Radbruch, Gustav Lambert 

Geburtsdatum/-ort: 21.11.1878; Lübeck
Sterbedatum/-ort: 23.11.1949;  Heidelberg
Beruf/Funktion:
  • Reichsjustizminister
Kurzbiografie: 1898 Humanistisches Abitur („primus omnium“) Lübeck
1898-1901 Studium der Rechtswissenschaft in München, Leipzig, Berlin
1902 Promotion bei Franz von Liszt
1903 Habilitation in Heidelberg bei Karl von Lilienthal. Venia legendi für Strafrecht, Strafprozeßrecht und Rechtsphilosophie
1904-1914 Privatdozent und außerordentlicher Prof. in Heidelberg
1906 Lehrauftrag an der Handelshochschule Mannheim
1914 Prof. in Königsberg
1915-1918 Militärdienst, mit dem badischen Landwehrregiment 111 im Westen
1919-1926 Prof. in Kiel
1920-1924 Mitglied des 1. Reichstags (SPD)
1921-1922 und 1923 Reichsjustizminister
1926 als Nachfolger von Alexander Graf zu Dohna ordentlicher Prof. in Heidelberg
1933 Vom nationalsozialistischen Regime aus dem badischen Staatsdienst entlassen
1935/36 Forschungsaufenthalt in Oxford
1945 Rückkehr in das Lehramt. Dekan der Heidelberger Juristenfakultät
1946 Neubeginn mit der ersten Vorlesung
1948 Wiedereintritt in die SPD. Emeritierung
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev. luth.
Verheiratet: 1915 Lydia, geb. Schenk, Tochter des Gutsbesitzers Franz Schenk aus dem Memelschen Kreis Heydekrug
Eltern: Vater: Heinrich Radbruch, Kaufmann
Mutter: Emma, geb. Prahl
Geschwister: 2
Kinder: Renate (1915-1939)
Anselm (1918-1942)
GND-ID: GND/118597582

Biografie: Adolf Laufs (Autor)
Aus: Badische Biographien NF 1 (1982), 223-225

Des großen Rechtsdenkers Geburtshaus stand in einer freien Hansestadt; der reifste Teil seiner Lebensarbeit aber wuchs in Baden. Die Liebe zu diesem Land äußerte sich je und je, etwa in seinem Bekenntnis zu Johann Peter Hebel und in dem Urteil über das Alemannische, das er für den „edelsten aller deutschen Dialekte“ hielt. Die Spanne seines von philosophischen, künstlerischen und sozialen Antrieben gelenkten Juristenlebens umschloß und bestand vier Perioden deutscher Verfassungsgeschichte mit ihren Umbrüchen und Katastrophen. Leben und Werk des Gelehrten wirken als Vorbild und anregend weiter, nicht nur in Jubiläumsschriften, sondern in vielen Übersetzungen und Neuauflagen der Radbruchschen Publikationen selbst.
Seine aus Vorlesungen an der Handelshochschule Mannheim erwachsene, zuerst 1910 erschienene „Einführung in die Rechtswissenschaft“ – bis 1933 in vierzigtausend Exemplaren verbreitet, ins Russische, Polnische, Spanische und Japanische übersetzt – gehört mit ihrem halb theoretischen, halb enzyklopädischen Charakter, mit ihren teils wissenschaftlichen, teils literarischen Zügen noch immer zum Besten, was der junge Jurist zur Hand nehmen kann (12. Aufl. 1969). Seit 1914 begleitet die gleichfalls in mehrere Sprachen, auch das Englische, übertragene „Rechtsphilosophie“ (8. Aufl. 1973) nachdenkliche Studenten der verschiedensten Kulturkreise auf ihrer Suche nach den letzten Gründen des Rechts. Weit verbreitet hat sich auch die studentische Niederschrift eines rechtsphilosophischen Kollegs, der sein Urheber nach dem Vorbild von Jean Pauls „Vorschule der Ästhetik“ den Titel „Vorschule der Rechtsphilosophie“ (3. Aufl. 1965) gab. Zu den nützlichsten, bei Lehrern wie Schülern beliebten Quellentexten im rechtshistorischen Unterricht zählt das Reclam-Bändchen mit der Carolina, der Peinlichen Gerichtsordnung Kaiser Karls V. und des Reiches von 1532 (4. Aufl. 1975). Mit dieser editorischen Arbeit vollzog Radbruch 1926 die Wendung zur Geschichte, der schon sein eigentliches jugendliches Interesse galt und zu der er auch im Alter zurückfand. Viele Freunde auch außerhalb der Juristenzunft gewann sich Radbruch durch zwei schöne kleine Bücher: den Bildband „Karikaturen der Justiz“ (3. Aufl. 1961) und die Anthologie „Lyrisches Lebensgeleite“ (2. Aufl. 1958). An Daumier bewunderte Radbruch die Lebenseinheit von Bürgersinn und Künstlertum. „Daumiers Kunst ist ein Aufschrei nach der Gerechtigkeit über allem Gesetz, nein, nach der Liebe über aller Gerechtigkeit.“ Radbruchs Gedichtband bringt zum Ausdruck, „wie Lyrik zu jeder Zeit die leise Begleitmusik dieses reichen und bewegten Lebens war“ (Lydia Radbruch).
