Wundt, Wilhelm Maximilian 

Geburtsdatum/-ort: 16.08.1832;  Neckarau (heute Mannheim)
Sterbedatum/-ort: 31.08.1920; Großbothen bei Leipzig
Beruf/Funktion:
  • Arzt, Psychologe und Philosoph
Kurzbiografie: 1845 Katholisches Gymnasium Bruchsal
1846-1851 Gymnasium Heidelberg, Abitur
1851-1855 Medizinstudium in Tübingen und Heidelberg, medizinisches Staatsexamen
1856 Dr. med., Assistent in der Frauenabteilung der Heidelberger Klinik
1857 Habilitation an der Medizinischen Fakultät der Universität Heidelberg
1858-1863 Assistent bei H. von Helmholtz in Heidelberg
1864-1874 außerordentlicher Prof. für Anthropologie und medizinische Psychologie an der Medizinischen Fakultät der Universität Heidelberg
1866-1868 Abgeordneter der Stadt Heidelberg in der Zweiten Kammer des Badischen Landtags
1874 Ordinarius für induktive Philosophie an der Universität Zürich
1875-1917 Ordinarius für Philosophie an der Universität Leipzig
1879 Gründung des Instituts für experimentelle Psychologie an der Universität Leipzig
1889-1890 Rektor der Universität Leipzig
1902 Ehrenbürger der Stadt Leipzig
1907 Ehrenbürger der Stadt Mannheim
1917 Emeritus
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev.
Verheiratet: 1872 Sophie Wundt, geb. Mau
Eltern: Vater: Maximilian Wundt, Pfarrer
Mutter: Marie Frederike Wundt, geb. Arnold
Geschwister: 3
Kinder: 3: Sohn Max (1879-1963), Philosophiehistoriker
GND-ID: GND/11863562X

Biografie: Horst Ferdinand (Autor)
Aus: Badische Biographien NF 4 (1996), 328-332

Wundt ist eine der bedeutendsten Gelehrtenpersönlichkeiten des 19. Jahrhunderts. Er begründete den Rang der Psychologie als selbständiger wissenschaftlicher Disziplin, nachdem sie bis dahin als Teilgebiet entweder der Physiologie oder Philosophie gegolten hatte. Denkerische Tiefe und Folgerichtigkeit, staunenswerte Beherrschung der Einzelwissenschaften seiner Epoche und imponierender Umfang seiner Veröffentlichungen bestimmen Wundts Lebenswerk; er publizierte 58 000 Seiten. Lebenslang faszinierte ihn die Politik. Auf diesem Gebiet geriet er in hohem Alter auf Irrwege, die Leipziger Psychologen W. Meischner/E. Eschler nennen ihn 1979 den „nationalistisch orientierten Wortführer des deutschen Imperialismus“. – Wenn diese pauschalierende Charakterisierung auch ihre Herkunft aus der Ideologie der früheren DDR nicht verleugnet, wird man sie angesichts der Stellungnahmen Wundts zur deutschen Niederlage im Jahre 1918 (siehe unten) nicht ohne weiteres zurückweisen können.
Begonnen hatte die Laufbahn des aus alter Heidelberger Theologenfamilie stammenden Wundt in dem Biedermeieridyll eines nordbadischen Pfarrhauses, den ersten Unterricht erteilte ihm ein – sehr verehrter – Hilfsgeistlicher seines Vaters. Beim Übergang auf das Gymnasium stellte sich allerdings heraus, daß die vermittelten Kenntnisse den schulischen Anforderungen nicht entsprachen. „Gewohnheitsmäßige Unaufmerksamkeit“ (Wundt) – bis zum vierten Semester – trug dazu bei, daß seine Zeugnisse eher mäßig blieben, und auch das nach dem Abitur begonnene Studium der Medizin wählte er nicht aus einer besonderen Neigung zu diesem Fach, sondern eher wegen des Umstands, daß sein Onkel als Anatom in Tübingen wirkte.
