Schäfer, Dietrich Johann Heinrich 

Geburtsdatum/-ort: 16.05.1845; Bremen
Sterbedatum/-ort: 12.01.1929; Berlin
Beruf/Funktion:
  • Historiker
Kurzbiografie: 1859 Volksschulabschluss an d. Ansgarii-Kirchspielschule Bremen
1860–1863 Lehrerseminar Bremen
1863–1867 Lehrer in Bremen
1867–1872 Studium d. Philologie u. Geschichte in Jena, Heidelberg u. Göttingen bis Staatsexamen u. Promotion: „Dänische Annalen u. Chroniken“
1872–1876 Lehrer u. Bibliothekar in Bremen
1877–1885 ao. Honorarprofessor für mittelalterliche Geschichte in Jena
1885–1888 o. Professor in Breslau
1888–1896 Professor in Tübingen
1896–1902 Professor in Heidelberg; ab 1900 Mitglied d. I. Kammer d. bad. Landstände als Universitätsvertreter
1903–1923 Professor in Berlin bis Emeritierung
1913 Mitglied d. preußischen Akad. d. Wissenschaften
1916 Gründer u. Vorsitzender des Unabh. Ausschusses für einen dt. Frieden
1917 Mitglied im Engeren Ausschuss d. Deutschen Vaterlandspartei
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev.
Verheiratet: 1875 (Midlum bei Bremerhaven) Wilhelmine Sophie Juliana, geb. Theobald (1847–1924)
Eltern: Vater: Johann Dietrich Christian (1814–1855), Hafenarbeiter
Mutter: Anna Dorothea, geb. Wellinghausen (1809–1897)
Geschwister: Anna (1841)
Kinder: 6; Theobald (* 1876), Anna (* 1878), Luise (* 1879), Dietrich (* 1881), Carolina (* 1884) u. Sophie (* 1886)
GND-ID: GND/118794841

Biografie: Frank Engehausen (Autor)
Aus: Badische Biographien NF 6 (2011), S. 338-341

Schäfer entstammte einer Bremer Arbeiterfamilie und wuchs in äußerst beengten Verhältnissen auf, die nach dem frühen Unfalltod seines Vaters noch schlimmer wurden. Statt eine ursprünglich in Aussicht genommene Kaufmannslehre zu absolvieren, trat Schäfer auf Empfehlung seines Volksschulleiters in das neu errichtete staatliche Lehrerseminar in Bremen ein, das er 18-jährig als Jahrgangsbester abschloss. Nach der zweiten Lehrerprüfung 1865 wechselte Schäfer von der Volks- an eine Bremer Privatschule und unterrichtete dort Mathematik, Deutsch, Geschichte und neuere Sprachen, bis ihm die Förderung durch den nationalliberalen Reichstagsabgeordneten und Präsidenten des Norddeutschen Lloyd, Hans Hermann Meier, der auf den hoffnungsvollen Junglehrer aufmerksam gemacht worden war, 1867 ein Universitätsstudium ermöglichte.
Schäfer betrieb zunächst in Jena philologische Studien, wandte sich aber unter dem Einfluss des Historikers Wilhelm Adolf Schmidt (1812–1887) der Geschichtswissenschaft zu. 1869 unterbrach er sein Studium aus finanziellen Gründen für eine mehrmonatige Lehrertätigkeit und wechselte dann an die Universität Heidelberg, um bei dem politisch streitbaren Historiker und Publizisten Heinrich von Treitschke (BB V 895) zu studieren, der ihn sowohl mit seinen Anschauungen als auch mit seiner Methodik nachhaltig prägte. Selbst „Stellung, Handbewegung, Tonfall der Stimme, eine ganze Reihe von Wendungen waren offenbar unbewusst von Ihnen entlehnt“, schrieb Schäfer dem verehrten akademischen Lehrer später über seine eigenen Anfänge am Katheder. Bereits als Student trat Schäfer auch publizistisch in Treitschkes Fußstapfen und veröffentlichte in der „Weserzeitung“ einen Artikel „Aus deutsch-französischen Grenzlanden“; den Krieg von 1870/71 erlebte er als Freiwilliger.