In den Lehrjahren bildete sich bei Radbruch früh seine sozialistische Überzeugung, wobei ihn zeitgenössische Dichter stärker beeinflußten als Theoretiker. In Berlin prägte ihn die moderne oder soziologische Strafrechtsschule Franz von Liszts, der in seinem Marburger Programm von 1882 mit dem Zweckgedanken im Strafrecht einer neuen, der Resozialisierung verpflichteten Kriminalpolitik den Ausgangspunkt geschaffen hatte. In Heidelberg trat der junge Gelehrte in den Kreis des „südwestdeutschen Neukantianismus“, der „Wertphilosophie“. In seiner akademischen Antrittsrede von 1926: „Der Mensch im Recht“ hat er das Bekenntnis zum Heidelberg Georg Jellineks, Wilhelm Windelbands, Emil Lasks, Ernst Troeltschs, Eberhard Gotheins, Max Webers wiederholt und sich erneut als Schüler zweier Großer verpflichtet, die in Heidelberg ihre letzte Ruhestätte fanden: Liszts und des ersten Reichspräsidenten Friedrich Ebert.
In den ersten erregten und revolutionären Nachkriegsmonaten fand seine „Abneigung ihr Ende, den Reichtum der Möglichkeiten für eine begrenzte Wirklichkeit, die Fülle der Widersprüche für eine feste Überzeugung dahinzugeben“: als Mitglied der Sozialdemokratischen Partei nahm er in Berlin an den Zeitproblemen tätigen Anteil. Die Politik ließ ihn auch nicht los, nachdem er 1919 einem Ruf an die Kieler Universität gefolgt war, der er sieben ereignisreiche Jahre lang angehören sollte. Bei dem ersten Aufstand der Rechtsradikalen gegen die junge Weimarer Republik, dem Kapp-Putsch im März 1920, geriet Radbruch in bedrohliche Haft und er erwarb sich durch mutiges Eintreten für Gefährdete Verdienste. Seine Haltung während der Staatskrise verband ihn fest mit der Kieler Arbeiterschaft und führte zu seiner Wahl als sozialdemokratischer Abgeordneter in den ersten Reichstag. Als einziger Jurist der Fraktion gewann er eine ihn befriedigende selbständige Funktion, und bald stieg er zum Reichjustizminister auf, ein Amt, das er zweimal bekleidete: von Oktober 1921 bis November 1922 unter dem Reichskanzler und Zentrumspolitiker Joseph Wirth, dann von August bis November 1923 während der ersten und zweiten Reichskanzlerschaft Gustav Stresemanns. In einem Brief an Bundesjustizminister Thomas Dehler rühmte er noch Jahrzehnte später die durch meisterhafte Facharbeit ausgezeichnete „große Tradition“ des Reichsjustizministeriums: „Für mich war sie das größte juristische Erlebnis, das mir mein langes Juristenleben überhaupt gebracht hat“.
