Weber, Alfred 

Geburtsdatum/-ort: 30.07.1868; Erfurt
Sterbedatum/-ort: 02.05.1958;  Heidelberg
Beruf/Funktion:
  • Soziologe
Kurzbiografie: 1869 ff. in Berlin-Charlottenburg, dort Schulbesuch, 1888 Abitur, anschließend Studium der Rechte und Staatswissenschaften in Bonn, Tübingen und Berlin
1895 Promotion zum Dr. phil. und 2. Jurist. Staatsexamen in Berlin
1899 Habilitation für Staatswissenschaften und Volkswirtschaftslehre in Berlin, danach Privatdozent daselbst
1904-1907 Ordentlicher Prof. für Nationalökonomie an der deutschen Karls-Universität in Prag
1908-1933 Ordinarius für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft (seit 1926 auch Soziologie) an der Universität Heidelberg mit Unterbrechung durch Kriegsdienst 1914-1916 (im Elsaß) und Tätigkeit am Statistischen Reichsamt in Berlin (1916-1918)
1917 Geheimer Hofrat
1933-1945 Emeritierung aus politischen Gründen, aber weiterhin in Heidelberg bis zur Rehabilitation
1945-1953 Ordinarius für Soziologie an der Universität Heidelberg, zeitweilig Direktor des 1948 nach ihm benannten „Alfred-Weber-Instituts für Sozial- und Staatswissenschaften“
1948 Ehrensenator der Universität Heidelberg
1954 Ritter der Friedensklasse des Ordens Pour le Mérite
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev.
Verheiratet: Unverheiratet
Eltern: Vater: Max Weber, sen., Jurist, nationalliberaler Politiker, Stadtrat, Landtags- und Reichstagsabgeordneter (1836-1897)
Mutter: Helene, geb. Fallenstein (1844-1919)
Geschwister: 7 (Max, Anna, Karl, Helene, Clara, Arthur, Lili)
GND-ID: GND/118765787

Biografie: Horst Reimann (Autor)
Aus: Badische Biographien NF 1 (1982), 263-266

In seinem Elternhaus in Berlin-Charlottenburg kam Weber als zweiter Sohn des Erfurter und seit 1869 Berliner Stadtrates, nationalliberalen Politikers und Abgeordneten des preußischen Landtages und des Reichstages, Max Weber sen., noch in Erfurt geboren, bereits in Kindheit und Jugend, ebenso wie sein berühmter älterer Bruder Max, mit dem ihn zeitlebens eine gewisse Rivalität verband, mit bedeutenden Gelehrten und Politikern der Bismarck-Ära in Berührung, u. a. mit Rudolf von Bennigsen, Max Dilthey, Heinrich von Sybel, Heinrich von Treitschke, Theodor Mommsen, wobei der Einfluß des letzteren sicher von besonderer Bedeutung gewesen ist. Später hat auf ihn, während seines Studiums in Bonn, Tübingen und Berlin, anfänglich der Kunstgeschichte, danach der Rechte und Staatswissenschaft, vor allem sein Lehrer Gustav Schmoller, der Repräsentant der jüngeren historischen Schule der Nationalökonomie, gewirkt, bei dem er 1895 mit einer sozial-politisch ausgerichteten Arbeit über „Hausindustrielle Gesetzgebung und Sweating-System in der Konfektionsindustrie“ (Leipzig 1897) promovierte. Nach seiner Habilitation 1899 für Staatswissenschaften und Volkswirtschaftslehre hat er bis zu seiner Berufung an die deutsche Karls-Universität in Prag (1904) als Privatdozent in Berlin gewirkt. In Prag befreundete er sich besonders mit dem Soziologen und späteren tschechischen Staatspräsidenten Masaryk. Hier entwickelte er auch im Anschluß an Heinrich von Thünen seine bis in die Gegenwart erfolgreiche „Reine Theorie des Standorts“ (Über den Standort der Industrien I, 1909), die ihn in der Nationalökonomie international bekannt machte. 1907 folgte er einem Ruf an die Universität Heidelberg, der er bis zu seinem Ende treu blieb und die ihm Außerordentliches verdankt, nicht zuletzt die Bewahrung ihres lebendigen Geistes über die Zeit des Nationalsozialismus und die Kontinuität Heidelberger Gelehrsamkeit als Verkörperung des liberalen und intellektuellen Deutschlands der ersten beiden Jahrzehnte dieses Jahrhunderts. Gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin, Dr. Else Jaffé-von Richthofen, war er hier zugleich der Mittelpunkt soziologisch-philosophischer Zirkel. – Das Webersche Familienmilieu in Berlin, das ihn einige Jahrzehnte lang entscheidend geprägt hat, war einerseits großbürgerlich-liberal, andererseits durch die dezidiert protestantisch-soziale