Schnabel, Franz 

Geburtsdatum/-ort: 18.12.1887;  Mannheim
Sterbedatum/-ort: 25.02.1966;  München
Beruf/Funktion:
  • Historiker
Kurzbiografie: 1906 Abitur humanistisches Gymnasium in Mannheim Studium an den Universitäten Berlin und Heidelberg
1910 Dr. phil. Universität Heidelberg
1914-1915 Hilfsarbeiter bei der Badischen Historischen Kommission
1915-1918 Kriegsdienst, zuerst Infanterie, ab 1916 beim Generalkommando des XIV. Reservekorps
1921 Habilitation an der Technischen Hochschule Karlsruhe
1922 ordentlicher Prof. ebendort
1924-1927 neben der Professur „Führung der Direktions-Geschäfte“ des Generallandesarchivs Karlsruhe
1936 Zwangspensionierung durch das NS-Regime
1945-1947 Landesdirektor für Kultus und Unterricht im Landesbezirk Baden von Württemberg-Baden
1947-1962 ordentlicher Prof. Universität München
1951-1959 Präsident der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften
1954 Ehrenbürger der Stadt Mannheim
Weitere Angaben zur Person: Religion: rk.
Verheiratet: Unverheiratet
Eltern: Vater: Carl Schnabel, Kaufmann
Mutter: Maria, geb. Guillemin
GND-ID: GND/118758578

Biografie: Lothar Gall (Autor)
Aus: Badische Biographien NF 2 (1987), 244-247

Die Mobilität der modernen Welt läßt, zumal im Bereich des geistigen Lebens, die Bedeutung der regionalen und lokalen Verankerung des einzelnen zunehmend zurücktreten und die Frage der Herkunft in dieser Beziehung zu etwas eher Äußerlichem werden. Für den Historiker Schnabel, der vor allem durch seine vierbändige Darstellung der deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts über seine badische Heimat und über Deutschland hinaus zu internationalem Ansehen gelangt ist, gilt dies nicht. Der in Mannheim Geborene hat sich zeit seines Lebens – er starb als Emeritus der Universität München – als Mannheimer und Badener gefühlt, als Person wie auch als Gelehrter, als ein Mann, der von der kurpfälzischen und von der badischen Geschichte ausgegangen war und von der Beschäftigung mit ihr sehr wesentliche Impulse für sein ganzes Lebenswerk erhalten hatte. Als ihm im Jahre 1954 die Stadt Mannheim die Ehrenbürgerwürde verlieh, hat er diese Ehrung nicht nur höher gestellt als die vielen anderen, die er schon erhalten hatte und noch erhielt, er sah sich auch noch einmal in dem bestätigt, was er zeit seines Lebens erstrebt hatte: Bürger zu sein in einem lebendigen und zugleich von historischem Bewußtsein erfüllten und getragenen Gemeinwesen.