Schäfer folgte seinem Lehrer Treitschke zunächst nicht auf dem Pfad der preußisch-national eingefärbten Zeitgeschichtsschreibung, sondern wandte sich – offenkundig aus pragmatischen Überlegungen – bei der Wiederaufnahme seines Studiums in Göttingen der mittelalterlichen Geschichte zu. Mit Blick auf einen von den Geschichtsvereinen von Bremen, Hamburg, Lübeck und Vorpommern ausgeschriebenen Preis für eine Arbeit über „Die deutschen Hansestädte und König Waldemar von Dänemark“ vertiefte er sich in die einschlägigen Quellen und legte bereits nach einigen Monaten eine Dissertation über „Dänische Annalen und Chroniken“ vor. Der Promotion im April 1872 und dem in Bremen im gleichen Jahr abgelegten Staatsexamen folgte eine vierjährige Tätigkeit als Lehrer, Bibliothekar und Angestellter des Hansischen Geschichtsvereins in seiner Vaterstadt, wo er sich auch als Vortragsredner und Publizist einen Namen machte. Im Zentrum seiner Interessen stand jedoch weiterhin die Hansegeschichte; 1875 legte er die – 1879 gedruckte – Schrift „Die Hansestädte und König Waldemar von Dänemark“ vor, die von den beteiligten Geschichtsvereinen erwartungsgemäß mit dem ersten Preis ausgezeichnet wurde.
1876 gab Schäfer den Lehrerberuf auf und betrieb auf ausgedehnten Reisen im Auftrag und im Dienst des Hansischen Geschichtsvereins Quellenstudien zur Hansegeschichte in Norddeutschland, Belgien, den Niederlanden, in Skandinavien und zuletzt in Russland. 1877 erhielt er als Seiteneinsteiger in das akademische Lehramt unter maßgeblicher Fürsprache seines früheren Mentors Schmidt einen Ruf an die Universität Jena. Schäfer, der dort als nur mäßig besoldeter Honorarprofessor, aber sehr umtriebiger Wissenschaftsorganisator in eine Konkurrenzsituation zu Schmidt geriet, da dieser die einzige ordentliche historische Professur innehatte, setzte in Jena seine Forschungen zur Hansegeschichte fort, engagierte sich aber auch auf dem Feld der mittelalterlichen Geschichte Thüringens. In der Lehre griff er gelegentlich auch zeitgeschichtliche Themen auf und näherte sich damit bereits seinem später stark ausgeprägten neuen Arbeitsbereich an. Besondere Verdienste erwarb er sich bei der Reorganisation des Lehrbetriebs durch den Aufbau des Historischen Seminars. Dass er Jena trotzdem nur als Durchgangstation betrachtete, lag vor allem an seinem für den standesgemäßen Unterhalt seiner rasch wachsenden Familie nur so eben ausreichenden Gehalt, das ihn zur Fortsetzung seiner publizistischen Arbeiten zwang.
Eine materielle Besserstellung bot Schäfer ein Ruf auf eine o. Professur in Breslau, wo er von 1885 bis 1888 lehrte. Er fand gute Aufnahme im Kollegenkreis, wurde aber in Breslau nicht heimisch, was neben dem Großstadtleben und der ihm beschränkt erscheinenden Eignung der Studenten wohl auch daran gelegen haben dürfte, dass Schäfer meinte, dort neuen Nährboden für seine ohnehin schon vorhandenen und durch die Bewunderung Treitschkes noch gewachsenen antisemitischen Ressentiments gefunden zu haben. Die erste Gelegenheit, Breslau zu verlassen, bot Schäfer 1888 ein Ruf nach Tübingen, den er umso freudiger annahm, weil sich sein Gehalt verdoppelte. Wie an seinen vorherigen Wirkungsstätten engagierte er sich auch in Tübingen neben der akademischen Lehre für die landesgeschichtliche Forschung, wobei er allerdings die Einsetzung einer Historischen Kommission für Württemberg zunächst zu verhindern versuchte, um die Stellung des Vereins für Württ. Geschichte, dem er selbst angehörte, nicht zu gefährden. Schäfer setzte seine Forschungen zur Hansegeschichte fort, profilierte sich in seiner Tübinger Zeit aber auch weiterhin als zeitgeschichtlicher Publizist.
Breite Aufmerksamkeit in der Geschichtswissenschaft fand der Methodenstreit, den er 1888/89 mit dem damals in Karlsruhe Nationalökonomie lehrenden Eberhard Gothein (➝ II 102) führte. In diesem Streit um das „eigentliche Arbeitsgebiet der Geschichte“, der als ein Vorhutgefecht der scharfen Kontroversen um Karl Lamprecht (1856–1915) gelten kann, vertrat Schäfer die Vorrangstellung politischer Macht als Gegenstand historischer Erkenntnis gegenüber kulturgeschichtlichen Fragestellungen.
