Paul, Hermann Otto Theodor 

Geburtsdatum/-ort: 07.08.1846; Salbke bei Magdeburg
Sterbedatum/-ort: 19.12.1921; München
Beruf/Funktion:
  • Germanist und Sprachwissenschaftler
Kurzbiografie: 1866 Abitur am Gymnasium zum Kloster Unserer Lieben Frauen in Magdeburg
1866–1867 Studium d. Mathematik u. d. Sprachwissenschaft bei H. Steinthal in Berlin
1867–1870 Studium d. Germanistik u. Sprachwissenschaft bei G. Curtius, A. Ebert, A. Leskien u. vor allem F. Zarncke in Leipzig
1870 Promotion zum Dr. phil. in Leipzig bei Friedrich Zarncke: „Über die ursprüngliche Anordnung von Freidanks Bescheidenheit“
1872 Habilitation für Philologie in Leipzig: „Zur Kritik u. Erklärung von Gottfrieds Tristan“; Dozent
1874 ao. Professor für Dt. Sprache u. Literatur in Freiburg im Br.
1877 o. Professor für Dt. Philologie an d. Univ. Freiburg im Br.
1888 Ruf an die Univ. Gießen, abgelehnt
1893 o. Professor für Dt. Philologie an d. Univ. München
1898–1899 Dekan d. Philosoph. Fakultät
1906–1907 Dekan d. Philosoph. Fakultät
1909–1910 Rektor d. Univ. München
1916 Emeritierung aus gesundheitl. Gründen
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev.
Auszeichnungen: Auszeichnungen: Verdienstorden vom Heiligen Michael IV. Kl. (1899); Geh. Hofrat (1908); Prinzregent Luitpold-Medaille in Silber (1911); Ehrenkreuz des Verdienstordens vom Heiligen Michael (1914)
Verheiratet: 1905 (München) Wilhelmine, geb. Peter
Eltern: Vater: Peter Jacob (1803–1878), Maurermeister, Kesselflicker u. Materialwarenhändler
Mutter: Katharina Dorothea Elisabeth, geb. Stooff (auch: Stoff, Stof u. Stoof, 1807–1891)
Geschwister: 8
Kinder: keine
GND-ID: GND/118789902

Biografie: Gerhard Baur (Autor)
Aus: Badische Biographien NF 6 (2011), S. 303-306

Obwohl sein schulisches Lieblingsfach zunächst Mathematik gewesen war, beschäftigte sich bereits der Tertianer Paul mit der deutschen Sprache und Literatur des Mittelalters. Nach einem ersten Studiensemester in Berlin, bei dem ihn vor allem der Sprachwissenschaftler Heymann Steinthal anregte, wechselte Paul im Frühjahr 1867 zur ebenfalls berühmten Universität Leipzig, an der er zahlreiche Vorlesungen in verschiedenen Fächern hörte. Neben seinem eigentlichen Lehrer Friedrich Zarncke beeindruckten ihn besonders der Romanist Adolf Ebert, der vergleichende Sprachwissenschaftler Georg Curtius und zuletzt hauptsächlich der Slawist August Leskien, durch welchen er in die sog. „junggrammatische“ Lehre eingeführt und auf die Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze sowie das Analogieprinzip aufmerksam gemacht wurde. Davor wurde er im SS 1870 mit der mediävistischen Arbeit bei Zarncke promoviert und habilitierte sich bereits im Oktober 1872.
Im Herbst desselben Jahres gründeten Paul und sein frisch promovierter Freund Wilhelm Braune (➝ IV 42) zusammen mit dem Verleger Max Niemeyer die Zeitschrift „Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur”, gerne als „PBB“, also Pauls und Braunes Beiträge, zitiert. In ihnen veröffentlichte Paul in den nächsten Jahren seine ersten grundlegenden, hauptsächlich sprachlichen Arbeiten, z. B. „Zur Lautverschiebung” (Bd. 1, 147–201), „Die Vokale der Flexions- und Ableitungssilben in den ältesten germanischen Dialecten” (Bd. 4, 315–475), „Zur Geschichte des germanischen Vocalismus“ (Bd. 6, 1–256, 257–261, 407–412).
