Wilhelm, Friedrich Ottomar Eduard 

Geburtsdatum/-ort: 22.02.1882; Jena
Sterbedatum/-ort: 30.05.1939; München
Beruf/Funktion:
  • Sprach- und Literaturwissenschaftler
Kurzbiografie: 1900 Abitur am Carolo-Alexandrinum Jena
1900-1903 Studium der Germanistik in Jena, München, Leipzig
1903 Promotion in München (summa cum laude)
1905 Habilitation
1905 Privatdozent in München
1911 außerordentlicher Prof. in München
1920-1936 ordentlicher Prof. für deutsche Sprache und Literatur in Freiburg i. Br.
1933 außerordentliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften Heidelberg
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev.
Verheiratet: 1913 Therese, geb. Leithner (geb. 1879)
Eltern: Vater: Erdmann Eugen (1842-1923), Gymnasialprof. und Honorarprof. der eranischen (= iranischen und orientalischen) Philologie in Jena
Mutter: Luise Julie, geb. Spiegel (1860-1941)
Geschwister: Emma
Kinder: 2:
Eugen (geb. 1914)
Columbia Eugenie Julie (geb. 1920)
GND-ID: GND/117380814

Biografie: Ursula Schulze (Autor)
Aus: Badische Biographien NF 5 (2005), 293-295

Wilhelm war ein bedeutender Philologe, dessen methodische Neuorientierung und historisierende Grundauffassung quer zu den Ansichten der meisten prominenten Vertreter der Deutschen Philologie des Mittelalters im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts standen und dem daher die gebührende Anerkennung versagt blieb. Vor allem drei Grundsätze zeichnen sich ab, die er von Anfang an mit Nachdruck in seinen vielfältigen Arbeiten vertreten hat: 1. Die handschriftlichen Erscheinungsformen der Texte und damit ihre Schreibvarianten und ihre mundartlichen Eigenarten machen die historische Sprachwirklichkeit aus. Diese muss in den Texteditionen und den Grammatiken zur Geltung kommen. 2. Die Materialgrundlage einer grammatischen Sprachbeschreibung muss aus verschiedenen Textarten (Dichtung und Gebrauchsliteratur, Verstexten und Prosa) bestehen. 3. Die historischen Entstehungsbedingungen müssen möglichst weitgehend zur Herkunfts- und Wirkungsbestimmung von Texten berücksichtigt werden. Mit derartigen Forderungen erhob Wilhelm gegenüber der gängigen Editionspraxis in „normalisiertem“ Mittelhochdeutsch den Vorwurf unhistorischer Normierung, und er verwarf die praktizierte Wertung und Deutung nach autonomen ästhetischen Maßstäben. Er verfocht seine unzeitgemäße Position mit scharfer Polemik, zog heftige Kritik auf sich und geriet, abgesehen vom Verständnis weniger Freunde und Schüler (Hermann Paul, Elias Steinmeyer, Richard Newald) in die wissenschaftliche Isolation. Erst mehr als 50 Jahre nach seinem Innovationsbemühen hat sich für Editionen, Lexikographie und Grammatik die stärkere Orientierung an den Handschriften als Desiderat durchgesetzt, allerdings wird Wilhelm dabei selten als Mentor betrachtet.
Wilhelms Arbeiten betreffen Werke und Autoren von den Anfängen deutschsprachiger Literatur bis ins Spätmittelalter; er hat sich mit Quellenfragen, der Herkunft von Handschriften und Autoren befasst, hat geistesgeschichtliche Zusammenhänge und historische Verständnismöglichkeiten erörtert und eine Reihe von Texten ediert. Seit seiner Dissertation über Strickers „Karl“, angeregt von Albert Leitzmann in Jena und abgeschlossen bei Hermann Paul in München, stand sein programmatisches Interesse für die konkrete Überlieferung und ihre Entstehungsbedingungen fest. Diese erste Leistung fand Anklang in der Fachwelt (z. B. bei F. Panzer und G. Rosenhagen), und man sah der angekündigten, leider nie erschienenen Neuausgabe mit großen Erwartungen entgegen. Wilhelms Habilitationsschrift, Teil einer größeren Untersuchung über „Deutsche Legenden und Legendare“, bietet unter Bewältigung einer Fülle von handschriftlichem Material ein Bild der Wandlungen einer literarischen Gattung und spiegelt ein „Stück Bildungsgeschichte des späteren deutschen Mittelalters“ (G. Ehrismann). Dass es um Schriften für den täglichen Gebrauch ging (heute als „religiöse Gebrauchsliteratur“ qualifiziert), war für Wilhelm ein wichtiger Aspekt bei der Beschäftigung mit den Legenden. Seine Erforschung des Prozesses deutschsprachiger Schriftlichkeit (1920/21) richtete sich auf Fragen nach den Trägern der Literatur, der Bedeutung der Mäzene, der Abhängigkeit der Autoren, wie sie neuerdings von J. Bumke erörtert worden sind. Während seiner Münchner Privatdozentenzeit veröffentlichte er mehrere Aufsätze in Paul und Braunes „Beiträgen zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur“ (1907-1910), dann gründete er – inzwischen außerordentlicher Professor – für sich und