Haltung der Mutter, die später nach dem relativ frühen Tode ihres Mannes 1897 auch in der Berliner Fürsorge tätig wurde, bestimmt. Das soziale Engagement und die humane Gesinnung Webers haben hier sicher ihren frühen Ursprung, vom Christentum hat er sich jedoch bald losgesagt zugunsten einer sehr persönlichen Entscheidung für eine lebensimmanent wirkende Transzendenz. Von hier versteht sich auch seine hohe Sensibilität für künstlerische Schöpfungen, deren Einmaligkeit und vor allem Eingebundenheit in bestimmte Geschichtskörper und Zeiten im Hinblick auf ihren (kulturgebundenen) Wahrheitsgehalt für ihn Anlaß gewesen ist, in seiner kultursoziologischen Synopsis alle „Kulturemanationen“, d. h. alle in sich abgeschlossenen und in ihrem eigentlichen Gehalt nicht übertragbaren Kulturelemente, zu denen er neben den Kunstschöpfungen auch Religionen, Ideensysteme zählte, als eigenständigen „Strang“ (Kulturbewegung) von den anderen „Bahnungen“ der Weltgeschichte zu unterscheiden: dem einseitig gerichteten (irreversiblen) Zivilisationsprozeß, aufbrechend aus einem präexistenten und sich dem rationalen Bewußtsein durch „Entdeckungen“ erschließenden (intellektuellen) Erkenntniskosmos, und dem ebenfalls globalen Gesellschaftsprozeß, der stadiale gesellschaftliche Entwicklung und auch sozialen Fortschritt beinhaltet. Vieles spricht dafür, daß dieses Grundmuster einer universalhistorischen Konstellationsanalyse bereits am Anfang seines Gelehrtendaseins skizziert war. Später hat er es in mehreren großen Arbeiten zur Kultursoziologie, die weite Verbreitung gefunden und ihm einen Platz in der Geschichte der Soziologie sowie der Ideen- und Kulturgeschichte gesichert haben (u. a. Kulturgeschichte als Kultursoziologie) ausführlich abgehandelt. Das geschah in einer ihm wesenseigenen Originalität und Sprunghaftigkeit sowie genialer Intuition, die sich in einer Art Privatsprache, also einer sehr eigenwilligen Terminologie, aber durchaus gut lesbar, sowie einer Vorliebe für Totalitätsanschauung (Synopsis) manifestierten. Weber befand sich ständig „auf der Suche“ (Edgar Salin) nach dem Standort der Zeit und seinem eigenen. Das hat den stets temperamentvollen Mann bis ins höchste Alter lebendig und jugendlich erhalten und ihn auch als akademischen Lehrer immer den Zugang zur Jugend finden lassen. Als beinahe Achtzigjähriger hat er nach dem Zweiten Weltkrieg zusammen mit Karl Jaspers und dem Chirurgen Karl Bauer die Universität Heidelberg restituiert. Sein überaus anspruchsvolles und ohne Prätention doch elitäres Seminar in dem nach ihm benannten Heidelberger Institut hat er, kritisch, unorthodox, immens belesen und voller Eifer, bis in seine letzten Tage – zuletzt über China – abgehalten. Wagemutig, immer auf die Zukunft hin orientiert, Vergangenes abstreifend (er lehnte Biographien ab, verfaßte außer wenigen Zeilen nichts Autobiographisches!) und eigene Fehler – wie beispielsweise seine vorübergehende Abkehr von der Demokratie 1915 (Gedanken zur deutschen Sendung) – gründlich revidierend, nahm er, der einstige Mitinitiator der (linksliberalen) Deutschen Demokratischen Partei (1918), nach dem Zweiten Weltkrieg „Abschied von der bisherigen Geschichte“ (1946) und schloß sich der SPD an, allerdings nicht ohne (zusammen mit Alexander Mitscherlich) für diese ein Aktionsprogramm (1946) für einen „freien Sozialismus“ zu entwerfen. Damit verband er auch seine unversöhnliche Absage an den Typus des „vierten Menschen“, den er sowohl im Faschismus wie im Sowjetkommunismus aufkommen sah (Der dritte oder der vierte Mensch, 1953), einen möglichen, zukünftigen Menschentypus, sozial desintegriert, inhuman, eine bürokratisch-technokratische Maschine. Weber war nie wie sein Bruder Max ein Rationalist und Verfechter der Wertfreiheit in der (Sozial-)Wissenschaft; er hat in allen seinen Schriften wie im Leben gewertet und für Werte gekämpft, für ihn gab es keine Trennung zwischen Wissenschaft und Politik. Viele halten deshalb sogar seine politischen Abhandlungen für seine bedeutendste Leistung.
