Oncken, Hermann Gerhard Karl 

Geburtsdatum/-ort: 16.11.1869; Oldenburg
Sterbedatum/-ort: 28.12.1945; Göttingen
Beruf/Funktion:
  • Historiker
Kurzbiografie: 1878-1886 Großherzogliche Gymnasium Oldenburg
1887-1891 Studium der Geschichte an der Universität Heidelberg und Berlin, dort u. a. bei H. von Treitschke, H. Delbrück und M. Lenz
1891 Dr. phil. Berlin bei Max Lenz. Thema der Dissertation: Zur Kritik der oldenburgischen Geschichtsquellen im Mittelalter
1891-1894 wissenschaftlicher Hilfsarbeiter am Großherzoglichen Haus- und Centralarchiv Oldenburg
1897 Habilitation in Berlin. Thema der Habilitationsschrift: Graf Christoph von Oldenburg 1504-1566 (unvollendet, ungedruckt)
1897-1906 Privatdozent Berlin
1904 Prof. für Geschichte, Militärakademie Berlin
1905-1906 Austauschprofessor Universität Chicago
1906-1907 ordentlicher Prof. für neuere Geschichte, Universität Gießen (Nachfolge Wilhelm Oncken)
1907-1923 ordentlicher Prof. für neuere Geschichte, Universität Heidelberg (Nachfolge Erich Marcks)
1907 Mitglied der Badischen Historischen Kommission
1909 außerordentliches, 1916 Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften
1911 Dekan der Philosophischen Fakultät
1915-1918 Mitglied der Badischen Ersten Kammer
1916 Kriegsverdienstkreuz
1917 Titel „Geheimrat“
1920 Mitglied der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften
1922 korrespondierendes, 1933 ordentliches Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften Berlin
1923-1928 ordentlicher Prof. für neuere Geschichte, Universität München (Nachfolge E. Marcks)
1928-1935 ordentlicher Prof. für neuere Geschichte, Universität Berlin (Nachfolge E. Marcks)
1934-1935 Präsident der Historischen Reichskommission
1935 Zwangsemeritierung
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev.
Verheiratet: 1902 Margarete, geb. Weber
Eltern: Vater: Carl Oncken, Kaufmann
Mutter: Friederike Katharina Hermine, geb. Krüger
Geschwister: 3 (2 Brüder, 1 Schwester)
Kinder: 1 Tochter
2 Söhne
GND-ID: GND/118589997

Biografie: Klaus Schwabe (Autor)
Aus: Badische Biographien NF 3 (1990), 207-209

Bei dem zuletzt an der Berliner Universität lehrenden Historiker Oncken fielen der Höhepunkt seiner wissenschaftlichen Wirkung und seine politisch motivierte berufliche und wissenschaftliche Kaltstellung nahezu zusammen: Der neben Friedrich Meinecke angesehenste und einflußreichste deutsche Vertreter der Geschichte der Neuzeit – vor allem des 19. Jahrhunderts – wurde am 3. 2. 1935 Opfer eines politisch-wissenschaftlichen Rufmordes, zu dem sein eigener Schüler, der fanatisch nationalsozialistische junge Historiker Walter Frank, sich hergegeben hatte. Die wissenschaftliche Biographie Onckens wirft damit in besonderer Weise die Problematik des Typus des politischen Historikers in unserem Jahrhundert auf, den Oncken verkörpert hat.