Es dauerte einige Semester, bis Wundt glaubte, seine Berufung erkannt zu haben. Anatomie und vor allem die Physiologie schlugen ihn zunehmend in ihren Bann, und hier blitzte auch erstmals das Genie auf. Seine Lösung einer Preisaufgabe der Heidelberger Medizinischen Fakultät – „Versuche über den Einfluß der Durchschneidung der Lungenmagennerven auf die Respirationsorgane“ – wurde preisgekrönt und in einer Fachzeitschrift veröffentlicht. Die summa cum laude bewertete Dissertation „Untersuchungen über das Verhalten der Nerven in entzündeten und degenerierten Organen“ und die erfolgreiche Habilitation deuteten auf eine aussichtsreiche wissenschaftliche Laufbahn hin, als ein auf Überanstrengung zurückzuführender Blutsturz (1857) alles in Frage stellte. Die Ärzte hatten Wundt schon so gut wie aufgegeben. Als er genas, hatte er auf dem Krankenbett eine Einsicht gewonnen, die seine spätere Wanderung von den Naturwissenschaften zur Psychologie und dann zur Philosophie markiert, nämlich „daß es keine wissenschaftliche Erkenntnis gibt, die nicht zugleich in irgendeinem Maße philosophische Erkenntnis wäre, und ebenso umgekehrt keine philosophische Erkenntnis, die nicht mit der Gesamtheit der einzelnen wissenschaftlichen Erkenntnisse zusammenfiele“. Die Philosophie müsse „jenen Zusammenhang zwischen der empirisch-sinnlichen Wirklichkeit und ihrer geistigen Widerspiegelung in dem menschlichen Bewußtsein wiedergeben“.
Die fünfjährige Zusammenarbeit mit einem weltberühmten Gelehrten wie Helmholtz förderte selbstverständlich die naturwissenschaftlichen Kenntnisse des Assistenten Wundt den man aber nicht als Schüler von Helmholtz bezeichnen kann; einen eigentlichen Mentor, der ihm Wege gewiesen hätte, hat Wundt nie gehabt. Ausgehend von der Physiologie gelangte Wundt zwangsläufig zum Leib-Seele-Problem, zur Psychologie und hielt schon 1862, noch als Assistent von Helmholtz, die erste psychologische Vorlesung „Psychologie vom naturwissenschaftlichen Standpunkt“. Mit den „Beiträgen zur Theorie der Sinneswahrnehmung“ (1862), den „Vorlesungen über die Menschen- und Tierseele“ (Leipzig 81922) sowie dem 1864 (Erlangen) erschienenen „Lehrbuch der Physiologie des Menschen“ schien die künftige Laufbahn des jungen Gelehrten festgelegt. Doch in dieser Zeit trat ein neues Element in Wundts Leben, das ihn bis ans Ende seiner Tage fesselte: die Politik. Schon den Siebzehnjährigen hatten der tragische Ausgang der badischen Revolution im Jahre 1848/49, das Scheitern ihrer nationalen und sozialen Zielsetzung tief beeindruckt. 1862 trat er, nachdem er sich mehrere Jahre lang als Vortragender in einem Naturhistorisch-Medizinischen Verein betätigt hatte, in den Heidelberger Arbeiterbildungsverein ein, dessen Vorsitzender er wurde. Wundt „sah das Problem der Arbeiterklasse als vorwiegend in der mangelhaften Bildung begründet. Die Erwachsenenunterweisung und die gleichzeitige Reform der Volksschule und der Gewerbeschule war seiner Auffassung nach die einzige Möglichkeit, die soziale Frage anzugehen“ (G. A. Ungerer).
Der Verein war parteipolitisch neutral; die Politisierung der Arbeiterklasse durch Lassalle lehnte Wundt ab. Allerdings waren die Erfolgsaussichten eines nur an den Abenden möglichen Bildungsprogramms bei der damals üblichen Arbeitszeit des Handwerkers oder Fabrikarbeiters von 13 bis 15 Stunden begrenzt, und die Mitgliederzahl des Vereins schwankte dementsprechend. Aber Wundt blieb bis zu seiner Berufung nach Zürich (1874) aktives Mitglied des Vereins. Der Weg von da aus in die praktische Politik war nicht weit.