Im Mai 1874 wurde Paul Nachfolger von Ernst Martin (➝ V 199) an der Universität Freiburg im Br., zunächst als ao., im März 1877 als o. Professor. Zu seinen Lehraufgaben gehörten jetzt nicht nur deutsche Literatur und Sprache des Mittelalters, sondern auch die deutsche Literaturwissenschaft bis zur Goethezeit. Das ist einer der Gründe, die ihn zur damals noch neuartigen Beschäftigung mit der neuhochdeutschen Sprache brachten, welche schließlich in die Abfassung seines Deutschen Wörterbuchs mündete. Doch zunächst vermisste er für seine Veranstaltungen zur mittelhochdeutschen Sprache und Literatur eine hinreichende, didaktisch einwandfreie Grammatik, verfasste eine solche und veröffentlichte sie 1881 als zweites Bändchen von 69 Seiten der von Freund Braune begründeten „Sammlung kurzer Grammatiken germanischer Dialekte”. Diese Arbeit sollte Studienanfänger, aber auch Dozenten „in eine wahrhaft wissenschaftliche Behandlung der deutschen Grammatik ein[zu]führen”. Sie wurde von Paul noch zu seinen Lebzeiten bis zur 11. Auflage laufend vervollständigt, bis auf 238 Seiten erweitert und schließlich in den vergangenen Jahren von den ihm nachfolgenden Herausgebern zum umfassenden Handbuch des Mittelhochdeutschen bis zu einem Umfang von 637 Seiten in der 25. Auflage 2007 ausgebaut.
Neuartig ist die Anlage des Stoffs, indem Paul die mittelhochdeutschen Laute und Formen kontrastiv mit dem Neuhochdeutschen vergleicht, um so die Abweichungen deutlicher hervortreten zu lassen. Ältere vor-mittelhochdeutsche Entwicklungsstufen sollten nur insoweit zur Erklärung herangezogen werden, als durch sie das Neuartige des mittelhochdeutschen oder neuhochdeutschen Sprachstands deutlicher würde. Neu ist auch seit der 2. Auflage sein Einbeziehen der Syntax, wobei er dort hauptsächlich das behandelt, was in mittelhochdeutschen Dichtungen nach den Regeln neuhochdeutscher Syntax ungewöhnlich oder regelwidrig ist.
Zur gleichen Zeit brachte Paul 1881 in der von ihm begründeten und geleiteten „Altdeutsche[n] Textbibliothek“ die Gedichte Walthers von der Vogelweide sowie 1882 „Gregorius“ und im gleichen Jahr „Der arme Heinrich“ von Hartmann von Aue heraus, nachdem er bereits 1873 eine kritische Ausgabe von Hartmanns „Gregorius“ vorgelegt hatte. Hierbei und in einigen Aufsätzen und manchmal recht bissigen Rezensionen geriet er „in Gegensatz zu manchen Anschauungen Lachmanns, die damals noch vielen als unumstößliche Dogmen galten; ferner zu den […]Hypothesen W. Scherers“ (PBB 46, 1922, 496). Hierin, besonders in der langdauernden Feindschaft der einflussreichen Berliner Germanistik, wird man die Hauptgründe für die laufende Zurücksetzung Pauls in Bezug auf angesehenere und – pekuniär – ertragreichere Professorenstellen zu suchen haben. Obwohl er fünfmal von verschiedenen Universitäten an erster Stelle vorgeschlagen wurde, erreichte ihn kein Ruf, und erst infolge eines von ihm abgelehnten Rufs an die Universität Gießen gewährte ihm die bad. Regierung 1888 ein Gehalt, das „damals anderwärts Minimalgehalt zu sein pflegte“ (PBB 46, 496).
In den Freiburger Jahren beschäftigte ihn neben der Arbeit an altdeutschen Texten und ihrer Interpretation vor allem die Laut- und Flexionslehre der germanischen Sprachen sowie die neue Sprachbewegung der vergleichenden indogermanischen Sprachwissenschaft, welche ihn mit den gleichstrebenden Freunden Braune und Eduard Sievers sowie seinem späteren Freiburger Nachfolger Friedrich Kluge (➝ III 152) zum Hauptvertreter der sog. Junggrammatiker werden ließ. Die zögerliche Aufnahme ihrer Ergebnisse brachte Paul zur Erforschung der Grundlagen allen Sprachlebens und führte zu den zuerst 1880, in zweiter erweiterter Auflage 1886 erschienenen „Principien der Sprachgeschichte“. Hierin wollte er vor allem auf die Bedeutung der Wechselwirkung der Individuen aufeinander für die Entwicklung der Sprache hinweisen und war besonders bestrebt, alle Seiten der Sprachentwicklung gleichmäßig zu berücksichtigen.