Seine Kultursoziologie kann auch als eine Negation der Möglichkeit von Soziologie als (wertfreier) Wissenschaft aufgefaßt werden. Mit Ausnahme der Standorttheorie steht sein wissenschaftliches Bemühen der Kunst sehr nahe – er hat auch Gedichte geschrieben, aber nicht veröffentlicht. Es war eine besondere Art von geistiger Schöpfung, einzigartig und einmalig; zum Großartigsten dieser Gattung zählt ohne Zweifel seine Deutung der Antike (in: Das Tragische und die Geschichte, 1943). Weber hat über 50 Jahre Generationen von Studierenden beeinflußt und tief beeindruckt; viele seiner Schüler wurden akademische Lehrer, aber er hat keine „Schule“ geschaffen und auch nicht schaffen können, weil er ein „Solitär“ in der Wissenschaft (Dolf Sternberger) gewesen ist.
Werke: Bibliographie: Alfred-Weber-Institut, Hrsg.: Alfred Weber - Schriften und Aufsätze 1897-1955 (mit einer Einleitung von Götz Roth; zusammengestellt von Josef Kepeszczuk), München 1956. Hauptwerke: Über den Standort der Industrien - Erster Teil: Reine Theorie des Standorts, Tübingen 1909 (auch engl. 1929; 2. A. 1922, 30. Td. 1963); Religion und Kultur, Jena 1912; Der soziologische Kulturbegriff, in: Verh. d. 2. dt. Soziologentages 1912 in Berlin, Tübingen 1913, 1-20 u. 74; Prinzipielles zur Kultursoziologie, in: A f. Sozialwiss. u. Sozialpolitik, 47/1920-1921, 1-49; Die Krise des modernen Staatsgedankens in Europa, Stuttgart-Berlin-Leipzig 1925; Ideen zur Staats- und Kultursoziologie, Karlsruhe 1927; Art. „Kultursoziologie“, in: Alfred Vierkandt (Hrsg.), Handwörterbuch der Soziologie, Stuttgart 1931, 284-294; Kulturgeschichte als Kultursoziologie, Leiden 1935, 2. A. 1950 (13. Tsd. 1951; auch span. Mexiko 1941, 4. Ed. 1948); Das Tragische und die Geschichte, Hamburg 1943, 1959 2. A.; Abschied von der bisherigen Geschichte. Überwindung des Nihilismus?, Hamburg 1946; Prinzipien der Geschichts- und Kultursoziologie, München 1951; Der dritte oder der vierte Mensch. Vom Sinn des geschichtlichen Daseins, München 1953 (10. Tsd. 1963); Einführung in die Soziologie (in: Verb. m. H. v. Borch u. a.), München 1955; Geschichts- und Kultursoziologie, in: Wörterbuch der Soziologie, Hrsg. W. Bernsdorf/F. Bülow, Stuttgart 1955, 161-165; Über die moderne Kunst und ihr Publikum, in: Wirtschaft und Kultursystem, Hrsg. G. Eisermann, Erlenbach-Zürich-Stuttgart 1955, 323-328; Haben wir Deutschen nach 1945 versagt? Politische Schriften. Ein Lesebuch. Ausgewählt und eingeleitet von Christa Dericum. München-Zürich 1979.