Am 26.4.1866 wurde der in der Heidelberger Öffentlichkeit wohlbekannte junge Professor in den Badischen Landtag gewählt, wo er sich der bürgerlich-liberalen „Badischen Fortschrittspartei“ anschloß. In den kurzen Jahren seiner Mitgliedschaft im Landtag konzentrierte er sich besonders auf die damals in Baden akute Schulfrage. An dem am 19.12.1867 verabschiedeten Schulgesetz, mit dem die bis dahin praktizierte geistliche Schulaufsicht abgeschafft und die Einrichtung von Simultanschulen ermöglicht wurde, war Wundt maßgeblich beteiligt. Auch in anderen Bereichen hat er sich tatkräftig eingesetzt, so etwa bei der Beseitigung der akademischen Standesprivilegien vor Gericht. Nach zwei Jahren verzichtete er auf sein Mandat, da er sich der Überzeugung nicht verschließen konnte, „daß die politische so gut wie jede andere Stellung ihren Mann ganz fordert“. Er war aber auch über das Verhältnis Badens zum Norddeutschen Bund enttäuscht: „Bismarck will keinesfalls die Einigung Deutschlands, nur die Erweiterung der Hegemonie“. Nach 1870/71 hat er dieses Urteil revidiert. Jedenfalls widmete er sich nach 1868 ganz und ausschließlich seinen wissenschaftlichen Aufgaben, ohne aber die Politik aus den zu Augen verlieren. In seiner „Ethik“ und in der „Völkerpsychologie“ finden sich viele Spuren seiner politischen Praxis.
Das in Zürich verbrachte Jahr (die Berufungsurkunde trägt übrigens die Unterschrift des Staatsschreibers Gottfried Keller) blieb Episode, bezeichnet aber mit dem Thema der Antrittsvorlesung – „Über die Aufgabe der Philosophie in der Gegenwart“ – den Übergang von den Natur- in die Geisteswissenschaften (ohne die naturwissenschaftlichen Positionen im mindesten zu vernachlässigen), und in der Antrittsvorlesung in Leipzig (1875) – „Über den Einfluß der Philosophie auf die Erfahrungswissenschaften“ – wird der zentrale Gegenstand der Seelenlehre Wundts sichtbar, die Erfahrung. In seiner 42 Jahre dauernden Lehr- und Forschungstätigkeit in Leipzig realisierte Wundt sein in der Geistesgeschichte folgenreiches Konzept der Betrachtung der Psychologie als einer Wissenschaft der Erfahrung. Eingeleitet wurde die Institutionalisierung der von Wundt verselbständigten Disziplin mit der 1879 erfolgten Gründung des Instituts für experimentelle Psychologie (durch Wundt), des ersten psychologischen Instituts der Welt.
Mehrere Jahre lang finanzierte Wundt das Institut aus eigenen Mitteln, ehe – nach schnellem Ansteigen der Hörerzahlen – die bescheidene staatliche Förderung einsetzte. Die mit der Gründung dieses Instituts durch Wundt verbundene Leistung besteht vor allem darin, daß er es wagte, das naturwissenschaftliche Experiment auf seelische Erscheinungen anzuwenden. Damit gab er die bis dahin auf reine Selbstbeobachtung fixierte Psychologie auf, schuf eine hieb- und stichfeste Methodik der neuen Disziplin und befreite sie aus der bisherigen „metaphysischen Einlagerung“ (E. Petersen) – ohne sie aus ihrer Bindung an die Philosophie zu entlassen.
Wundt suchte das seelische Geschehen in den vier Prinzipien der schöpferischen Synthese (das Produkt ist mehr als die Summe seiner Teile, es ist ein neues, „mit den Faktoren, die bei seiner Bildung zusammenwirkten, schlechthin unvergleichbares Erzeugnis“), der beziehenden Relationen (jeder Teil eines Satzes z. B. steht sowohl in einem bestimmten Verhältnis zum Ganzen des Satzes wie zu den einzelnen Satzteilen), der steigernden Kontraste (die psychischen Vorgänge verstärken sich durch ihr wechselseitiges Verhältnis; das Gefühlsleben ist mehrdimensional) und der Heterogonie der Zwecke (die Wirkungen menschlicher Handlungen reichen immer weit über ihre ursprünglichen Willensmotive hinaus) zusammenzufassen (,,psychophysischer Parallelismus“, d. h. gewisse physische entsprechen regelmäßig gewissen psychischen Vorgängen).