Von eigenen weiteren Arbeiten abgelenkt wurde Paul zunächst durch die für seinen Freund Sievers übernommene Aufgabe der Planung und Herausgabe des ab 1891 erscheinenden dreibändigen „Grundriss der germanischen Philologie“, in dem er selbst die wichtigen einleitenden und teilweise grundlegenden Kapitel über Geschichte und Methode der germanischen Philologie sowie über die deutsche Metrik verfasste. Das Werk erlebte zwei weitere, teilweise völlig neubearbeitete Auflagen und führte außerdem zu einer Folge von monographischen Darstellungen, welche schließlich das ganze Gebiet erschlossen, z. B. „Geschichte der deutschen Sprache“ von Otto Behaghel (➝ V 7), „Elemente des Gotischen” und „Urgermanisch” von F. Kluge.
Der lang ersehnte und oft verhinderte Umzug in eine potentere Universität, nämlich in das Deutsche Seminar der Universität München, erbrachte Paul 1893 bessere Arbeitsbedingungen und mehr Wirkungsmöglichkeiten. So konnte er bereits 1897 die erste Auflage seines „Deutschen Wörterbuchs“ herausbringen, das er schon in Freiburger Zeiten begonnen hatte. Wiederum waren dem Werk zwei grundsätzliche Hinführungen vorausgegangen, nämlich „Aufgaben der wissenschaftlichen Lexikographie“ von 1894 und „Zur Wortbildungslehre“ von 1896, die beide von Henne/ Kilian 1998 (131 ff.) wieder abgedruckt wurden. In ihnen und vor allem im Wörterbuch konnte Paul darlegen, wie sich nach seiner Meinung und seinem Nachforschen im Deutschen die verschiedenen Wörter aus z. T. ursprünglich anderen Bedeutungen in die heutigen entwickelt hatten. Es gibt auch derzeit noch kein anderes deutsches Wörterbuch, welches diese Bedeutungsangaben und -veränderungen so genau dokumentiert hätte wie das Wörterbuch von Paul und seinen Nachfolgern.
Ihn aber brachte das neue Amt und später dazukommende wie das Dekanat 1898 und 1906 und das Rektorat 1909 schließlich dazu, seine oft in Reden geäußerten Überlegungen zu allgemein interessierenden Themen schriftlich niederzulegen und sie – meist in Abhandlungen der Akademie – zu veröffentlichen, so z. B. über „Die Bedeutung der deutschen Philologie für das Leben der Gegenwart“ von 1897 oder die „Gedanken über das Universitätsstudium“ von 1909. Doch seine arbeitsmäßigen Gedanken waren längst auf die Erarbeitung einer Grammatik des Deutschen und ganz besonders auf eine Darstellung ihrer Syntax, der Erklärung ihres Satzbaus, gerichtet, worüber er schon jahrelang gebrütet, die er geplant und wofür er gesammelt hatte. Doch Paul war nach jahrelangem Behandeltsein und -werden – seit Schülerzeiten zwang ihn ein Augenleiden zu mäßiger Lektüre – schließlich fast blind und auf die Hilfe einer Vorleserin angewiesen. So konnte er endlich mit fremder Hilfe in seinen letzten Lebensjahren die „Deutsche Grammatik“ in fünf Bänden vollenden, ein bis heute bedeutendes Werk.
Quellen: UA Freiburg Archiv d. Phil. Fakultät; UA München Personalakte Hermann Paul; UB München Nachlass Hermann Paul.
