Behaghel, Otto Wilhelm Maximilian 

Geburtsdatum/-ort: 03.05.1854;  Karlsruhe
Sterbedatum/-ort: 09.10.1936; München
Beruf/Funktion:
  • Germanist
Kurzbiografie: 1872 Abitur am Gymnasium in Karlsruhe, anschließend Militärdienst
1873-1876 Studium der Klassischen und Neueren Philologie (Germanistik und Romanistik) in Heidelberg sowie je ein Semester in Göttingen und Paris
1876 Promotion zum Dr. phil. in Heidelberg bei Karl Bartsch
1877 Staatsexamen in Heidelberg
1877 Dez. Habilitation für Philologie in Heidelberg bei Karl Bartsch
1882 außerordentlicher Professor in Heidelberg
1883 ordentlicher Prof. in Basel
1888 ordentlicher Prof. in Gießen
1895/96 Rektor der Universität Gießen
1897 Geheimer Hofrat
1905/06 Rektor der Universität Gießen
1907 im Jubiläumsjahr erneut Rektor; Kommandeurkreuz II. Klasse des Ordens vom Zähringer Löwen
1918 (Wirklicher) Geheimrat
1924 Dr. jur. h. c. der Universität Gießen
1925 Emeritierung
1932 Ehrenplakette der Stadt Gießen für Verdienste um die Stadt
1933 Verleihung der Goethe-Medaille für Kunst und Wissenschaft
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev.
Verheiratet: 1887 (München) Clara Elisabeth Maria Dorothea, geb. Zöller
Eltern: Vater: Felix (1822-1888), Jurist, Oberkirchenrat, Sohn des J. Georg, Rektor der Lateinschule Elberfeld, später Prof. am Gymnasium Heidelberg, und der Anna Gertrud Susanne, geb. Steinwarz
Mutter: Pauline Luise Nanette, geb. Wielandt, Tochter des Karl Friedrich Wielandt, Militär-, Witwen- und Waisenkassenbeamter in Karlsruhe, und der Sophie Auguste, geb. Kaufmann
Geschwister: Karoline Gertraude Sophie (geb. 1858)
Kinder: 2: Sohn und Tochter
GND-ID: GND/118657917

Biografie: Gerhard W. Baur (Autor)
Aus: Badische Biographien NF 5 (2005), 7-10

Kurz vor seinem Tod hatte Behaghel am 3. Mai 1936, seinem 82. Geburtstag, in der Pyramide, der Wochenendbeilage des Karlsruher Tagblatts, einen Gedenkartikel zur 300-Jahrfeier seines alten Gymnasiums veröffentlicht. In dem erinnerungsreichen Aufsatz erwähnte er mit besonderer Hochachtung seinen Deutsch-, Latein- und Griechischlehrer, den bedeutenden Pädagogen Gustav Wendt, der offensichtlich die philologischen Neigungen seines Schülers erkannt und gefördert hatte. Ähnlich angetan von der begeisternden Persönlichkeit und der beispielgebenden Unterrichtskunst ihres Lehrers und Direktors äußerten sich später die jüngeren Mitschüler Behaghels, W. Hausenstein und W. Andreas.
Nach Abitur und Militärdienst nahm Behaghel sein Studium in Heidelberg mit den Fächern Klassische, Germanische und Romanische Philologie auf, das er dort, unterbrochen durch je ein Semester in Göttingen und Paris, 1876/77 mit der Promotion bei Karl Bartsch und dem anschließenden Philologischen Staatsexamen abschloss. In seinem ersten Semester 1873/74 hatte er von Bartsch gehört, dass Jakob Grimm seine Deutsche Grammatik nicht habe zu Ende führen können; weil die Syntax noch fehlte, nahm Behaghel sich, wie er später schrieb, „in meines Herzens Unschuld“ vor, diese dereinst zu vollenden. Das gelang ihm zwar nicht ganz, aber schon seine Doktorschrift galt einer syntaktischen Frage, den „Modi im Heliand“, und die Habilitationsschrift über die Zeitenfolge im Altdeutschen, welche in bisher ganz neuer Vorgehensweise die deutschen Mundarten für syntaktische Fragen mit einbezog, erweiterte die Kenntnis vom Satzbau des Deutschen, des Germanischen und Vorgermanischen. In den nachfolgenden 50 Jahren erarbeitete Behaghel in ungezählten Untersuchungen (z. B. der Heliand-Syntax, den Aufsätzen über die Herstellung der syntaktischen Ruhelage, über das „Gesetz der wachsenden Glieder“, das Pronomen „welcher“, die Negation, den Artikelgebrauch, die Wortstellung u. v. a.) die Grundlagen für seine „Deutsche Syntax“, sein Lebenswerk in vier Bänden mit 2 404 Seiten, das von 1923 bis 1932 erschien.