Schon früh in seiner wissenschaftlichen Laufbahn hatte Oncken zu diesem Verständnis seines Berufes gefunden: Als Sohn eines Kunsthändlers friesisch-niedersächsischer Herkunft in Oldenburg aufgewachsen, studierte er in Heidelberg und Berlin. Durch seinen Lehrer, den Berliner Historiker Max Lenz, kam er mit der historiographischen Richtung der „Ranke-Renaissance“ in Berührung, die sich um eine Fortführung des Rankeschen Erbes im Sinne einer politischen Geschichtsschreibung aus universaler Perspektive bemühte. Bei Lenz promovierte er 1891 und unterzog er sich 1898 auch der Habilitation, beidemale über Themen aus der oldenburgischen Landesgeschichte. Nach der Promotion zunächst im Archivdienst seiner Heimatstadt, dann als Privatdozent an der Berliner Universität tätig, nahm er 1906 nach einem Austauschjahr in Chicago den Ruf auf die Professur für neuere Geschichte der Universität Gießen an. Schon 1907 folgte er einem Ruf an die Universität Heidelberg. Seine weiteren akademischen Wegstationen waren München (1923-28) und Berlin, wo er dann 1935 als politisch nicht tragbar seinen Dienst quittieren mußte. Rufe an die Universitäten Wien, Hamburg und Freiburg lehnte er ab. Als Ausgebombter aus Berlin nach Göttingen evakuiert, verstarb er dort Ende 1945 als Sechsundsiebzigjähriger.
In Grenzen ist Oncken auch außerhalb der Universität tätig gewesen – als Mitglied der Akademien Heidelberg und Berlin, ferner, 1925, als Gründungsmitglied der „Deutschen Akademie“, München, die die Anliegen der Auslandsdeutschen vertrat. Politisch gehörte er der nationalliberalen Partei an. Die Heidelberger Universität vertrat er zeitweilig in der 1. Kammer des Großherzogtums Baden. Ähnlich wie einige andere profilierte deutsche Wissenschaftler stand er vor dem Ersten Weltkrieg unter dem Einfluß Naumanns und hoffte wie dieser auf eine Integration der Arbeiterschaft in den bürgerlichen Staat. Während des Ersten Weltkrieges sympathisierte er mit der Reichsleitung unter dem Kanzler Bethmann Hollweg und unterstützte deren Kriegspropaganda. In der Weimarer Republik befürwortete er Stresemanns Politik einer friedlichen Revision des Versailler Vertrages mit dem Ziel einer Wiedergewinnung der deutschen Vorkriegsgrenzen und eines Anschlusses Österreichs. Auch er kämpfte gegen die sogenannte „Kriegsschuldlüge“. Seine durchaus „nationale“ Einstellung schützte ihn nicht vor politischen Verunglimpfungen im Hitlerreich, dessen Wortführer – vor allem der schon genannte Walter Frank – schließlich die Amtsenthebung dieses Exponenten einer „liberalistischen“ „Geheimratsclique“ erwirkten. Eine letzte wissenschaftliche Zuflucht fand Oncken dann in der traditionsreichen Berliner „Mittwochsgesellschaft“, der auch einige namhafte Vertreter des deutschen Widerstandes angehörten.
Oncken verstand sich als politischer Historiker in einem doppelten Sinne: Zum einen richtete sich sein Hauptinteresse auf die Bereiche der Außen-, Militär- und Innenpolitik und die Wechselbeziehungen zwischen diesen Bereichen; sowohl gegenüber der von Karl Lamprecht vertretenen Kulturgeschichte als auch gegenüber der von Friedrich Meinecke inaugurierten Ideengeschichte wahrte er Distanz. Zum anderen hoffte er, als Darsteller der politischen Vergangenheit im Sinne einer „politischen Pädagogik“ auf seine eigene Gegenwart einwirken zu können.