Werke: Auswahl: Über die ursprüngliche Anordnung von Freidanks Bescheidenheit. Diss. phil. Leipzig, 1870; Gab es eine mittelhochdeutsche Schriftsprache?, 1872 [Habilitationsvortrag]; Principien d. Sprachgeschichte, 1880, 10. Aufl. 2002; Mittelhochdeutsche Grammatik, 1881, 25. Auf. 2007; (Hg.) Altdeutsche Textbibliothek [mittelhochdt. Texte], 1881 ff. – Als Herausgeber: Grundriss d. german. Philologie, 3 Bde., 1891–96; Über die Aufgaben d. wissenschaftl. Lexikographie mit besonderer Rücksicht auf das Dt. Wörterbuch, in: Sitzungsberr. d. phil.-philol. u. d. hist. Classe d. kgl. bayer. Akad. München, 1894, 2, 53–91; Deutsches Wörterbuch, 1897, 10. Aufl. 2002 (überarb. u. erw.); Die Bedeutung d. dt. Philologie für das Leben d. Gegenwart, Festrede, 1897; Gedanken über das Universitätsstudium, Rede beim Antritt des Rektorats d. Ludwig-Maximilians-Universität, geh. am 11.12.1909, 1909; Deutsche Grammatik, 5 Bde., 1916–1920, unveränd. Nachdr. 1968; Aufgabe u. Methode d. Geschichtswissenschaften, 1920; Über Sprachunterricht, 1921; Sprachtheorie, Sprachgeschichte, Philologie. Reden, Abhandlungen u. Biographie, hgg. von H. Henne u. J. Kilian, 1998.
Nachweis: Bildnachweise: Germanistik als Kulturwissenschaft, 1997, 1 u. 4 (vgl. Literatur).

Literatur: Otto Behaghel, Hermann Paul, in: Zs. des Allgem. Dt. Sprachvereins 31, 1916, 313 f.; Friedrich Kluge, Hermann Paul, in: Das Literarische Echo 24, 1921/22, 645–648; Wilhelm Braune, Hermann Paul †, in: Beitr. zur Gesch. d. dt. Sprache u. Lit. 46, 1922, 501–503; Carl von Kraus, [Nekrolog], in: Jb. d. Bayer. Akad. d. Wiss. 1921, 27–35; Carl von Kraus, Hermann Paul, in: Dt. Biograph. Jb. 3, 1927, 206–208; Friedrich Panzer, Hermann Paul, in: Zs. für Deutschkunde 36, 1922, 123–125; Wilhelm Streitberg, Hermann Paul, in: Indogerman. Jb. 9, 1922/23, 280–285; Max Hermann Jellinek, [Nekrolog], in: Almanach d. Ak. d. Wiss. in Wien für das Jahr 1922, 1922, 261–267; Friedrich Wilhelm, Hermann Paul, in: Münchener Museum für Philologie des Mittelalters u. d. Renaissance 4, 1924, 222–226; Dieter Cherubim, Hermann Paul u. die moderne Linguistik, in: Zs. für Dialektologie u. Linguistik 40, 1973, 310–322; Wolfgang Huber, Hermann Paul u. die Kasusgrammatik, in: Beitrr. zur Gesch. d. dt. Sprache u. Literatur 100, 1978, 86–109; Marga Reis, Hermann Paul, ebd. 159–204; Herbert E. Wiegand, Zur Geschichte des Dt. Wörterbuchs von Hermann Paul, in: Zs. für germanist. Linguistik 11, 1983, 301–320; Brigitte Bartschat, Methoden d. Sprachwissenschaft von Hermann Paul bis Noam Chomsky, 1996; Helmut Henne, Heidrun Kämper u. Georg Objartel, Das Wörterbuch im Visier – Pauls systematische Arbeit. 100 Jahre Dt. Wörterbuch (1897–1997), in: Zs. für Germanist. Linguistik 25, 1997, 167–199; Germanistik als Kulturwissenschaft. Hermann Paul 150. Geburtstag u. 100 Jahre Dt. Wörterbuch. Erinnerungsbll. u. Notizen zu Leben u. Werk, hgg. von A. Burkhardt u. H. Henne anläßl. d. Ausstellung in Magdeburg (21.1. – 28.1.1997) u. Braunschweig (4.2.–11.2.1997), 1997; Ulrike Hass-Zumkehr, Hermann Paul (1846–1921), in: Wissenschaftsgesch. d. Germanistik in Porträts, hg. von Ch. König, H.-H. Müller u. W. Röcke, 2000, 95–106; Ulrike Hass, Hermann Otto Theodor Paul, in: Internat. Germanistenlexikon. 1800–1950, hg. von Ch. König, 2003, 1371–1373.
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