Wohnsitzen lebte er seit 1924 dauerhaft im südlichen Baden. Besonders eng fühlte er sich Breisach verbunden; mit der Bevölkerung teilte er die Leiden der Zerstörungen und Evakuierungen im II. Weltkrieg. Für die 1949 erschienene Dokumentation „Breisach gestern und heute“, zu der Staatspräsident Leo Wohleb das Geleitwort schrieb, wurde ihm die Redaktion übertragen. Von der Schönheit des wieder ins Stephansmünster zurückgekehrten Schnitzaltars fasziniert, verfaßte Weinrich in Anlehnung an den unbekannten Meister H. L. unter dem Pseudonym Heinrich Lerse den Roman „Der Schatz im Berg“ (1954).
Weinrichs fruchtbare Schaffensperiode erstreckt sich auch über die Nachkriegsjahre. Nahezu 20 bedeutende Titel sind zwischen 1946 und 1961 erschienen. In den folgenden Jahren, die von geistig-religiösen Umbrüchen geprägt waren, schrieb er mehr und mehr in eine Zeit hinein, die ihn sowohl von der Thematik als auch von der Sprache her nicht mehr verstand. Nicht nur er selbst, sondern auch sein Werk gerieten in Vergessenheit. Unter dem Titel „Der Psalter des Herrn“ schrieb er 1972 Psalmen zu Bildern aus der Vaterunser-Kapelle im Ibental bei Freiburg; „Die Hochzeit zu Kana“ (1976) ist sein letztes bekanntes Werk.
Zusammen mit seiner Frau hatte Weinrich 1968 im Altenheim St. Maria in Lahr Aufnahme gefunden. Am Heiligen Abend 1978 verstarb er im Ettenheimer Krankenhaus. Seinem letzten Wunsch entsprechend wurde er in Breisach beigesetzt.
Quellen: Nachlaß Marbach, DLA; Berlin, BA
Werke: Der Weiße Reiter. Das erste Sammelbuch, hg. von K. G. Pfeill, 1920; Jahrbuch katholischer Dichter (1934), hg. von H. Hagn, 231-236; Deutsches Literaturlexikon, hg. von W. Kosch, Bd. 4, 2. Aufl. 1958, 3265; P. Raabe, Die Zeitschriften und Sammlungen des literarischen Expressionismus, 1964, 112 f. und 189; Kürschner, Deutscher Literatur-Kalender, 1978, 1060; Umfassende Bibliographie in: P. Raabe, Die Autoren und Bücher des literarischen Expressionismus. Ein bibliographischen Handbuch in Zusammenarbeit mit I. Hannich-Bode, 1985, 511-514
Nachweis: Bildnachweise: J. Thielmann, 24; Jahrbuch katholischer Dichter, 224; Konradsblatt, 6; Stadtarchiv Breisach (siehe Literatur)

Literatur: Einzeltitel (in Auswahl): J. Eckardt, Der weiße Reiter – Franz Johannes Weinrich, in: Die Bergstadt. Monatsblätter, hg. von P. Keller, 9. Jg. 1920/21, Bd. 1, 336-337; W. Spael, Franz Johannes Weinrich, in: Westdeutsche Wochenschrift, 3. Jg., 1921, H. 6, 79-81, J. Sprengler, Formen des religiösen Dramas, in: Hochland, 19. Jg., 1921/22, H. 1, 85-95; ders., Das katholische Drama (II.), in: Hochland, 20. Jg., 1922/23, H. 2, 181-185; ders., Der Columbus des Franz Johannes Weinrich, in: Hochland, 20. Jg., 1922/23, H. 10, 427-431; E. Schröder, Franz Johannes Weinrich, in: Literarischer Handweiser, 63. Jg., 1926/27, H. 4, Sp. 253-260; H. Lang, Zu einer dichterischen Biographie. Die Hl. Elisabeth von Thüringen von Franz Johannes Weinrich, in: Das Neue Reich, 13. Jg., 1930, Nr. 7, 142-143, C. Völker, Der Roman einer eichsfelder Familie in der Fremde. Franz Johannes Weinrichs Die Löwengrube, in: Unser Eichsfeld. Illustrierte Monatsschrift für eichsfelder Heimatkunde. 28. Jg., 1933, 57-59; P. L. Kämpchen, Vom Schaffen junger katholischer Dichter. Franz Johannes Weinrich, in: Kölnische Volkszeitung, 74. Jg., Nr. 146, 5; E. K. Münz, Franz Johannes Weinrich, in: Seele. Monatsschrift im Dienste christlicher Lebensgestaltung, 23. Jg., 1947, H. 10/11, 313-316, J. Thielmann, Franz Johannes Weinrich, in: Die Lücke, 1947, H. 10, 24-25, J. Schomerus-Wagner, Deutsche katholische Dichter der Gegenwart, 1950, 172-173; N. N., Franz Johannes Weinrich, in: Konradsblatt, 46. Jg., 1962, Nr. 32, 6, N. N., Franz Johannes Weinrich wurde 80 Jahre, in: Breisacher Anzeiger, Nr. 17, 1977; A. Bungert, Seine Dichtung wurde zur Verkündigung und zum Gebet. Franz Johannes Weinrich wurde 80, in: Deutsche Tagespost, 30. Jg., 1977, Nr. 94, 10; N. N., Zum Tode von Franz Johannes Weinrich, in: Breisacher Anzeiger, Nr. 1, 1979; M. Rößler, In johanneischer Lichthoffnung. Abschied von Franz Johannes Weinrich, in: Deutsche Tagespost, 32. Jg., Nr. 1 vom 02.12.1979; A. Bungert, „Dich geht’s an, Jedermann“. Franz Johannes Weinrich ging seinen Kreuzweg zu Ende, in: Katholische Nachrichten-Agentur, Nr. 2, 1-2, 1979; Verzeichnis der wichtigsten Erscheinungen in: Internationale Bibliographie zur Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, Teil 4, 2, 1984, 698; G. Haselier, Geschichte der Stadt Breisach, Bd. 3, 1985, 482-483; H. Ott, Ein Treffen französischer und deutscher christlich orientierter Schriftsteller in Lahr vom 25./29.8.1947, in: FDA, 114. Jg., 1994, 303-317; U. Fahrer, Franz Johannes Weinrich – der Mensch stand stets im Mittelpunkt, in: BZ, Ausgabe Breisgau-West, Nr. 182 vom 09.08.1997
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