Wie auch bei der Erforschung der Syntax erkannte Behaghel im zweiten wichtigen Gebiet seiner Forschungstätigkeit, der deutschen Sprachgeschichte, von Anfang an die Bedeutung der lebenden Sprache, der Mundarten, für die Aufhellung der geschichtlichen Verhältnisse. Ihm ist darüber hinaus die Erkenntnis für den grundlegenden Unterschied und die notwendige Unterscheidung zwischen gesprochenem und geschriebenem Deutsch zu verdanken. Die „Geschichte der deutschen Sprache“ erschien zuerst 1891 im Rahmen von Hermann Pauls „Grundriß der Germanischen Philologie“; Behaghel erweiterte sie dann bis zur 5. Auflage von 1928 zu einem selbständigen Buch von über 600 Seiten. Auch hier waren die Mundarten, ihre Verschiedenartigkeit und Entwicklungsgeschichte, in die Untersuchungen miteinbezogen. Niemand sonst hätte damals das ganze Gebiet, die schriftsprachlichen Zeugnisse und die Ergebnisse der Mundartforschung, so souverän überblicken können wie er. Eine dritte Seite seiner wissenschaftlichen Tätigkeit war die eigentlich philologische, die Herausgabe altdeutscher Texte, die bald nach seiner Promotion und Habilitation in den Jahren nach 1877 einsetzte und 1882, dem Jahr seiner Ernennung zum außerordentlichen Prof. in Heidelberg, zur Edition des Aeneasromans des Niederländers Heinrich von Veldeke führte, dem Versuch einer Rückübersetzung des mittelhochdeutsch überlieferten Textes in die vermutete limburgische Heimatmundart des Verfassers. Im gleichen Jahr erschien außerdem der „Heliand“, dem er ab der 2. Auflage 1902 die ebenfalls altsächsische „Genesis“ zugesellte. Als Behaghel 1883 als ordentlicher Professor an die Universität Basel berufen worden war, brachte er noch im selben Jahr zunächst eine Ausgabe von Briefen J. P. Hebels heraus, der er kurz darauf eine lange Zeit maßgeblich gebliebene zweibändige Edition von Hebels Werken folgen ließ.
Zu seiner Herausgebertätigkeit zählt noch weiteres: 1880 gründete er mit seinem romanistischen Kollegen und Freund Fritz Neumann das „Literaturblatt für germanische und romanische Philologie“, dessen germanistischen Teil er 57 Jahre lang leitete und mit einer Vielzahl eigener Rezensionen versorgte. Außerdem übernahm er 1888 von K. Bartsch die Zeitschrift „Germania“ bis zu ihrem Eingehen fünf Jahre später. Von 1924-1933 war Behaghel zusammen mit seinem Nachfolger Alfred Götze Herausgeber der „Gießener Beiträge“, der heutigen „Beiträge zur Deutschen Philologie“. Behaghel war überdies ein organisatorisch hochbegabter und, besonders seit seiner Berufung nach Gießen, 1888, vielfältig tätiger Promotor. So war er Mitbegründer der Gießener Hochschulgesellschaft, leitete lange Jahre den Oberhessischen Geschichtsverein, aus dem dann, vor allem durch ihn veranlasst, die Hessische Vereinigung für Volkskunde hervorging. Deren Fragebogen für die volkskundlichen Bestandsaufnahmen in Hessen war von ihm aufgestellt, die ersten Auswertungen waren von ihm gelenkt. Er gehörte der Historischen Kommission für Hessen an, leitete deren Ausschüsse für das von seinem Schüler Friedrich Maurer gegründete Südhessische Wörterbuch und das (geplante) Hessische Ortsnamenbuch, gehörte dem Gesamtvorstand des Römisch-Germanischen Zentralmuseums an, war Mitglied in der Deutschen Akademie München und deren Sektion für deutsche Sprache, Literatur und Volkskunde, war korrespondierendes Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und der Gesellschaft der Wissenschaften (nachmals: Akademie der Wissenschaften) in Göttingen. Und schließlich gehörte er auch dem Gesamtvorstand des Deutschen Sprachvereins an, der von vielen Germanisten nicht beachtet oder gemieden wurde. Behaghel war einer der wenigen namhaften Germanisten, welche nicht nur in vielen