Dibelius, Martin Franz 

Geburtsdatum/-ort: 14.09.1883; Dresden
Sterbedatum/-ort: 11.11.1947;  Heidelberg
Beruf/Funktion:
  • Neutestamentler, Rektor der Universität Heidelberg
Kurzbiografie: 1901 Abitur am Dresdner Kreuzgymnasium, Jugendbewegung
1901-1905 Studium der Theologie, Philosophie, Mathematik und Naturwissenschaften in Neuchâtel, Leipzig, Tübingen, Berlin, Mitglied im antisemitischen Verein Deutscher Studenten, aus dem er später wieder austrat
1905 Anhänger Friedrich Naumanns
1905 Dr. phil. in Tübingen bei Seybold (semitische Philologie): „Die Lade Jahwes. Eine religionsgeschichtliche Untersuchung“ (Göttingen 1906)
1905-1914 Gymnasiallehrer in Berlin und Charlottenburg, daneben 1908 Lizentiaten-Promotion Berlin: „Die Geisterwelt im Glauben des Paulus“ (Göttingen 1909), 1910 Habilitation in Berlin bei Adolf Deißmann: „Die urchristliche Überlieferung von Johannes dem Täufer“ (Göttingen 1911)
1914 Ruf nach Heidelberg als Nachfolger von Johannes Weiß
1915/1916 Kriegsdienst als Landsturmmann in der russischen Etappe
1918 Eintritt in die neugegründete Deutsche Demokratische Partei (DDP), in der Revolutionszeit mehrere Reden auf DDP-Versammlungen in Heidelberg
1921 Kandidatur für den badischen Landtag (auf einem aussichtslosen Listenplatz)
1923 Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften
1925 Als einer der wenigen Protestanten setzt sich Dibelius gegen Hindenburg für den dem Zentrum angehörenden Präsidentschaftskandidaten Wilhelm Marx ein: „Wir wollen einen Mann als Reichspräsidenten, der die Republik vertritt und nicht dank seiner Einstellung sie zertreten muß“
1927 Oktober- September 1928 und – nach dem Tode seines Nachfolgers – 17.6.-30.9.1929 Rektor der Universität Heidelberg
1928 und 1929 Ablehnung von Berufungen nach Hamburg bzw. Bonn
1934 Unterzeichner der Protestresolution gegen Reichsbischof Müller
1937 Untersagung dienstlicher Auslandsreisen durch das Reichserziehungsministerium, 1938 Entzug des Reisepasses
1940 Ablehnung eines Rufes nach Chicago
1945 Mitglied des „Dreizehner-Ausschusses“ zur Wiederöffnung der Universität Heidelberg,
später des Engeren Senats
1947 Ablehnung eines Rufes nach Berlin
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev.
Verheiratet: 1908 (Berlin) Dorothea Colma (1883-1960), Tochter des Oberlandesgerichtsrates Karl Wittich und der Margarethe Palitzsch
Eltern: Vater: Franz Wilhelm Dibelius, Privatdozent für Kirchengeschichte, Pfarrer, Superintendent, Oberhofprediger in Dresden (1847-1924)
Mutter: Martha Concordia (1853-1887), Tochter des Dresdner Oberkonsistorialrates und Präsidenten des Gustav-Adolf-Vereins Ewald Hoffmann
Stiefmutter: Elsbeth (gest. 1901), Tochter des Generalmajors Bruno J. O. Köhler
Geschwister: keine
Kinder: 3 Söhne
2 Töchter
GND-ID: GND/118671820

Biografie: Christian Jansen/Jörg Thierfelder (Autor)
Aus: Badische Biographien NF 4 (1996), 52-55

Der aus einer alten pommerschen Theologenfamilie stammende Dibelius war nicht in einem liberalen, modernisierungsfreudigen Milieu groß geworden. Die politische Haltung seines Vaters charakterisierte er als „Beamtenkonservativismus“. Jedoch sei im Elternhaus viel über Politik gesprochen worden, so daß ihm „das Miterleben der Zeitgeschichte zur zweiten Natur“ geworden und „persönliche Beteiligung an öffentlichen Dingen immer als Pflicht erschienen“ sei. Außerdem gehörte Dibelius zur ersten Jugendbewegungsgeneration. Seiner protestantisch-konservativen Sozialisation entsprechend sympathisierte Dibelius zunächst mit dem antisemitischen preußischen Hofprediger Stoecker. 1930 hingegen war er der einzige Heidelberger Ordinarius, der einen Aufruf der Liga für Menschenrechte gegen den wachsenden Antisemitismus unterzeichnete – ein Beleg für Dibelius' politische Entwicklung, die krass gegenläufig zum Zeitgeist war.