Als ein solches Gemeinwesen hatte der Sohn einer Kaufmannsfamilie Mannheim in seiner Jugend, um die Jahrhundertwende, erlebt, und er hat das daraus abgeleitete Bild herausgenommen in Studium und Beruf, daraus seine speziellen Zielsetzungen abgeleitet. Zum Geschichtsstudium schon in der Schulzeit entschlossen, erstrebte er von vornherein neben einer wissenschaftlichen eine praktische, dem, wie er es gern formulierte, „Leben unmittelbar dienende“ Tätigkeit eine Verbindung, wie sie sich ihm in idealer Form im Beruf des Gymnasiallehrers zu bieten schien. So hat er nach Examen und Promotion im nahen Heidelberg mit Unterbrechung durch Kriegsdienst und kurzzeitige Archivtätigkeit zunächst mehr als zehn Jahre als Schulmann gewirkt, zunächst 1911 in seiner Vaterstadt Mannheim, dann 1919/20 in Karlsruhe, und er ist stets, bis in seine Münchener Jahre, nun auf dem Katheder vor bis zu zweitausend Hörern, ein ebenso begeisterter wie begeisternder Lehrer geblieben. In die akademische Laufbahn ist er eher zufällig gelangt: Ganz ohne sein Zutun erging zu Beginn der zwanziger Jahre an den so erfolgreichen Schulmann, der auch bereits mit vielen öffentlichen Vorträgen hervorgetreten war, die Aufforderung der Technischen Hochschule Karlsruhe, sich dort zu habilitieren, und zwar verbunden mit der Ankündigung, es bestehe die Absicht, ihn nach erfolgreicher Habilitation auf den in Kürze freiwerdenden Lehrstuhl der Hochschule zu berufen. Ausschlaggebend war dafür neben dem öffentlichen Lehrerfolg und der Heidelberger Dissertation von 1910 von Hermann Oncken, die dem „Zusammenschluß des politischen Katholizismus in Deutschland im Jahre 1848“ gegolten hatte und im Fach sehr günstig aufgenommen worden war, eine Reihe von Studien zur badischen Landesgeschichte, die das außerordentliche Talent des Autors bezeugt hatten, quellennahe Anschaulichkeit mit weiten Perspektiven und übergreifenden Fragestellungen zu verbinden.
Nach der Habilitation – über die Geschichte der Ministerverantwortlichkeit in Baden – und der Ernennung zum Professor im Jahre 1922 machte Schnabel sich auf Anregung des Freiburger Herder-Verlages schon bald an die Ausarbeitung einer „Deutschen Geschichte im 19. Jahrhundert“, die zu seinem Lebenswerk werden sollte. Den Anstoß für den Verlag und seinen damaligen Leiter Hermann Herder, den jungen und zu diesem Zeitpunkt noch relativ unbekannten Professor mit der Aufgabe zu betrauen, an die sich seit Heinrich von Treitschke, also seit fast fünfzig Jahren, niemand mehr gewagt hatte, bildete ein konzentrierter „Grundriß“ der Geschichte der neuesten Zeit, den Schnabel 1923 zunächst als Schulbuch, dann auch als selbständige Schrift hatte erscheinen lassen. Sogleich in mehreren Auflagen verbreitet, bot er eine in Form und Substanz hochmoderne Verbindung von Problem- und Ereignisgeschichte, die das 19. Jahrhundert in das Licht der Gegenwartserfahrungen, des Weltkriegs, des Zusammenbruchs des Kaiserreichs und der Errichtung der Weimarer Republik, rückte und sehr bewußt der historischen Neuorientierung auch im Sinne des republikanischen und demokratischen Gedankens zu dienen bestrebt war. Von dieser Grundlage aus, so die Überlegung des Verlages, werde der Autor die neue Aufgabe sicher rasch in einem, höchstens in zwei Bänden bewältigen.
Schnabel setzte freilich von Anfang an ungleich tiefer und breiter an. Er betrieb umfangreiche, auf das gedruckte Material konzentrierte Quellenstudien und bezog mit der Geschichte der Wissenschaften und der Technik, der Kunst und der Literatur, der religiösen Strömungen und der verschiedenen Ausprägungen des nationalen Gedankens und der nationalen Bewegung von Anfang an Bereiche mit ein, die in den meisten der bisher üblichen Epochendarstellungen wenn überhaupt so nur am Rande eine Rolle spielten. Hinzu kam, daß er in dem 1929 erschienenen Band weit in die Vergangenheit zurückgriff, um zunächst die Fundamente der deutschen und europäischen Geschichte freizulegen und anschaulich zu machen. So sprengte das Ganze schon vom Ansatz her sehr bald das ursprünglich gesetzte Maß, wurde zu einem breiten Panorama der modernen Welt schlechthin.