1896 wechselte Schäfer auf eine Professur in Heidelberg, wofür wohl weniger materielle Erwägungen den Ausschlag gaben als vielmehr das größere Renommee der Ruperto-Carola; auch reizte es ihn, an der ehemaligen Wirkungsstätte seines Lehrers Treitschke tätig zu werden. Pekuniär bedeutete der Wechsel sogar einen Rückschritt, da sich bald herausstellte, dass seine Hörerzahlen deutlich geringer waren als in Tübingen, was in erster Linie daran lag, dass in Heidelberg Hörer anderer Fakultäten nicht verpflichtet waren, historische Vorlesungen zu besuchen. Eine breite Resonanz fand Schäfer dennoch, indem er außeruniversitäre Kreise für seine Anliegen, die immer offener auch tagespolitisch motiviert waren, zu gewinnen versuchte. So mischte er sich – legitimiert als Experte für die Hanse- und Seefahrtsgeschichte – 1897 mit der Schrift „Deutschland zur See“ in die aktuellen Diskussionen über die Flottenrüstung ein und unterstützte auch in zahlreichen Artikeln für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften mit großem Eifer die Tirpitzschen Pläne zum massiven Ausbau der deutschen Flotte. Neben dem Flottenverein gehörte Schäfer mehreren anderen „nationalen“ Vereinen an, auch dem am rechten Rand des politischen Spektrums befindlichen und von antisemitischen Kräften durchsetzten Alldeutschen Verband.
Stärker als zuvor engagierte sich Schäfer in den Heidelberger Jahren für die Nationalliberale Partei, für die er bereits in der Vergangenheit als Wahlkampfredner aufgetreten war. Gelegenheit, sich in der praktischen Politik zu bewähren, fand Schäfer, als ihn die Universität 1900 als Nachfolger des verstorbenen Juristen Georg Meyer in die I. Kammer der bad. Landstände entsandte. Dieser neuen Aufgabe verdankte Schäfer wertvolle Einsichten in die parlamentarische Arbeit; allerdings hinderte ihn sein nach eigener Einschätzung „nur kümmerlich entwickelter Ehrgeiz“ daran, eine weitergehende politische Laufbahn einzuschlagen. Auch erschienen ihm die einzelstaatlichen Angelegenheiten nicht wichtig genug, da sein „Denken und Empfinden […] von jeher auf unser gesamtes Volk gerichtet [war].“ (Mein Leben, S. 135)
Von der politischen Peripherie ins Zentrum der Macht gelangte Schäfer, als er 1903 einen Ruf nach Berlin annahm. Die größere Bühne betrat er allerdings nicht, in der Einsicht, dass sein partei- und vereinspolitisches Engagement der Heidelberger Jahre seine wissenschaftliche und publizistische Arbeit übermäßig beeinträchtigt habe. 1903 veröffentlichte Schäfer die Überblicksdarstellungen „Die deutsche Hanse“ und „Kolonialgeschichte“ und setzte in Berlin die Herausgabe der Hanserezesse fort, mit der er 1881 begonnen hatte – zwischen 1905 und 1913 erschienen die Bände 7 bis 9. Neben mediävistischen Arbeiten, die zumeist in Aufsatzform erschienen, griff Schäfer mit einer zweibändigen „Weltgeschichte der Neuzeit“, 1907, und einer ebenfalls zweibändigen, starke Verbreitung findenden „Deutschen Geschichte“, 1910, weit über sein angestammtes Arbeitsfeld hinaus und machte sich den Anspruch seines Lehrers Treitschke zu eigen, mit breit angelegten Darstellungen Beiträge zur geistigen und politischen Erziehung der Nation zu leisten. Hierzu gehörte auch, dass Schäfer weiterhin publizistisch zu politischen Tagesfragen Stellung bezog. Einen Schwerpunkt bildeten dabei in den unmittelbaren Vorkriegsjahren mit historischen Argumenten vorgetragene Plädoyers für eine starke Aufrüstung des Reiches zu Lande und zur See.
Mochte Schäfer schon in den Vorkriegsjahren als ein exaltierter Exponent des Typus eines politischen Professors erschienen sein, der auch ohne große Überzeichnungen eine Figur in Heinrich Manns „Untertan“ hätte darstellen können, so steigerte sich sein politisches Engagement während des I. Weltkriegs noch weiter. In zahlreichen Vorträgen und Schriften, u. a. einem Schützengrabenbuch über „Die deutsche Kultur und ihre Aufgaben“, beteiligte er sich an der „geistigen Wehrhaftmachung“ des Volkes, und seit 1915 betrieb er auch wieder Vereins- und Parteipolitik. Schäfer zählte zu den Gründern des politisch maßgeblich von ihm geprägten „Unabhängigen Ausschusses für einen deutschen Frieden“, der sich dem Kampf gegen die vermeintlich halbherzige Kriegspolitik des Reichskanzler Bethmann-Hollweg (1856–1921) verschrieben hatte. Wichtige Dienste im Propagandakrieg leistete er auch als einer der Ideologen der 1917 gegründeten Deutschen Vaterlandspartei, die in der Endphase des Krieges zum Sammelbecken der politischen Rechten wurde.