Als sächsisches Großstadtkind vermochte Dibelius vor den sozialen Problemen der Zeit nicht die Augen zu verschließen, und noch während seines Studiums begann eine politische Linksentwicklung. Nach kurzem Liebäugeln mit der Sozialdemokratie wurde er aus Enttäuschung über den Sieg der marxistischen Orthodoxie auf dem Dresdner Parteitag von 1903 zum Anhänger des „nationalsozialen“ Pfarrers Friedrich Naumann. Wie dieser trat Dibelius 1918 der DDP bei. Für sie engagierte er sich in den meisten Wahlkämpfen der Zwanziger Jahre und kandidierte mehrfach. Dibelius unterschied sich in seiner Konfliktbereitschaft und -fähigkeit von den meisten Mitbürgern und Kollegen, die in der mit einer parlamentarischen Demokratie unvereinbaren sozialharmonischen Vorstellung von einer „Volksgemeinschaft“ verhaftet waren, in der es eigentlich keine Interessengegensätze gebe. Dibelius setzte dagegen auf Pluralismus und die Auseinandersetzung mit Andersdenkenden bei gleichzeitigem Respekt für ihre Grundüberzeugungen. Eine Mischung aus Frömmigkeit und historisch-kritischer Theologie führte Dibelius zu politischen Positionen, die für einen Ordinarius ausgesprochen radikal waren: „Auch das weltflüchtigste Leben ist unter unseren europäischen Verhältnissen nicht denkbar ohne die Voraussetzungen der abendländischen Zivilisation. Darum haben wir auch teil an der ungeheuren Gesamtschuld, mit der diese Zivilisation belastet ist: Ungleichheit, Ungerechtigkeit, Ausbeutung, unverschuldete Verarmung durch Arbeitslosigkeit.“ Im Weltkrieg hatte sich Dibelius zum Pazifisten entwickelt. Er plädierte für „internationale Verständigung aus nationalem Geist heraus“ und warb dafür, die Ergebnisse des Versailler Vertrages zu akzeptieren. Aufgrund der Erfahrung der „Machtlosigkeit der Religion“ im Krieg, als die christlichen Völker erstmals mit den Mitteln des modernen Krieges aufeinander losgingen und „offenbar wurde, daß das Verhältnis der Christen zueinander, gemessen am Evangelium, ein Skandal ist“, engagierte sich Dibelius in der Ökumene gegen die nationalistische und landeskirchliche Enge des Protestantismus.
Während Dibelius' Rektorat fanden in Heidelberg mehrere Tagungen internationaler Organisationen statt, die zum ersten Mal nach dem Krieg in Deutschland tagten und damit honorierten, daß die Ruperto Carola sich relativ wenig gegenüber dem Ausland abgeschottet hatte: Ende Oktober 1927 der „Europäische Kulturkongreß“ der Föderation internationale des unions intellectuelles, die sich der Aussöhnung Europas verschrieben hatte, und wenig später eine Tagung des ökumenischen „Weltbundes für die Freundschaftsarbeit der Kirchen“. Im Mai 1928 bekamen Außenminister Stresemann und US-Botschafter Schurman, der in den USA 500 000 $ für ein neues Hörsaalgebäude gesammelt hatte, einen Ehrendoktor verliehen. Daß eine Universität auf diese Weise ihre Zustimmung zur „Erfüllungspolitik“ des Außenministers zum Ausdruck brachte und zugleich den diplomatischen Vertreter eines Kriegsgegners ehrte, war in der Weimarer Republik einmalig. Die zu diesem Anlaß gehaltenen Reden hoben sich deutlich vom sonst von Hochschullehrern der Weimarer Zeit zur Schau getragenen Kulturpessimismus ab. Die zwei Rektorate Dibelius' waren Höhepunkte einer Phase der Reformfreudigkeit und der Annäherung der Universität an die politische Ordnung der Weimarer Republik, der die Universität den Ruf verdankt, in den Zwanziger Jahren die „akademische Hochburg des neuen Deutschland“ gewesen zu sein. So untersagte Dibelius im Verein mit Kultusminister Leers der Heidelberger Studentenschaft als einziger in Deutschland den Beitritt zum verfassungsfeindlichen Dachverband „Deutsche Studentenschaft“. Anläßlich der Ehrenpromotionen von Stresemann und Schurman forderte er die Studierenden zur Mitarbeit an der Republik auf. Im August 1928 nahm Dibelius als erster Heidelberger Rektor an der städtischen Verfassungsfeier teil. In den wenigen Monaten seiner zweiten Amtszeit führte er einige spektakuläre Neuerungen ein, die Ausdruck weiterer Liberalisierung wie Modernisierung der Institution Universität waren – so die erste Pressekonferenz und wenig später einen Blumengruß und „aufrichtige Genesungswünsche“ im Namen der Universität an den erkrankten sozialdemokratischen Reichskanzler Müller. Zum zehnten Jahrestag des Inkrafttretens der Reichsverfassung ließ Dibelius einen flammenden Appell an die Studenten plakatieren, in dem er die Verfassung als „weittragenden Entschluß“ lobte und zur Einkehr und zum Kampf gegen das deutsche „Erbübel“ der Zwietracht aufforderte. Schließlich hatte Dibelius auch keine Hemmungen, als Rektor im Landtagswahlkampf für die DDP aufzutreten. Damit brach er einmal mehr mit der vorgeblich überparteilichen Rolle der deutschen Universitäten. Seinen zweiten Rechenschaftsbericht beendete Dibelius mit einem Plädoyer für Offenheit der Universität politischen Fragen gegenüber, die aber nicht in „Weltbefangenheit“ und politische Dienstbarkeit ausarten dürfe. Der „schmale Weg“ zwischen Weltfremdheit und Weltbefangenheit könne „nur gesucht und gefunden werden in Freiheit.“ Dies blieb für lange Zeit der letzte Aufruf eines Heidelberger Rektors für die Freiheit.