Wundt ging davon aus, daß das Individuum durch die menschliche Gemeinschaft bestimmt ist, in die es hineingeboren wird. Auf diesem Wege gelangte er bei der „Untersuchung derjenigen psychischen Vorgänge, die der allgemeinen Entwicklung menschlicher Gemeinschaften und der Entstehung gemeinsamer geistiger Erzeugnisse von allgemeingültigem Wert zugrunde liegen“, zur Völkerpsychologie“ (10 Bände, Leipzig 1910-1920), die er für sein wichtigstes Werk hielt. Selbst die Psychologie der früheren DDR (W. Meischner, E. Eschler), die sonst den „idealistischen Fallstricken“ des Wundtschen Systems kritisch gegenübersteht und ihn wegen der Ausbildung seines „Idealrealismus“ als einer psychologisch-voluntaristischen Metaphysik für einen bloßen „Epigonen des deutschen Idealismus“ hält, stuft seine Völkerpsychologie“ anders ein: sie bilde „einen der geschichtlich bedeutsamsten Versuche, eine soziale Psychologie des Menschen und seines gesellschaftlichen Lebens zu begründen“. – Diese Wertung gründet natürlich auf der marxistischen Lehre von der Bewußtseinsbildung des einzelnen in der Gesellschaft.
Experimentelle Psychologie und Völkerpsychologie ergänzen und bedingen sich in Wundts System; er selbst bezeichnet die Grundfunktion des menschlichen Geistes, die Sprache, als das einleuchtendste Zeugnis für diesen geistigen Zusammenhang der Einzelpersönlichkeit mit der Gemeinschaft. „Weitere Kreise, innerhalb deren die einzelne Nation nur ein Glied bildet in einem umfassenden Völkerverkehr, ziehen die Religion und die Kunst, die weitesten endlich die Wissenschaft, die erst im eigentlichen Sinne diejenige Stufe erreicht, die wir eine internationale zu nennen berechtigt sind“.
Zur Philosophie hatte Wundt in frühen Jahren wenig Beziehung. Aber „seit mir bei dem Problem des Sehfeldes die Erkenntnis aufgegangen war, daß die Physiologen hier auf Neben- und Irrwegen gewandelt waren, beschäftigte mich die Frage, wieweit insbesondere da, wo von den einfacheren Vorgängen der Empfindung und Wahrnehmung zu den verwickelteren Erscheinungen des Seelenlebens ein Übergang zu suchen sei, bei den Philosophen Rat geholt werden könne“. Ausgangspunkt seines philosophischen Denkens waren der Voluntarismus – die Betrachtung des Willens als Grund- und Wurzelfunktion der menschlichen Seele, neben Gefühl und Vorstellung – und der philosophische Idealismus, jene platonische Erkenntnis, daß „die Gemeinschaft früher sei als der einzelne“, das heißt, „daß die geistigen Güter des Lebens als die objektiven, zunächst an die nationale und staatliche Gemeinschaft gebundenen angesehen werden müssen, durch die erst dem Streben und Wirken des Einzelnen seine Lebensaufgabe vorgezeichnet sind“ (Wundt). Diese platonische Maxime, die er im deutschen Idealismus des frühen 19. Jahrhunderts fortgesetzt sah (Fichte, Hegel), wurde zum beherrschenden Leitsatz seines Philosophierens, der sowohl seine „Ethik“ (1923/24; 5. Aufl.) und „Logik“ (1923/24; 5. Aufl.) wie auch seine Völkerpsychologie“ bestimmte. Die Weltanschauung des angelsächsischen Utilitarismus (J. Bentham, J. St. Mill), nach der die Völkergemeinschaft ein aus Vereinbarungen hervorgegangener Verband sei, der lediglich zur Befriedigung des Glücksbedürfnisses des Einzelnen bestimmt sei, kritisierte Wundt unbarmherzig (G. A. Ungerer: „bösartig“): „Keine Weltanschauung ist verkehrter ... als diejenige, die in der Gemeinschaft oder schließlich sogar in der Gesamtheit der lebenden Menschen nichts anderes sieht als die Summe dieser Menschen.