In seinem Amt fühlte sich Radbruch „nicht so sehr als Parteiminister denn als ein Sachverständiger unter Sachverständigen von hervorragender Qualität“. Doch nahm er auch am politischen Kampf teil, besonders nach der Ermordung des Außenministers Walther Rathenau im Juni 1922, die den Erlaß eines von Radbruch entworfenen Gesetzes zum Schutz der Republik und einen zweiten Konflikt des Reiches mit Bayern zur Folge hatte. Kraftfordernde Widerstände ergaben sich auch sonst, etwa bei den Gesetzen vom April und Juli 1922 über die Zulassung der Frauen zum Schöffen- und Geschworenenamt wie überhaupt zu den Ämtern und Berufen der Rechtspflege. Die schöpferischste Leistung des Reichsjustizministers lag in dem „Entwurf eines Allgemeinen deutschen Strafgesetzbuches“ von 1922, dem zukunftweisenden Werk eines mutigen Reformators im Dienst eines humanen Strafrechts. Die den Lehren Liszts verpflichtete Arbeit blieb zwar in den Gebrechen und Nöten des Weimarer Staates, in der „Republik ohne republikanischen Geist“ hängen, beeinflußte aber die nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgenommene Strafrechtsreform, die inzwischen wesentliche Ansprüche Radbruchs eingelöst hat.
Radbruch gehörte zu den ersten Professoren, die das nationalsozialistische Regime im Frühjahr 1933 aus politischen Gründen entließ – unter Berufung auf das Gesetz mit dem zynischen Titel „zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“. Der Direktor der Universitätsbibliothek verbot dem Gelehrten das Betreten der Bücherräume. „Mit richtigem Instinkt“, so beschreibt dieser seine Reaktion auf das Unrecht, „wandte ich mich schon am Tage nach meiner Entlassung einer positiven Aufgabe zu, die mich durch meine ganze Dozententätigkeit begleitet hatte: der Biographie des großen Kriminalisten Anselm Feuerbach, die nun schnelle Fortschritte machte und im Jahr 1934 erscheinen konnte“ (3. Aufl. 1969).
Als Rechtsdenker hat Radbruch kein geschlossenes System geschaffen. Mit Etiketten wie Neukantianer, Positivist, Relativist, Modernist oder Naturrechtler läßt er sich nicht kennzeichnen. Recht bedeutete für ihn, obwohl Anhänger des kantischen Methodendualismus, etwas durchaus Seinshaftes, wirkliche und menschliche „Gemeinschaftsregelung“, Rechtsphilosophie also auch wesentlich Rechtsontologie und Philosophie vom Menschen. Seine Strafrechtslehre stand unter dem Goethewort: „Soll er strafen oder schonen, muß er Menschen menschlich sehn“. Immer erscheinen Sein und Sollen des Menschen im Zusammenhang der Gesamtkultur mit ihren zeitgebundenen Aufgaben und Widersprüchen.
Rechtsphilosophie hieß für Radbruch Rechtswertbetrachtung, die er durch zwei Wesenszüge gekennzeichnet sah: Methodendualismus und Relativismus. Nach ersterem lassen sich Sollenssätze oder Werturteile nicht induktiv auf Seinsfeststellungen, sondern nur deduktiv auf andere Sätze gleicher Art stützen. Wer die logische Unableitbarkeit des Werts aus der Wirklichkeit sieht, erkennt, daß Sollenssätze nur durch andere, weitere begründbar und erweislich sind. Die letzten Sollenssätze bleiben unbeweisbar, nur dem Bekenntnis, nicht mehr der Erkenntnis zugänglich. Der Relativismus beschränkt sich darauf, dem einzelnen „die Möglichkeiten der Stellungnahme erschöpfend vorzulegen, überläßt aber seine Stellungnahme selbst seinem aus der Tiefe der Persönlichkeit geschöpften Entschlusse – keineswegs also seinem Belieben, vielmehr seinem Gewissen“. Der Relativismus bedeutet „Verzicht auf die wissenschaftliche Begründung letzter Stellungnahmen, nicht Verzicht auf die Stellungnahme selbst“. Er sollte in Radbruchs Rechtsphilosophie „nur für die Frage der Zweckmäßigkeit des Rechts“ gelten: „Dagegen haben die beiden anderen Rechtsprinzipien: Gerechtigkeit und Rechtssicherheit zwar formalen, aber allgemeingültigen Inhalt“.
