Kayser, Hans August 

Geburtsdatum/-ort: 01.04.1891;  Bad Buchau
Sterbedatum/-ort: 14.04.1964; Bolligen bei Bern
Beruf/Funktion:
  • Musiktheoretiker, Philosoph
Kurzbiografie: Volks- und höhere Schule mit Abitur Sigmaringen
1911-1914 Studium an der Musikhochschule Berlin (Kompositionsunterricht bei Engelbert Humperdinck, danach bei Arnold Schönberg
1914-... Studium der Kunstgeschichte (vermutlich in Erlangen)
1917 Promotion bei Prof. H. Preuß, Erlangen, Thema der Dissertation: „Fra Angelico“
1912-1932 Mitarbeiter des Insel-Verlags bei der Edition der Reihe „Der Dom – Bücher deutscher Mystik“
1933 Emigration mit der Familie in die Schweiz, 1949 Schweizer Staatsangehörigkeit, 1953 Bezug eines eigenen Hauses in Bolligen bei Bern
1935 Begegnung mit Paul Hindemith
1956/57 Abhaltung eines Seminars an der Musikakademie Basel, 1959 desgleichen an der Musikakademie Wien
1961 Oberschwäbischer Kunstpreis
Weitere Angaben zur Person: Religion: evangelisch
Verheiratet: 1914 Berlin, Clara, geb. Ruda (1891-1979), aus Berlin
Eltern: Gustav (1855-1912), aus Westpreußen, Hofapotheker in Sigmaringen
Maria, geb. Göbel (1859-1935), aus Biberach
Geschwister: 1 Schwester (früh gestorben)
Kinder: Eva (geb. 1914), verh. Hannes Neuner (geb. 1906), Professor, Maler
Ruth (1916-1994), verh. Giraldi
GND-ID: GND/118721372

Biografie: Clytus Gottwald (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 2 (1999), 254-256

Kayser verbrachte seine Jugend in Sigmaringen. Der Vater, ein angesehener Apotheker, übte auf den Knaben einen in doppelter Hinsicht bestimmenden Einfluß aus. Einmal waren es die botanischen Wanderungen, auf denen er den Vater begleiten durfte, zum anderen das häusliche Musizieren, in das er schon als 10jähriger eingebunden wurde. „Musik und Pflanze“, so rief Kayser später dem Vater nach, „sie schienen Dir die beiden Tore, durch welche das Licht des Göttlichen in unsere Seele strahlt.“ So konnte es nicht ausbleiben, daß sich Kayser entschloß, Musik zu studieren. 1911 nahm er das Studium an der Berliner Musikhochschule auf, wobei er nicht nur Violoncello-, sondern auch Kompositionsunterricht erhielt – letzteren bei Engelbert Humperdinck. Doch Humperdincks spätromantisch-volkstümliche Musikauffassung verlor offenbar schon nach kurzer Zeit für den jungen Komponisten ihre Attraktivität; denn 1912 wechselte er zu Arnold Schönberg. Schon die erste Stunde bei Schönberg verlief ernüchternd. 1932 schrieb Kayser anläßlich der Übersendung seines Buches „Der hörende Mensch“ an Schönberg: „... fand jedoch innerhalb einer Stunde alle Illusionen zerstört ... Ich lief von Ihnen weg; nach einem Jahr kam mir jedoch die Besinnung, und, als Sie mich reumütigen Sünder wieder aufzunehmen versprachen, der Weltkrieg.“ Vielleicht hat der Kontakt mit Schönberg Kayser bewogen, der Musik als Beruf Valet zu sagen und Kunstgeschichte zu studieren. 1917 promovierte er bei Hans Preuß in Erlangen mit einer Arbeit über Fra Angelico.