“ Demgegenüber formuliert Wundt seine ethischen Normen, die in den Forderungen gipfeln: „Diene der Gemeinschaft, der Du angehörst! Du sollst Dich selbst dahingehen für den Zweck, den Du als Deine ideale Aufgabe erkannt hast!“ 1889 erschien sein philosophisches Hauptwerk „System der Philosophie“ (1919; 4. Aufl.): „Philosophie ist die allgemeine Wissenschaft, die die durch Einzelwissenschaften vermittelten allgemeinen Erkenntnisse zu einem widerspruchslosen System zu vereinigen hat.“ Weitere Grundgedanken des Wundtschen Philosophierens: 1. Die Aktualitätsidee. Die ganze Welt ist Bewegung, Aktualität. Wundt ist entschiedener Gegner sowohl der metaphysischen wie der psychologischen oder religiösen Substanztheorien. „Die Seele ist nichts anderes als das seelische Geschehen selbst“ (Wundt). 2. Der Evolutionismus: der Erkenntnisprozeß ist ständiges Werden, Entwicklung. 3. Das Bewußtsein legt Rechenschaft ab über alle seelischen Vorgänge und ihre Verbindungen, ist aber mehr als dessen bloße Summe.
Man hat Wundt oft mit Leibniz verglichen; wie dieser hat er ein universales System geschaffen, das ein einheitliches Ganzes bildet. Kritik richtete sich gegen die Überbetonung des Gemeinschaftsbegriffs (P. Petersen: Wundt habe sich dem „Kult der Staatsidee“ nicht ganz entziehen können, er habe „den Gedanken der Gemeinschaft noch nicht scharf genug von dem der Gesellschaft gelöst, in der der einzelne die Gemeinschaft im Zeichen des Humanitätsideals der Vollendung näher bringen“ müsse), die Aktualitätslehre (W. Nef: „Im Gebiet der metaphysischen Ontologie ist der Begriff der Substanz als Ergänzung der ewig fließenden und veränderlichen Erscheinungen nicht zu entbehren“) und die Anwendung physikalischer Methoden bei der Interpretation seelischer Vorgänge. Wundts nicht haltbare – und von E. Husserl überwundene – Auffassung, daß die Psychologie Grundlage aller wissenschaftlichen Disziplinen sei, ließ ihn zu einem der Hauptvertreter des sogenannten Psychologismus werden.
„Sollte er selbst das Motiv in den Vordergrund stellen, das für ihn sein Leben lang das wirksamste war, so ist es nicht zu jeder Zeit, aber auf den Höhepunkten dieses Lebens das politische, die Teilnahme an den Interessen von Staat und Gesellschaft gewesen, die den Schreiber dieser Zeilen gefesselt hat“, schrieb der 88jährige Wundt in seinen Erinnerungen. Und dieses politische Motiv wurde am Abend seiner Tage noch einmal übermächtig und drängte ihn zu Äußerungen, die sich wohl aus der zeitgeschichtlichen Konstellation erklären lassen, aber als gewissermaßen testamentarisches Vermächtnis eines der angesehensten Gelehrten der wilhelminischen Epoche ihre verhängnisvolle Wirkung auf die sich gerade formierende Weimarer Republik nicht verfehlten. Man kann noch dafür Verständnis haben, daß der Patriot Wundt im Herbst 1914 eine Erklärung der Hochschullehrer des Deutschen Reiches unterzeichnete, in der die Schuld Deutschlands am Ausbruch des Krieges feierlich zurückgewiesen wurde. Genausowenig wie der sonst kühl-distanzierende Max Weber, der von „diesem großen und wunderbaren Krieg“ sprach, und viele, viele