Vorträgen für Ziele des Sprachvereins geworben, sondern diese Ziele auch mitbestimmt und vor schulmeisternden Übertreibungen bewahrt haben. Dafür verlieh ihm der Sprachverein seinen goldenen Ehrenring. Die Universität Gießen wählte dieses aktive und angesehene Mitglied bereits sieben Jahre nach seinem Kommen zum Rektor, danach ein zweites Mal 1905/06, um das Universitätsjubiläum vorzubereiten, und, als der vorgesehene Jubelrektor ausfiel, ganz selbstverständlich zum dritten Mal ihn als die hervorragende Persönlichkeit, welche dann geistreich, originell und abwechslungsreich Grußreden und -adressen zu beantworten wusste. Behaghel muss in der Gießener Universität und darüber hinaus rasch nicht nur als anerkannter Forscher, sondern auch als anziehender, begeisternder Lehrer und als menschlicher, überzeugender Gelehrter bekannt geworden sein. Seine Schüler F. Maurer und Adolf Bach haben plastisch geschildert, wie Behaghels mäeutische Meisterschaft, nämlich seine geschickte Art seiner Fragestellung, seine Studenten in Seminaren oft zum Hervorbringen bestmöglicher Endformen ihrer Arbeit gebracht hat. Ein von ihm oft gebrauchter und mehrfach überlieferter Ausspruch lautete: „Mein alter Lehrer Ribbeck pflegte zu sagen: Observation ist die Seele der Philologie“; dies war auch Richtschnur seiner eigenen Arbeit. Zum genauen und kritischen Beobachten der untersuchten Phänomene gehörte für Behaghel gleichermaßen das mutige Eintreten für das als richtig Erkannte wie auch das unbestechliche Infragestellen von „sprachlichem Unfug“, verübt durch „Außenseiter“, nicht wissenschaftlich arbeitende und ideologisch verblendete „Pfuscher“. Das zeigte er z. B. 1934 in einem von ihm als „Philippika“ überschriebenen Aufsatz, in dem er u. a. feststellte, „dass das, was jetzt über germanisch ‚od, odal‘ als Sippengut behauptet wird, eitel Hirngespinst ist“. Der Aufsatz trug ihm heftige Angriffe im „Völkischen Beobachter“ und durch den hauptsächlich Angegriffenen, den Reichslandwirtschaftsminister R. W. Darré in der Deutschen Zeitung Berlin ein (siehe Literatur Olt/Ramge, 194 f.) ein. Er beantwortete sie auf seine Art durch die materialreiche Abhandlung „Odal“, in der er nach kritischer Sichtung der west- und nordgermanischen Belege aufwies, dass beide lediglich in der Bedeutung ‚Heimat‘ eine Gemeinsamkeit zeigten. Aus einer ähnlich kritischen und vernichtenden Rezension des Jahres 1936 unter dem Titel „Rasse, Sprache, Fremdwort“ zitiert H. Engels Behaghel „In der Tat entbehren Gadings Ausführungen über das Verhältnis von Rasse und Sprache in weitgehendem Maße der zwingenden Beweise. Zum Teil sind sie geradezu falsch“ (95 f.).
„Behaghels persönliche Eigenschaften“, schreibt sein Schüler und langjähriger Mitarbeiter F. Maurer, „spiegeln sich in seinem wissenschaftlichen Werk: die Weite des Gesichtsfelds und die Aufgeschlossenheit für alles Neue, die Schärfe des Verstands und die Gründlichkeit der Durchführung, die Lebendigkeit der Anschauung und der Nachdruck, mit dem das als richtig Erkannte gesagt und herausgestellt wird; vor allem der nie ermüdende, immer weiter treibende Drang zu arbeiten, zu forschen und zu erkennen“. Allen Berichten zufolge war Behaghel ein geselliger und musischer Mensch, sei es bei den von ihm geführten Samstagwanderungen des ob seines hohen Lauftempos so genannten „Renn-Clubs“ oder bei den Vorträgen des von ihm gegründeten „Sonderbundes“, einer Zusammenkunft von Lehrenden aller Fakultäten, sei es bei den auch für Studierende offenen Abenden, an denen im Hause Behaghel musiziert und gesungen, getanzt und Theater gespielt wurde.
Quellen: GLA Karlsruhe 235/1778; UB Gießen Nachlass, dazu: Wolfgang Georg Bayerer, Findbuch zum Nachlass O. Behaghel, 1933.