Den Untergrund bildete zunächst eine zwar nie unkritische, aber im Kern optimistische Grundhaltung sowohl in wissenschaftlicher als auch in politischer Hinsicht: der liberale Gedanke, die bürgerliche Kultur in Geistes- und Lebenswelt, sie würden nun auch in Mitteleuropa, nach mancherlei Umwegen, zum Siege gelangen. In diesem Sinne reklamierte Schnabel die Klassik und den Neuhumanismus sowie die Reformen des Kreises um den Freiherrn vom Stein – dem er 1931 eine eigene, vielgelesene Monographie widmete – im ersten Band seiner „Deutschen Geschichte“ entschlossen für die moderne Welt, für Liberalismus und Demokratie und konkret für die Republik von Weimar – und wurde dafür sogleich von seinen konservativeren Fachgenossen heftig angegriffen. Dann freilich zerbrach dieser Optimismus schon bald an den Zeitereignissen. In dem 1933 erschienenen zweiten Band, der unter dem Titel „Monarchie und Volkssouveränität“ den Auseinandersetzungen zwischen konservativen und liberalen Kräften nach 1815 und ihren Positionen gewidmet war, hieß es zwar im Vorwort noch hoffnungsvoll: „Die echten Werte der Vergangenheit können vorübergehend verdunkelt, niemals vernichtet werden“. Aber seine vorzeitige Zurruhesetzung durch die Nationalsozialisten 1936 und die Auseinandersetzungen mit deren Zensur, die im Publikationsverbot seiner „Deutsche(n) Geschichte“ endeten, dokumentierten, daß die von ihm gerade so eindringlich geschilderte Entstehung der liberalen Rechtsstaatsidee in der unmittelbaren Gegenwart jedenfalls keine lebensbestimmende Macht mehr darstellte. Wohl erschienen 1934 und 1937 noch zwei stattliche Bände, die unter den Titeln „Erfahrungswissenschaften und Technik“ und „Die religiösen Kräfte“ beispielhaft und bis heute in vielem nicht überholt die Wissenschafts-, Bildungs- und religiöse Geistesgeschichte der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nachzeichneten. Aber der Elan des Unternehmens war gebrochen und stellte sich, nachdem der bereits gesetzte fünfte Band über die nationalen Bewegungen und Kräfte vor 1848 der Zensur zum Opfer gefallen war, bis zu Schnabels Lebensende nicht mehr ein.
Dabei spielten freilich auch äußere Umstände, die Verpflichtungen, die auf Schnabel nach dem Zusammenbruch der nationalsozialistischen Herrschaft zukamen, eine erhebliche Rolle. Als ein im Lande Gebliebener, im Ausland inzwischen durch seine Bücher wie durch seine Haltung zu höchstem Ansehen gelangter Vertreter des „anderen“ Deutschland, erschien er prädestiniert, beim Wiederaufbau des deutschen Bildungswesens und der deutschen Universitäten eine zentrale Rolle zu spielen. Von 1945 bis 1947 wirkte er zunächst als für die Schulen und Universitäten zuständiger „Landesdirektor“ in der provisorischen Regierung des amerikanisch besetzten Nordbaden unter Heinrich Köhler. 1947 gleichzeitig an die Universitäten Marburg und München berufen, entschloß er sich, den Ruf an die schon damals größte deutsche Universität anzunehmen, der mit der beispiellosen Zusage verbunden war, er, der von den Nationalsozialisten seines Amtes Enthobene, könne einst den Zeitpunkt seiner Emeritierung selbst bestimmen. In München war es dem 60jährigen erstmals möglich, Fachhistoriker im engeren Sinne auszubilden, und er hat sich dieser Aufgabe wie auch vielen wissenschaftspolitischen und wissenschaftsorganisatorischen – von 1951–1959 war er unter anderem als ein später Nachfolger Rankes Präsident