Kriegsniederlage und Revolution bedeuteten für Schäfer, der sich nun der DNVP anschloss, verständlicherweise eine nationale Katastrophe, die er in der Fortsetzung seiner publizistischen Tätigkeit immer wieder beklagte. In seinem weiterhin stattlichen Publikationsverzeichnis des letzten Lebensjahrzehnts sind streng wissenschaftliche Titel kaum noch zu finden. Zu den größeren Veröffentlichungen zählen neben einer Überblicksdarstellung der mittelalterlichen Geschichte, 1923, eine geschichtliche Zeitbetrachtung unter dem Titel „Staat und Welt“, 1922, und die Abhandlung „Osteuropa und wir Deutschen“, 1924, die beide in der von ihm herausgegebenen „Nationalen Bücherei“ erschienen. 1923 ließ sich Schäfer im Alter von 78 Jahren emeritieren. Nach dem Tod seiner Frau 1924 zog er sich allmählich aus der Öffentlichkeit zurück.
Schäferss politisches Engagement beschädigte in den Augen der meisten Zeitgenossen sein wissenschaftliches Renommee nicht. Dies belegen die zahlreichen Ehrungen, die ihm zum 75. und 80. Geburtstag zuteil wurden. Obwohl er methodisch nicht schulebildend wirkte, war Schäfer auch insofern ein einflussreicher Historiker, als neun seiner Schüler auf Lehrstühle gelangten – unter ihnen so unterschiedliche Persönlichkeiten wie der über die Umbrüche von 1933 und 1945 hinweg in Greifswald lehrende Adolf Hofmeister (1883–1956) und der im „Dritten Reich“ wegen politischer Meriten aufgestiegene Willy Hoppe (1884–1960).
Quellen: Berlin-Brandenburgisches AkademieA u. StA Bremen, Nachlässe Schäfer.
Werke: Buchpublikationen in Auswahl: Dänische Annalen u. Chroniken von d. Mitte des 13. bis zum Ende des 15. Jh.s, 1872; Die Hansestädte u. König Waldemar von Dänemark. Hansische Geschichte bis 1376, 1879; Hanserezesse von 1477 bis 1530, 9 Bde., 1881–1913; Das eigentliche Arbeitsgebiet d. Geschichte, 1888; Geschichte u. Kulturgeschichte, 1891; Geschichte von Dänemark, Bd. 4 (1523–1559), 1893; Deutschland zur See. Eine historisch-politische Betrachtung, 1897; Geschichte von Dänemark, Bd. 5 (1559–1648), 1902; Die deutsche Hanse, 1903; Kolonialgeschichte, 1903; Zur Beurteilung des Wormser Konkordats, 1905; Weltgeschichte d. Neuzeit, 2 Bde., 1907; Deutsche Geschichte, 2 Bde., 1910; Aufsätze, Vorträge u. Reden, 2 Bde., 1913; Bismarck. Ein Bild seines Lebens u. Wirkens, 2 Bde., 1917; Wie wurden wir ein Volk? Wie können wir es bleiben?, 1919; Staat u. Welt. Eine geschichtl. Zeitbetrachtung, 1922; Mittelalter. Ein geschichtlicher Überblick, 1923; Osteuropa u. wir Deutschen, 1924; Mein Leben, 1926.
Nachweis: Bildnachweise: K. Jagow (Hg.), 1925, gegenüber Titelblatt (vgl. Literatur).

Literatur: K. Jagow (Hg.), Dietrich Schäfer u. sein Werk, 1925; W. Vogel, Dietrich Schäfer, Worte des Gedächtnisses, in: Hansische Geschichtsblätter 34, 1929, 1–18; H.-Th. Krause, Dietrich Schäfer. Vom Schüler Treitschkes zum ideologischen Wegbereiter des I. Weltkriegs, phil. Diss. Halle 1968; K. Canis, Dietrich Schäfer (1845 bis 1929), in: Berliner Historiker, Beiträge zur Geschichte d. Humboldt-Universität zu Berlin 13, 1985, 7–22; K.-L. Ay, Dietrich Schäfer, in: Biograph. Lexikon zur Weimarer Republik, hgg. v. W. Benz u. H. Graml, 1988, 283 f.; L. Schorn-Schütte, Dietrich Schäfer, in: Historikerlexikon. Von d. Antike bis zum 20. Jh., hgg. v. R. von Bruch u. R. A. Müller, 1991, 273 f.; E. Pitz, Dietrich Schäfer als Hanseforscher, in: Hansische Geschichtsblätter 114, 1996, 141–166; J. P. Ackermann, Die Geburt des modernen Propagandakrieges im I. Weltkrieg. Dietrich Schäfer, Gelehrter u. Politiker, 2004.
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