Werke: umfassende Bibliographien: C. Karstien, Verzeichnis d. Schriften 1876-1923, in: Beiträge zur germanischen Sprachwissenschaft, FS für O. Behaghel, hg. v. W. Horn, 1-34; F. Stroh, O. Behaghels Schriften. Bücher, Abhandlungen, Aufsätze, Vorträge u. Besprechungen 1924-1933, in: Germanische Philologie. Ergebnisse u. Aufgaben. FS für O. Behaghel, hg. v. A. Götze u. a., 1934, 531-541. – Auswahl: Die Modi im Heliand. Ein Versuch auf dem Gebiete der Syntax, (Diss. phil. Heidelberg) 1876; Die Zeitfolge d. abhängigen Rede im Deutschen, 1878; Heliand (Ausg.), 1882; Heinrichs von Veldeke Eneide (Ausg.), 1882, Nachdr. 1970; Briefe von Johann Peter Hebel, 1883; Hebels Werke (Ausg.). 1. Teil Allemannische Gedichte, 2. Teil Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes, 1883, Nachdr. 1974; Die dt. Sprache, 1886, 1968 14. Aufl.; Geschichte d. Dt. Sprache, in: H. Paul, Grundriß d. german. Philologie I, 1, 1891, 526-633, 5. verb. u. stark erw. (selbst.) Aufl. 1928; Die Syntax des Heliand, 1897, Neudr. 1966; Der Gebrauch d. Zeitformen im konjunktivischen Nebensatz des Deutschen. Mit Bemerkungen zur latein. Zeitfolge u. zur griech. Modusverschiebung, 1899; Heliand u. Genesis (Ausg.), 1902, ab 1958 7. Aufl. bearb. v. W. Mitzka, ab 1984 9. Aufl. bearb. v. B. Taeger, 1996 10. Aufl.; Bewußtes u. Unbewußtes im dichterischen Schaffen. Rectoratsrede, 1907; Deutsche Syntax, 4 Bde., 1923-1932, Nachdr. v. Bd. 2, 1989; Deutsche Satzlehre, 1926; Von dt. Sprache, 1927, Nachdr. 1979; Odal, Sitzungsberichte d. Bayer. Akad. d. Wiss., Philosoph.-histor. Abt., Jg. 1935, H. 8, 23 S.
Nachweis: Bildnachweise: Ölgemälde von C. Bantzer, im Besitz der Univ. Gießen, Reprod. hiernach in German. Philologie (vgl. Werke) und Heinz Engels (vgl. Lit.) 33; Mein Heimatland 25, 1938, 319; Büste von Carl Bourcade in d. UB Gießen.

Literatur: Eduard Hoffmann-Krayer, O. Behaghel zum Gruß!, in: German.-romanische Monatsschrift 12, 1924, 65-67; Friedrich Maurer, Dt. Syntax. Zur Vollendung von O. Behaghels Lebenswerk, in: German.-romanische Monatsschr. 20, 1932, 466-470; Wilhelm Horn, O. Behaghel, in: Geistige Arbeit 1934, Nr. 8, 12; Alfred Götze, O. Behaghel †, in: Forschungen u. Fortschritte 12, 1936, 32, 414 f.; Carl v. Kraus, O. Behaghel, in: Jb. d. Bayer. Akad. d. Wiss. 1936/37, 23 f.; Friedrich Maurer, O. Behaghel geb. 3. Mai 1854 gest. 9. Oktober 1936, in: Hess. Blätter für Volkskunde 35, 1936, 114-121; Edwin Roedder, O. Behaghel 3. Mai 1854-9. Oktober 1936. Ein Gedenkblatt, in: Monatshefte für dt. Unterricht 28, 1936, 364-366; Alwin Ruprecht, O. Behaghel †, in: Muttersprache 51, 1936, 445-447; Alfred Götze, O. Behaghel †, in: Nachrichten d. Gießener Hochschulges. 11, 1937, H. 2, 3-9; Kurt Wagner, O. Behaghel †, in: Archiv für vergleichende Phonetik 1, 1937, 57 f.; Friedrich Maurer, O. Behaghel, Altmeister d. german. Philologie, 1854-1936, in: Mein Heimatland 25, 1938, 319-324; Friedrich Maurer, Behaghel, O., in: NDB 1, 1953, 327 f.; Heinrich Schneider, Erinnerung an O. Behaghel, in: The German Quarterly 28, 1955, 1, 50-55; Karl Glöckner, O. Behaghel, in: Mitt. des Oberhess. Geschichtsvereins N. F. 42, 1957, 5-15; Dieter Möhn, O. Behaghel – ein vorbildlicher Lehrer d. Univ. Gießen. Gedanken u. Erinnerungen zu seinem 100. Geburtstag, in: Gießener Hochschulbll. 11, 1964, 18 f.; Heinz Engels, O. Behaghel, in: Gießener Gelehrte in d. 1. Hälfte des 20. Jh.s, hg. v. H. G. Gundel, P. Moraw u. V. Press, 1982, 29-37; Reinhard Olt u. Hans Ramge, „Außenseiter“: O. Behaghel, ein eitel Hirngespinst u. d. Nationalsozialismus, in: Zs. für Literaturwiss. u. Linguistik 53/54, 1984, 194-223; Heinz Engels/Red., Behaghel, O. W. M., in: Internat. Germanistenlexikon 1800-1950, hg. von Ch. König, 119-122.
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