Die Universität ließ Einmischungen der immer stärkeren nationalsozialistischen Studentenbewegung in ihr Berufungsrecht und die Lehrfreiheit zu. In der theologischen Fakultät kam es zum „Fall Dehn“, in dem 1930/1 einzig Dibelius zu dem einstimmig berufenen früheren religiösen Sozialisten stand, nachdem der deutschnationale Pfarrer (und Kultusminister der Kappregierung) Gottfried Traub diesen diffamiert hatte. Angesichts solcher Erfahrungen und des schier unaufhaltsamen Zulaufs zur NSDAP scheint Dibelius politisch resigniert zu haben. Indiz ist der Rückgang seiner öffentlichen Äußerungen, aber auch das „Frankfurter Gespräch“, an dem 1931 neben Dibelius der religiöse Sozialist Tillich, der Soziologe Mannheim, der Philosoph und Ex-Diplomat Riezler, führende Köpfe der „Frankfurter Schule“ u. a. teilnahmen. Dibelius beschrieb hier treffend, warum im Bürgertum ein negatives, „revisionistisches“ Verhältnis zu den politischen Gegebenheiten überwog: Die bürgerliche Welt sei mit der Zerstörung der kleinkapitalistischen Existenzsicherheit – durch Kriegserlebnis, Revolution und Inflation – ins Wanken gekommen. „Nun sitzen sie da und finden nicht in eine Welthaltung hinein, weil sie vorher keine hatten und verschreiben sich gegenwärtig dem Faschismus. In den Verheißungen des Dritten Reiches liegt ein ungeheures Sicherheitsversprechen, weniger eschatologisch als: Morgen wird ein Verein gegründet, und sie wollen sich voranmelden.“
Dibelius behielt während des Dritten Reichs, auch als er sich in der „Bekennenden Kirche“ betätigte, sein Ordinariat. Ursachen dafür waren sein wissenschaftlicher Ruf und eine gewisse Protektion durch seinen Schüler Odenwald, der Nationalsozialist und seit 1935 Dekan war. Für sein politisches Engagement wurde Dibelius allerdings durch eine besonders hohe Kürzung seiner Bezüge bei der Neufestsetzung der Professorengehälter im Herbst 1933 und 1937 durch ein Reiseverbot „bestraft“. Als 1940 die Heidelberger Juden nach Südfrankreich deportiert wurden, protestierte Dibelius beim Oberbürgermeister. In der Endphase des Krieges trafen sich oppositionelle Studenten bei Dibelius, um „Feindsender“ zu hören und über Politik zu diskutieren. Nach der Befreiung blieb Dibelius nur noch kurze Zeit, um sich der Demokratisierung der Universität zu widmen, die mit ihm – dem wohl einzigen Untadeligen unter den im Dritten Reich an der Universität verbliebenen Professoren – vielleicht etwas konsequenter ausgefallen wäre.