Nachweis: Bildnachweise: Büste von Edzard Hobbing, 1961 im Lesesaal der Bibliothek des Alfred-Weber-Instituts für Sozial- und Staatswissenschaften d. Univ. Heidelberg, Grabengasse 14; Foto von Anneke Himpe, Frankfurt, Alfred Weber im Kreise seiner Studenten, in: Kölner Z für Soziologie und Sozialpsychologie 10/1958, 178, und Archivfoto StAF, Bildnissammlung.

Literatur: Franz Vasoldt, Die Webersche Standorttheorie der Industrien im Lichte ihrer Kritiker, Ebering 1937; Elisabeth Niederhauser, Die Standorttheorie Webers, Weinfelden 1944; Hrsg. Edgar Salin, Synopsis, Festgabe für Alfred Weber zum 80. Geburtstag, Heidelberg 1948; Alexander v. Schelting, Zum Streit um die Wissenssoziologie I., Die Wissenssoziologie und die kultursoziologischen Kategorien Alfred Webers, in: A für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 63/1929; Albert Salomon, The place of Alfred Weber's Kultursoziologie in Social Thought, in: Social Research HI/1936; Sigmund A. Neumann, Alfred Weber's Conception of Historico-Cultural Sociology, in: H. E. Barnes (Hrsg.), An Introduction to the History of Sociology, Chicago 1948; Herbert von Borch, Alfred Webers Kultursoziologie, in: Merkur IV/1950; Victor Willi, Das Wesen der Kulturhöhe und die Kulturkrise in der kultursoziologischen Sicht Alfred Webers, Köln-Opladen 1953; Nicholas S. Timasheff, Alfred Weber, in: ders., Sociological Theory, New York 1955, 3. A. 1967, 279 bis 281; Victor Willi, Bemerkungen zur sog. Konstellationssoziologie Alfred Webers, in: Kölner Z für Soziologie und Sozialpsychologie, 8/1956, 653-659; Ders., Nachruf auf Alfred Weber, in: Kölner Z für Soziologie und Sozialpsychologie 10/1958, 169-177; Edgar Salin, Auf der Suche nach dem Standort der Zeit, in: Kyklos 11/1958, 318-340; Ders., Weber, Alfred, in: International Encyclopedia of the Social Sciences, Vol. 16/1968, 491-493; Carl Friedrich, Alfred Weber, in: Ruperto Carola 10/1958, Bd. 23, 163-164; Wilhelm Hahn, Gedenkstunde für Alfred Weber, in: Ruperto Carola 10/1958, Bd. 24, 217-219; Arnold Bergstraesser, Zum 90. Geburtstag Alfred Webers, in: Ruperto Carola 10/1958, Bd. 23, 83-86; Ders., Alfred Weber, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd. 11/ 1961, 554-556; Dolf Sternberger, Gedenkwort für Alfred Weber, in: Jb d. Dt. Akad. f. Sprache und Dichtung, 1958, 195 ff.; Friedrich Bülow, Weber, Alfred, in: Soziologenlexikon, Stuttgart 1959, 615-617; Salomon Wald, Geschichte und Gegenwart im Denken Alfred Webers - Ein Versuch über seine soziologischen und universalhistorischen Gesichtspunkte, Zürich 1964; Raymond Aron, Die deutsche Soziologie der Gegenwart, Stuttgart 1965, Kap. über Kultursoziologie Alfred Weber -, 58-69; Dolf Sternberger, Alfred Weber - zu seinem 100. Geburtstage am 30. 7. 1968, in: Ruperto Carola, 20/1968, Bd. 45, 96-101; Roland Eckert, Kultur, Zivilisation und Gesellschaft - Die Geschichtstheorie Alfred Webers, eine Studie zur Geschichte der deutschen Soziologie, Tübingen 1970; Martin Green, Else und Frieda, die Richthofen-Schwestern, München 1976 (Kap. über Alfred Weber, 218-231); G. Eisermann, Weber, Alfred, in: Internationales Soziologenlexikon Bd. 1, 2. neubearb. A., Stuttgart 1980, 483-484.
Suche
Durchschnitt (0 Stimmen)