Nach verschiedenen Tätigkeiten gelang es ihm, den Insel-Verlag für eine Mystiker-Edition zu gewinnen, „Der Dom – Bücher deutscher Mystik“. Von 1919 bis 1927 erschienen insgesamt 13 Bände, deren zwei, jene über Böhme und Paracelsus, Kayser selbst edierte. Der Kepler-Band dieser Reihe war es, der ihm die pythagoräisch-harmonikale Tradition des Abendlandes erschloß. Das anschließende Studium von Albert von Thimus’ Werk „Die harmonikale Symbolik des Alterthums“ (1868-1876) bestärkte ihn in der Auffassung, daß es sich dabei keineswegs nur um ein isoliertes musikalisches Phänomen handelte, sondern daß zumal in einer aus den Fugen geratenen, ziellos dahintrudelnden Welt das harmonikale Denken Ordnung, Sinn und Vertrauen zu stiften vermochte. Es liegt nahe, daß er das von Schönberg erfundene Prinzip der Komposition mit 12 aufeinander bezogenen Tönen unter dem Blickwinkel des ordo sah, wie anders hätte er Schönberg schreiben können, er, Schönberg, trage „nicht die wenigste Schuld“ an diesem Buch („Der hörende Mensch“). Diesem Buch kommt übrigens auch unter anderen Gesichtspunkten entscheidende Bedeutung zu: Einmal mußte Kayser auf die Entdeckung des Planeten Pluto und zweitens auf die Formulierung der Heisenbergschen Unschärferelation (1927) reagieren. Kaysers Angriffe gegen die „alles haptifizierende moderne Wissenschaft“ lassen den Schluß zu, daß er es im Blick auf Heisenberg eher mit Einsteins Anathema hielt: „Gott würfelt nicht!“
1933 gab ihm eine Einladung von Schweizer Freunden die Möglichkeit, Hitler-Deutschland zu verlassen. Es war in erster Linie Gustav Fueter, Inhaber eines Berner Konfektionsgeschäftes, der sich in aufopfernder Weise Kaysers und seiner Familie annahm. Fueter, Kaysers „erster Schüler in harmonicis“, machte die Harmonik zu seiner Sache und unterstützte ihn durch das Zeichnen der Diagramme und Tabellen seiner Publikationen aufs nachhaltigste. Er sorgte auch dafür, daß die Kaysers 1953 von Ostermundigen nach Bolligen bei Bern in ein eigenes Haus umziehen konnten. In die ersten Schweizer Jahre fällt auch der Kontakt mit Paul Hindemith, den Kayser für seinen Plan zu gewinnen suchte, ein Institut zu gründen, in dem „die älteste und die modernste Musik gelehrt würden“. Hindemith war interessiert, und so traf man sich am 5. Februar 1935 in Olten. Doch das Treffen führte nicht zu den erhofften Ergebnissen. „Hindemith“, so schrieb Kayser, „ist ein ganz und gar unmetaphysischer Mensch, sichtlich ohne besondere Interessen an geistig spekulativen Dingen.“ Dennoch bat Hindemith Kayser darum, ihm einen „harmonikalen Unterricht für Musiker“ zuteil werden zu lassen. Diese „Unterrichtsbriefe“ sind dann teilweise in Hindemiths Buch „Unterweisung im Tonsatz“ (1937) eingeflossen, ohne daß der Verfasser Kaysers an irgendeiner Stelle gedacht hätte. Nicht von der Hand zu weisen ist die Vermutung, das Treffen mit Kayser habe Hindemith motiviert, das Projekt einer Kepler-Oper wieder aufzugreifen. Die Symphonie „Die Harmonie der Welt“ erschien 1951, die gleichnamige Oper 1957. In seinem Buch „Komponist in seiner Welt“ (Zürich 1959) hat Hindemith sein Abrücken von den Kayserschen Ideen nochmals begründet. Die Komposition mit reinen Intervallen sei wegen des syntonischen und des pythagoräischen Kommas so eingeschränkt, daß er sich notwendigerweise für das temperierte System entschieden habe. Übrigens ist die Tradition, Harmonikales musikalisch zu thematisieren, seitdem nicht abgerissen. Ausgehend von Werken wie Andreas Rombergs „Die Harmonie der Sphären“ op. 45 (um 1810), findet sie sich in unseren Tagen fortgesetzt durch Werke wie das Oratorium „Star-child“ (1977) des amerikanischen Komponisten George Crumb.