Vor dem Ersten Weltkrieg wurde er zunächst durch seine Biographie des Mitbegründers der deutschen Sozialdemokratie Ferdinand Lassalle bekannt. Er wurde damit der eigentliche Entdecker der Geschichte der deutschen Arbeiterschaft für die nicht-marxistische Historiographie, Entdecker auch der auf Staat und Nation bezogenen Denktradition innerhalb der SPD. Sein Buch wurde eine Art „Klassiker“ und ist noch 1966 neu aufgelegt worden. Es folgte 1910 eine umfängliche Würdigung von Bismarcks nationalliberalem Mit- und Gegenspieler R. von Bennigsen im Stile einer englischen „Life and Letters“-Biographie. In den zwanziger Jahren wandte sich Oncken immer stärker außenpolitischen Problemen zu. Das Hauptergebnis dieser Arbeiten wurde sein 1933 herausgekommenes zweites „magnum opus“: eine weit ausholende Darstellung der Ursachen des Ersten Weltkrieges aus deutscher Perspektive, die trotz einer nicht mehr haltbaren apologetischen Tendenz bis heute ihren Informationswert behalten hat. Ein breiteres Leserpublikum eroberte sich Oncken durch seine zahllosen historisch-politischen Essays, die den Zeitraum von der Reformation bis zum 20. Jahrhundert und gleichzeitig die deutsche und die angelsächsische Geschichte (auch die Geschichte der USA) abdeckten und von ihm, in mehreren Sammelbänden vereinigt, veröffentlicht wurden. Erhebliche Verdienste erwarb er sich schließlich als Herausgeber historischer Quellen, so der politischen Korrespondenz des Großherzogs Friedrichs I. von Baden (2 Bände, 1927, mit biographischer Einleitung), dann von Akten zur Rheinpolitik Napoleons III. (3 Bände, 1926) und zur Vorgeschichte des Zollvereins (3 Bände, 1934).
Oncken hat auf die deutsche Geschichtswissenschaft nicht nur durch seine eigenen Arbeiten gewirkt, sondern auch durch die „Schule“, die er gebildet hat. Namhafte Historiker der nachfolgenden Generation wie Ernst Engelberg, Gerhard Ritter, Franz Schnabel, Otto Vossler und Egmont Zechlin gehörten zu seinen Schülern. Sie waren es dann auch, die viele der wissenschaftlichen Ansätze aufgriffen, die er, großzügiger Anreger, der er war, u. a. in seinen brillianten Essays und seinen fesselnden Vorlesungen zuerst entwickelt hatte.
Werke: Eine Bibliographie fehlt. Als Ersatz bietet sich an: Stefan Hartmann und Albrecht Eckhardt, Findbuch zum Bestand Nachlaß H. Oncken, in: Veröffentlichungen der Niedersächsischen Archivverwaltung, Inventare und kleinere Schriften des Staatsarchivs in Oldenburg, Heft 8, Göttingen 1979 (mit Kurzbiographie und Literaturhinweisen). – Buchveröffentlichungen u. a.: Ferdinand Lassalle. Zwischen Marx und Bismarck, Stuttgart 1904, 5. Aufl. 1966; Rudolf von Bennigsen, 2 Bde., Stuttgart 1910; Das alte und das neue Mitteleuropa, Gotha 1917; Aus Rankes Frühzeit, Gotha 1922; Das Deutsche Reich und die Vorgeschichte des Weltkrieges, 2 Teile, Berlin 1933; Cromwell. Vier Essays über die Führung einer Nation, Berlin 1934; Die Sicherheit Indiens, Berlin 1937. Aufsatzsammlungen: Historisch-politische Aufsätze, 2 Bde., München 1914; Nation und Geschichte, Berlin 1935; postum: Wandlungen des Geschichtsbildes in revolutionären Epochen, in: HZ, Bd. 189 (1959), 124-138 (verfaßt 1934).
Nachweis: Bildnachweise: Ölbild. 1917 sowie Fotos bis 1943 im Besitz des Sohnes Dirk Oncken, Goethestr. 29, 5000 Köln 51.

Literatur: Gerhard Ritter, Zum Gedächtnis von H. Oncken, in: Geistige Welt, 1,3 (Oktober 1946), 26-30; Helmut Heiber, Walter Frank und sein Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands, Stuttgart 1966; Klaus Schwabe, H. Oncken, in: Hans-Ulrich Wehler, Hg., Deutsche Historiker, Bd. 2, Göttingen 1971, 81-97; Rüdiger vom Bruch, Wissenschaft, Politik und öffentliche Meinung. Gelehrtenpolitik im Wihelminischen Deutschland, Husum 1980 (= Historische Studien, hg. von O. Brunner u. a., Heft 435); Christoph Weisz, Geschichtsauffassung und politisches Denken Münchener Historiker der Weimarer Zeit, Berlin.
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