andere konnte sich auch Wundt der Begeisterungswelle jener ersten Kriegsmonate entziehen. War hier nicht jene platonische Maxime vom Staat, der früher als der einzelne ist, einzigartig verwirklicht, war hier nicht beispielhaft die Selbsthingabe für die Gemeinschaft an die Stelle des persönlichen Glücksbedürfnisses des Einzelnen getreten? Aber Wundt war nicht willens, sich die wirklichen Gründe für die Niederlage des Jahres 1918 einzugestehen: der Ausgang des Krieges „ist eine notwendige Folge der Unzulänglichkeit der Regierung, daneben aber nicht zum wenigsten der Umwandlung des Parlamentarismus in einen Kampf der Parteien um die Herrschaft gewesen, und diese Momente zusammen haben zu dem widerstreitenden Ergebnis geführt, daß derjenige Staat seinen Feinden unterlag, der militärisch den Sieg errungen hatte: der deutsche“. Hier sind die die Dolchstoßlegende konstituierenden Elemente vollständig versammelt: das angebliche Versagen der Heimat – der Regierung, der Parteien und des Parlaments – und das Wegschenken des angeblich bereits errungenen militärischen Sieges. Die verheerenden Folgen dieser Legende für die Weimarer Republik und ihren schließlichen Niedergang bedürfen hier keiner näheren Erörterung.
Wundt war nicht bereit, diese Tatsachen anzuerkennen. Der entstehenden Republik stellte er 1920 eine vernichtende Prognose: Die Sozialdemokratie – als wichtigste der den Umsturz von 1918 bewirkenden Parteien – habe „bewiesen, daß auf Grund der Parteiherrschaft ein Staat nicht existieren kann“. Die Revolution, die dieser Not steuern könne, werde nicht in einer fernen Zukunft, nicht“ in Jahrhunderten kommen, sondern dem Ende dieser Not dürfe man um so früher entgegensehen, Je verwirrter und unhaltbarer die Zustände geworden sind, die uns die Gegenwart gebracht hat“. In der Tat, es hat dann nur dreizehn Jahre gedauert, bis diese „Revolution“ ausbrach.
Werke: Vollständige Bibliographie: W. Wundts Werk. Verzeichnis seiner sämtlichen Schriften. Hg. von E. Wundt, 1927.
Nachweis: Bildnachweise: In: Meischner/Eschler, Wundt Wundt u. G. Lamberti (vgl. Lit.).

Literatur: (Auswahl). A. Heussner, Einführung in Wundt Wundts Philosophie u. Psychologie, 1920; W. Nef, Die Philosophie W. Wundts, 1923; P. Petersen, W. Wundt u. seine Zeit, 1925; L. G. Boring, A history of experimental Psychologie, 1950 (2. Aufl.); W. Bringmann/W. Balance, W. Wundts Lehr- und Wanderjahre, in: Psychologie heute, 2. Jg. Heft 12, 1976; G. A. Ungerer, W. Wundt u. Heidelberg, in: BH 1978, 31-43; ders., Heidelberg vor der Reichsgründung 1871. Der Freundeskreis W. Wundts, in: BH 1979, 423-437; W. Meischner/E. Eschler, W. Wundt, 1979; H. Hiebsch, W. Wundt u. d. Anfänge d. experimentellen Psychologie, in: Dt. Zs. f. Philosophie 28 (1980), 480-496; A. Arnold, W. Wundt – Psychologie u. Philosophie im Wettstreit, in: Dt. Zs. f. Philosophie 28 (1980) 496-504; A. Métraux, W. Wundt u. d. Institutionalisierung d. Psychologie, in: Psycholog. Rundschau 31 (1980) 84-98; A. Arnold, W. Wundt, sein philosophisches System, 1980. – Art. W. Wundt in: LThk Bd. 10 Sp. 1266 (Wundt Czapiewski) u. RGG Bd. VI Sp. 1847/48 (K. J. Hartmann); LB 6 u. 11; Georg Lamberti, W. M. Wundt (1832-1920), Leben, Werk u. Persönlichkeit in Bildern u. Texten, Bonn 1995.
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