Dibelius' neutestamentliche Arbeiten kreisen vor allem um drei Fragenkomplexe. 1. interessierte ihn die religionsgeschichtliche Stellung des Urchristentums. In seiner philosophischen Dissertation, die der Alttestamentler Hermann Gunkel angeregt hatte, beschrieb Dibelius die Lade Jahwes als von den Kanaanäern übernommenen Kastenthron. In seiner theologischen Dissertation wies er die große Bedeutung des Geisterglaubens für die eschatologischen Grundanschauungen des Paulus nach. Arbeiten über „Die Isisweihe bei Apuleius und verwandte Initiationsriten“ (1917) und den „Hirt des Hermas“ (1923) folgten. Dibelius hielt eine Kenntnis der ins Neue Testament übernommenen Vorstellungen für notwendig, um zu verstehen, was sie in Verbindung mit dem christlichen Glauben Besonderes aussagten. 2. Bahnbrechender waren Dibelius' Arbeiten zur vorliterarischen und literarischen Entwicklung des Christentums. Zur „Programmschrift“ (Kümmel) wurde dabei seine „Formgeschichte des Evangeliums“ (1919), die einerseits vom „Wachstum der kleinen Einheiten, aus denen die Evangelien zusammengesetzt sind,“ und andererseits von den Motiven der Traditionsbildung handelt. Dibelius zufolge bot „die Mission den Anlaß, die Predigt das Mittel zur Verbreitung dessen, was die Schüler Jesu als Erinnerung bewahrten“. In Büchern wie „Geschichte der urchristlichen Literatur“ (1926) und „Die Botschaft von Jesus Christus“ (1935) legte Dibelius seine formengeschichtlichen Forschungsergebnisse vor. In „Jungfrauensohn und Krippenkind“ (1932) ging er den Vorgeschichten des Lukas- und Matthäusevangeliums nach und vertrat die Auffassung, daß die Überlieferung der Weihnachtsgeschichte ursprünglich nichts vom Jungfrauensohn gewußt habe. Die Vorstellung von der jungfräulichen Geburt Jesu sei als theologische Vorstellung entstanden und dann unter Aufnahme jüdisch-hellenistischer Legendenmotive zu einer Erzählung gestaltet worden. 3. fragte Dibelius seit seinem Kommentar zum Jakobusbrief (1921) immer wieder nach dem „typisch urchristlichen Ethos“. In „Geschichtliche und übergeschichtliche Religion im Christentum“ (1925) konstatierte Dibelius, daß „ein Interesse an der Welt, das auf ihren Umbau gerichtet wäre, ... im Evangelium nicht existiert. Wohl aber enthält das evangelische Ethos, das den Menschen, nicht die dem Ende verfallende Welt, verwandeln will, eine Fülle von Motiven, die sich auswirken konnten und auswirken mußten, wenn die Welt stehen blieb.“ Dies exemplifizierte Dibelius auch für Einzelbereiche, etwa 1933 im Rahmen seiner Arbeit in der Ökumene mit einem Beitrag über „Das soziale Motiv im Neuen Testament“.
Werke: Zeit u. Arbeit (Autobiografie), in: Die Religionswiss. d. Gegenwart in Selbstdarstellungen, Bd. 5, Leipzig 1929; Bibliografie, in: Coniectanea Neotestamentica 8, Uppsala 1944; Nachträge in: Theol. Lit.-Ztg. 74 (1949), 131 (Anm. 1), und in: Christian Jansen, Vom Gelehrten zum Beamten. Karriereverläufe u. soziale Lage d. Heidelberger Hochschullehrer 1914-1933. Heidelberg 1992, 129 f.
Nachweis: Bildnachweise: Fotos in UA und Kurpfälzisches Museum Heidelberg.

Literatur: Werner Georg Kümmel, M. Dibelius als Theologe, in: Theol. Lit.-Ztg. 74 (1949), 129-140; ders., M. Dibelius, in: NDB 3 (1957) 633; ders., Dibelius, M. (1883-1947), in: Theolog. Real-Encyklopädie. Bd. VIII. Berlin 1981, 726-729; Christian Jansen, Professoren u. Politik. Polit. Denken u. Handeln d. Heidelberger Hochschullehrer 1914-1935, Göttingen 1992; ders., M. Dibelius u. d. Versuch, die Univ. zu modernisieren, in: Nummer 4 Heidelberger Blätter f. Politik u. Kultur 2/1990; Günter Dehn, Kirche u. Völkerversöhnung, Berlin 1931; Das Frankfurter Gespräch, in: Paul Tillich, Briefwechsel u. Streitschriften (= Ergänzungs- u. Nachlaßbände z. d. Ges. Werken, Bd. VI), Frankfurt 1983; Leonore Siegele-Wenschkewitz, Die Theol. Fakultät im Dritten Reich, in: Semper Apertus. Sechshundert Jahre Ruprecht-Karls-Univ. Heidelberg 1386-1986, Bd. 3, Berlin 1985; Detlef Junker, Jacob Gould Schurman, Die Univ. Heidelberg u. d. dt.-amerik. Beziehungen, in: ebd.; W. Werner, Zum Nachlaß v. M. Dibelius in d. ÜB Heidelberg, in: Ruperto-Carola, 41 (1989) S. 67.
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