der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften - unter Hintansetzung alles anderen, darunter eben auch seiner „Deutschen Geschichte“, gestellt. Es waren dies Jahre der Ernte, größter öffentlicher Anerkennung, in denen er, der gefeiertste akademische Lehrer der Universität, den Eindruck gewinnen konnte, weit über sein Fach hinaus prägend zu wirken und mitzuhelfen, die Vergangenheit zu überwinden. Das bot späte Genugtuung und, vor allem im Verhältnis zu den Schülern, auch innere Befriedigung. Aber seine Skepsis blieb davon ungebrochen. Seine Erwartungen richteten sich zunehmend auf kleine Gruppen von im Geist des Humanismus gebildeten Menschen in der Gesellschaft, von denen dann eine wirkliche Erneuerung ausgehen könne. In diesem Sinne wandte er, der liberale Demokrat der Weimarer Republik, sich gegen eine Öffnung der Universitäten, plädierte wenn nicht für Abschließung, so doch für strenge Auslese. Und in diesem Sinne richtete sich sein wissenschaftliches Interesse in besonderem Maße auf die Geschichte des Humanismus, auf seinen spezifischen und gesellschaftlichen Ort, den er vor allem in dem dynamischen und weltzugewandten, aber im Kern noch vorkapitalistischen Bürgertum der Städte sah. Eine seiner letzten großen Arbeiten, die aus einem Festvortrag vor der Bayerischen Akademie der Wissenschaften hervorgegangen war, beschäftigte sich in dieser weitausgreifenden und zugleich an die Wurzeln seines eigenen Daseins zurückführenden Weise mit dem „Humanistischen Bildungsgut im Wandel von Staat und Gesellschaft“.
1962, im Alter von fast 75 Jahren, hat Schnabel in dem Gefühl, daß die Kräfte nun doch nachließen und die Sache zur Entscheidung dränge, seine Emeritierung beantragt. Bis zuletzt in München lebend, seiner Universität immer noch tätig verbunden, war es doch wie selbstverständlich, daß er in Mannheim seine letzte Ruhe fand, der Stadt, von der er ausgegangen war und die für ihn in ihrer Vergangenheit die ihm gemäße geistige Lebensform, Heimat in einem übergreifenden Sinne repräsentierte.
Quellen: Nachlaß: Bayer. Staatsbibliothek München. Nachlaßteile auch im StadtA Mannheim.
Werke: (Auswahl): Der Zusammenschluß des politischen Katholizismus in Deutschland im Jahre 1848, Heidelberg 1910; Geschichte der Ministerverantwortlichkeit in Baden, Karlsruhe 1922; Deutschland in den weltgeschichtlichen Wandlungen des letzten Jahrhunderts, Leipzig 1925; Sigismund von Reitzenstein. Der Begründer des badischen Staates, Heidelberg 1927; Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, 4 Bde., Freiburg 1929-1937 u. ö.; Deutschlands geschichtliche Quellen und Darstellungen in der Neuzeit. 1. Teil: Das Zeitalter der Reformation, 1500-1550, Leipzig 1931; Freiherr vom Stein, Leipzig 1931; Der Buchhandel und der geistige Aufstieg der abendländischen Völker, Freiburg 1951; Das humanistische Bildungsgut im Wandel von Staat und Gesellschaft, München 1956; Abhandlungen und Vorträge, 1914-1965, hg. v. H. Lutz, Freiburg 1970 (dort auch eine Bibliographie sämtlicher Veröffentlichungen Schnabels, zus.gest. v. K.-E. Lönne, 369-402).
Nachweis: Bildnachweise: In: L. Gall, F. Schnabel (s. Lit.).

Literatur: F. H. Schubert, F. Schnabel und die Geschichtswissenschaft des 20. Jahrhunderts, in: HZ 205, 1967, 323-357; L. Gall, F. Schnabel (1887-1966), in: ZGO 116, 1967, 427-439; K. E. Lönne, F. Schnabel, in: Deutsche Historiker, hg. v. H.-U. Wehler, Bd. 9, 81-101.
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