Kaysers Produktion ergriff in der Folge immer weiter von der Musik entfernt liegende Bereiche, deren harmonikale Strukturierung die Allgemeingültigkeit seiner Theorie belegen sollte, die Kristallographie, die Botanik, die Architektur, die Religion usw. Im Winter 1956/57 hielt er an der Basler Musikakademie ein Seminar über Harmonik ab, desgleichen 1959 an der Musikakademie Wien. Eine herbe Enttäuschung bereitete ihm das Erscheinen von Hermann Hesses Roman „Das Glasperlenspiel“ (1943), in dem er manche seiner Ideen wiedererkennen mußte, ohne daß Hesse ihn als Quelle genannt hätte. Dabei übersah er, daß Hesse, wie die jüngere Forschung annimmt, ihm in der Figur des Lusor Basiliensis ein literarisches Denkmal gesetzt hatte. In Rudolf Haase fand Kayser seinen Biographen, in Julius Schwabe seinen treuen Verleger. Als Haase 1965 den Auftrag erhielt, an der Wiener Musikakademie ein Institut für harmonikale Grundlagenforschung einzurichten, wurden die umfangreichen Nachlässe Kaysers und Fueters dorthin transferiert (siehe Literatur). 1961, an seinem 70. Geburtstag, erhielt Kayser den Oberschwäbischen Kunstpreis.
Quellen: Nachlaß im Institut für harmonikale Grundlagenforschung der Musikakademie Wien; Archiv der Einwohnergemeinde Bolligen bei Bern
Werke: Orpheus. 1926; Der hörende Mensch. 1932; Vom Klang der Welt. 1937; Abhandlungen zur Ektypik harmonikaler Wertformen. 1938; Grundriß eines Systems der harmonikalen Wertformen. 1938; Harmonia Plantarium. 1943; Akroasis. 1946, 2. Aufl. 1964; Ein harmonikaler Teilungskanon. 1946; Die Form der Geige. 1947; Lehrbuch der Harmonik. 1950; Bevor die Engel sangen. 1953; Paestum. 1958; Die Harmonie der Welt. 1968; Orphikon. 1973; Aufsätze aus dem Nachlaß. 1975
Nachweis: Bildnachweise: Büsten von M. Fueter (Bern, Kunstmuseum); H. Neuner (Museum Buchau und Wien, Hans Kayser-Institut); Portrait von Max Huber (Privatbesitz); Grabstein von Marcel Perincioli auf dem Friedhof in Bolligen und – unter Verwendung des gleichen Motivs – Gedenktafel am Geburtshaus Hofgartenstraße 9, Bad Buchau

Literatur: Rudolf Haase, Kaysers Harmonik in der Literatur der Jahre 1950-1964. 1967; ders., Hans Kayser. Ein Leben für die Harmonik der Welt. 1968; ders., Grundlagen der harmonikalen Symbolik. 1966; ders., Geschichte des harmonikalen Pythagoreismus. 1969; ders., Paul Hindemiths harmonikale Quellen. Sein Briefwechsel mit Hans Kayser. 1973; Ursula Haase, Der Briefwechsel Hans Kaysers. 1973. Walther Frick, Dr. Hans Kayser zum 60. Geburtstag. Schwäbische Zeitung 1951 Nr. 50; ders., Wer war Hans Kayser? Leben und Werk eines Mannes aus Sigmaringen. Hohenzollerische Heimat 21 (1971) 89-90; Erno Seifriz, Hans Kayser, der Musikdenker. Oberschwaben 2. Aufl. 1972, 297-298; Arnold Schönberg 1874-1951. Lebensgeschichte in Begegnungen. Hg. von Nuria Nono-Schoenberg. 1992, 286 (mit Facsimile); Dieter Hülle, Akroasis oder vom Klang der Welt. Ova minima. Festschrift für Prof. Dr. Hansmartin Decker-Hauff. Tübingen 1967, 366-387; G. W. Field, On the Genesis of the Glasperlenspiel. The German Quarterly 41 (1968) 673-688; Gerhard Renner, Die Nachlässe in den Bibliotheken und Museen der Republik Österreich. Bd. 1. 1993, 194; MGG; NDB 11 (1977)
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