seine Schüler ein eigenes Forum mit drei Publikationsreihen beim Verlag Callwey: „Münchener Museum für Philologie des Mittelalters und der Renaissance“ (1912 ff.), „Münchener Archiv für Philologie des Mittelalters und der Renaissance“ (1912 ff.) und „Münchener Texte“ (1912 ff.). Als Lehrer besaß er große Resonanz auch in Konkurrenz zu Carl von Kraus, der 1917 den Lehrstuhl Hermann Pauls übernommen hatte. Wilhelm verstand es, in München und in der Anfangszeit seines Freiburger Ordinariats (seit 1920) einen Kreis interessierter Schüler um sich zu sammeln, aus dem zahlreiche Dissertationen hervorgegangen sind. Die Berufung nach Freiburg führte zu einer gravierenden Veränderung seines Lebens, doch blieb er 16 Jahre „Gast“ am Ort seiner Lehrtätigkeit mit Wohnsitz und Familie in München. Dort hat er seine großen Projekte entworfen: ein mittellateinisch-mittelhochdeutsches Wörterbuch, ein biographisches Lexikon des Mittelalters (ähnlich wie es später Wolfgang Stammler mit dem „Verfasserlexikon“ geschaffen hat) und die Sammlung deutschsprachiger Urkunden. Nur das letzte kam im „Corpus der altdeutschen Originalurkunden bis zum Jahr 1300“ zur Ausführung, und ihm widmete er die meiste Kraft seiner letzten Lebensjahre.
Über 2 500 Urkunden, mehr als die Hälfte des fünfbändigen Gesamtwerks, hat er aus deutschen, österreichischen und schweizerischen Archiven zusammengetragen, d. h. eigenhändig abgeschrieben. In der Zeit der Planung (seit 1907) angefochten und anfangs ohne finanzielle Unterstützung publiziert (von 1929 bis zur 19. Lieferung von Wilhelm), repräsentiert das „Corpus“ heute (fortgeführt von R. Newald, H. de Boor u. a., gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft und 1986 mit der 54. Lieferung abgeschlossen) ein grundlegendes Quellenwerk, mit dessen handschriftennaher Gestaltung Wilhelm der Entwicklung seines Faches um Jahrzehnte voraus war. Erst in jüngster Zeit werden die genau datierten und lokalisierbaren Texte zunehmend ausgewertet; sie bilden die Materialgrundlage für das seit 1986 erscheinende „Wörterbuch der mittelhochdeutschen Urkundensprache“. Krankheit zwang den 54jährigen, seine Lehrtätigkeit aufzugeben; er starb drei Jahre später in München.
Werke: Bibliographie bei Newald, vgl. Lit., 809-812. Auswahl: Die Geschichte d. handschriftl. Überlieferung von Strickers Karl d. Gr., 1904; Sankt Afra. Eine schwäbische Reimlegende, in: Analecta Germanica, FS für H. Paul, 1906, 45-169; Deutsche Legenden u. Legendare. Texte u. Untersuchungen zu ihrer Geschichte im Mittelalter, 1907; Studien zu den Werken des Strickers, I. Zur Karlsüberlieferung, in: Paul u. Braune, Beiträge zur Gesch. d. dt. Sprache u. Literatur (PBB) 32, 1907, 85-98; Antike u. Mittelalter. Studien zur Literaturgeschichte, I. Ueber fabulistische Quellenangaben, in: PBB 33, 1908, 286-339; Der Minoritenpater Bertold v. Regensburg u. die Fälschungen in den beiden Reichsabteien Ober- u. Niedermünster, in: PBB 34, 1909, 143-176; Reinbot von Dürne, in: PBB 34, 1909, 360-383; Nibelungenstudien, I. Über die Fassungen B und C des Nibelungenliedes u. d. Klage, ihre Verfasser u. Abfassungszeit, in: Münch. Archiv 7, 1916, 5-24; Zur Gesch. des Schrifttums in Deutschland bis zum Ausgang des 13. Jh.s, I. u. II., in: Münch. Archiv 8, 1920, 1-55 u. 1921, 56-162; Studien zu Ulrich v. Türheim, in: Münch. Museum 4, 1924, 1-76. – Herausgeber: Münchener Museum für Philologie des Mittelalters u. d. Renaissance, 1911/12-1932; Münchener Archiv für Philologie des Mittelalters u. d. Renaissance, 1912-1921; Münchener Texte, 1912-1923; St. Servatius. Ein Beitrag zur Kenntnis des religiösen u. literarischen Lebens in Deutschland im 11. und 12. Jh. (Untersuchung u. Textausgabe), 1910; Der Ludus de Antichristo, Münchener Texte 1, 1912, 1930 2. Aufl.; Deutsche Mystikerpredigten, in: Münch. Museum 1, 1912, 1-36; Die Bruchstücke d. altsächs. Genesis, Münchener Texte H. 2, 1912; Zur Dreikönigslegende, in: Münch. Museum 2, 1914, 146-190; Denkmäler Dt. Prosa des 11. u. 12. Jh.s, Text u. Kommentar, Münchener Texte 8, 1914-1918; Das Jenaer Martyrologium u. die Unterweisung zur Vollkommenheit, in: Münch. Museum 5, 1929, 1-105; Corpus d. altdt. Originalurkunden bis zum Jahr 1300, 1929-1938, fortgesetzt von R. Newald, H. de Boor, D. Haacke, B. Kirschstein, 1940-1986.
Nachweis: Bildnachweise: nicht ermittelt.

Literatur: Richard Newald, in: Corpus d. altdt. Originalurkunden, Bd. 2, Vorrede, VII-XXXI, 1943; Dieter Haacke, Das Corpus d. altdt. Originalurkunden, in: PBB 77, 1955, 375-377.
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