Auch die Religion besaß in Radbruchs Denken ihren Platz. Er bekannte sich zu ihr und bei aller Skepsis auch zum Christentum: „Noch bei dem 'Freidenker' dem Atheisten, ist die Stelle, an der bei dem Gläubigen Gott seinen Sitz hat, nicht einfach leer. Man darf mit Fug sagen: anima naturaliter religiosa, man kann für unseren Kulturkreis sogar zu der ursprünglichen Form dieses Satzes (bei Tertullian) zurückkehren: anima naturaliter christiana“. Er erkannte in der Religion – dem „Inbegriff jener Gefühle und Gedanken, an denen der Mensch Rückhalt findet, wenn es um Tod und Leben, wenn es ums Ganze und Letzte geht“ – ein wesentliches Stück humaner Existenz. Und als echt mochte ihm nur der Glaube erscheinen, „welcher der Skepsis immer von neuem abgewonnen wird“.
Was jeder Jurist bis zu einem gewissen Grad sein soll, ist Radbruch in vollem Maß gewesen: ein literarischer Mensch. Die Kunst – nicht nur der Schriftsteller und unter ihnen der Dichterjuristen – zog ihn mächtig an, und was er dachte, strebte nach künstlerischem Ausdruck. Sein Kunstsinn hat wohl den schönsten Niederschlag gefunden in den zehn meisterhaften Essays des Buches „Gestalten und Gedanken“, einer „Bestandsaufnahme seiner geistigen Existenz“ (zuletzt 1954), in der sich die ganze Spannweite seiner intellektuellen und künstlerischen Interessen zeigt. Mit der ihm eigenen Eindringlichkeit und unermüdlichen Selbsttätigkeit (Reinhard Buchwald) wählte er aus dem unermeßlichen Vorrat der Literatur, der Kunst und des Denkens der Welt die Stoffe aus, die ihn zu dem ihm menschlich Wesentlichen führten, um sie selbst zu gestalten und durch sie zu wirken. Dabei spielten die jeweils erlebten oder erlittenen Zufälle seines persönlichen Schicksals mit. So suchte und fand er Trost über Ciceros „Consolatio“, über die er schrieb, nachdem ein Unfall ihm die einzige Tochter genommen hatte.
Den Mittelpunkt seiner literarischen Existenz bildete Goethe. Er fand „in Goethes Leben, nur gesteigert und geläutert, unser aller Leben wieder“. Außer dem Bekenntnis zu Goethe, das die „Gestalten und Gedanken“ eröffnet, findet sich ein zweites am Ende seines Buches zur „Kulturlehre des Sozialismus“ (3. Aufl. 1949).
Ob philosophisches, juristisches, ästhetisches oder historisches Interesse ihn leitete, stets bemühte sich Radbruch um die Einsicht in die Zusammenhänge, um den Blick auf die umfassende Kultur, „das heißt das gegliederte Ganze, die lebendige Einheit, zu welcher alle Kulturwerke sich zusammenfinden“. Wir verdanken diesem Streben reizvolle kulturhistorische Publikationen. Radbruch vollendete die Dissertation seiner in jugendlichem Alter tragisch verunglückten Tochter Renate Maria, eine Arbeit aus dem Grenzgebiet zwischen Kunst- und Sozialgeschichte, die er zum Druck beförderte: Der deutsche Bauernstand zwischen Mittelalter und Neuzeit (2. Aufl. 1961). Notiz verdient auch seine gemeinsam mit Heinrich Gwinner verfaßte „Geschichte des Verbrechens“ (1951), eine Geschichte der deutschen Kriminalität.
Nachweis: Bildnachweise: Foto in: „Einführung in die Rechtswissenschaft“, in der „Rechtsphilosophie“, der Autobiographie „Der innere Weg“ 1961 (2. Aufl.), ferner in LJ.

Literatur: Erik Wolf, Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte, 1963 (4. Aufl.), 713 ff.; Arthur Kaufmann (Hg.), Gedächtnisschrift für Gustav Radbruch, 1968 (jeweils mit Bibliographie); Adolf Laufs, Gustav Radbruch Leben und Werk, in: Heidelberger Jahrbücher 1979, 59 ff. (mit Bildern und Schriftproben). Holger Otte, G. Radbruchs Kieler Jahre 1919-1926, 1982; Michael Gottschalk, G. Radbruchs Heidelberger Jahre 1926 bis 1949, 1982.
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