Strölin, Karl Emil Julius 

Geburtsdatum/-ort: 21.10.1891; Berlin
Sterbedatum/-ort: 21.01.1963;  Stuttgart
Beruf/Funktion:
  • Oberbürgermeister von Stuttgart
Kurzbiografie: 1900-1902 Karlsgymnasium Stuttgart und Louisen-Gymnasium Berlin
1902-1909 Kadettenanstalten in Potsdam, Karlsruhe und Großlichterfelde
1909 Leutnant
1914-1918 Teilnahme am Ersten Weltkrieg
1919-1920 Dienst in der Reichswehr (Hauptmann)
1920-1923 Studium der Rechts- und Staatswissenschaften in Wien und Gießen
1924-1933 Stadtverwaltung Stuttgart
1933-1945 Oberbürgermeister von Stuttgart
1945-1948 Internierungslager
1948 Entnazifizierung
1949-1963 Ruhestand
Weitere Angaben zur Person: Religion: evangelisch
Verheiratet: unverheiratet
Eltern: Karl Eberhard Gottlieb Immanuel von Strölin (1858-1920), Generalmajor
Karoline Wilhelmine Pauline, geb. Seybold (1867-1944)
Geschwister: Kurt Julius (1892-1914)
Marianne Pauline (1893-1918)
Hans Albrecht Rudolf Gustav Wilhelm (1899-1933)
GND-ID: GND/119252015

Biografie: Paul Sauer (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 2 (1999), 449-450

Als ältester Sohn eines Offiziers war dem einer alten württembergischen Familie entstammenden Strölin der Berufsweg gewissermaßen vorgezeichnet. Nach dem Besuch der Kadettenanstalten in Potsdam, Karlsruhe und Großlichterfelde wurde er 1909 zum Leutnant ernannt. Im Ersten Weltkrieg stand er von Anfang an an der Front und kehrte nach Kriegsende als hochdekorierter Hauptmann aus dem Feld zurück. Er blieb zunächst Soldat. Doch schon 1920 schied er aus der Reichswehr aus, weil er in einem akademischen Beruf günstigere Perspektiven sah. Sein rechts- und staatswissenschaftliches Studium in Wien und Gießen schloß er 1923 mit einer Dissertation „Die wirtschaftliche Lage des Mittelstands und der Arbeiterschaft der Stadt Stuttgart vor und nach dem Krieg“ ab. Diese Arbeit entsprach seinen politischen und volkswirtschaftlichen Interessen. 1924 trat er in den Dienst der Stadt Stuttgart (zuletzt Stadtamtmann).
Politisch nach rechts orientiert, knüpfte er bereits 1923 erste Kontakte zu der nationalsozialistischen Bewegung, offizielles Mitglied der NSDAP wurde er aber erst Anfang 1931. Seit Ende desselben Jahres vertrat er als Fraktionsvorsitzender die Hitler-Partei im Gemeinderat. Am 16. März 1933 berief ihn die neuetablierte nationalsozialistische Landesregierung zum Staatskommissar für Stuttgart, und am 1. Juli 1933 ernannte sie ihn zum „Oberbürgermeister auf Lebenszeit“. Dieses Amt bekleidete er bis 1945.
Strölin war, daran kann es gar keinen Zweifel geben, Nationalsozialist, Exponent des NS-Regimes in Stuttgart. Ihn zeichneten aber auch persönliche Integrität, ein ausgeprägter Sinn für Recht und Gerechtigkeit sowie ein hohes Maß an Pflicht- und Verantwortungsbewußtsein aus. Unbestritten ist ferner, daß er in den zwölf Jahren, in denen er an der Spitze der Stadtverwaltung stand, viel für die Stadt Stuttgart und für ihre Bürger getan hat. Auch gewann er als Kommunalpolitiker schon bald über die Grenzen Deutschlands hinaus hohes Ansehen. 1937 wurde er in Paris von Vertretern von 40 Staaten zum Präsidenten des Internationalen Verbandes für Wohnungswesen und Städtebau gewählt.
Obwohl er einer der obersten Repräsentanten des Hitler-Regimes in der württembergischen Landeshauptstadt war, hatte er bereits in der Anfangsphase des Zweiten Weltkriegs Verbindung zu der Widerstandsbewegung um den früheren Leipziger Oberbürgermeister Dr. Carl Goerdeler und leistete ihr wertvolle Dienste. Daß er aber nach dem mißlungenen Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 im Amt blieb und sich nach außen hin weiterhin als kämpferischer, zum Durchhalten entschlossener Nationalsozialist gab, hat ihm den Vorwurf des Opportunismus eingetragen. Man warf ihm vor, sein Gesinnungswandel sei erst erfolgt, als sich nach den ersten schweren Niederlagen abzeichnete, daß das Deutsche Reich den von Hitler frevelhaft entfesselten Krieg verlor. Strölin hat immer wieder beteuert, er sei kein Opportunist und erst recht kein willfähriges Werkzeug des Regimes gewesen, er habe vielmehr frühzeitig erkannt, daß Hitler das deutsche Volk mit sich ins Verderben riß, auch daß das Dritte Reich nicht den von ihm angestrebten Sozialismus, unter Respektierung des Lebensrechts anderer Völker, verwirklichte, sondern daß der Nationalsozialismus eine Gewaltherrschaft übelster Art in Deutschland aufgerichtet hatte, daß Hitler Recht und Menschenwürde mit Füßen trat und daß er zum Eroberungskrieg drängte. Er habe deshalb schon bald Konsequenzen gezogen und im Rahmen seiner Möglichkeiten alles getan, nicht nur um Gewalt und Unrecht zu mildern, sondern um auch gegen das Regime selbst Front zu machen. Viele Zeitgenossen haben ihm dies attestiert. Indes blieb er, weil er die Gewaltherrschaft überlebte und in den Strudel der Entnazifizierung geriet, über seinen Tod am 21. Januar 1963 hinaus im Zwielicht.
Erst vor wenigen Jahren wurden die Entnazifizierungsakten für die wissenschaftliche Benützung freigegeben. Sie ergaben im Fall des Stuttgarter NS-Oberbürgermeisters ein überraschend klares Bild. Die hier vorliegenden unanfechtbaren Dokumente und Zeugenaussagen lassen keinen Zweifel, daß sich Strölin schon vor dem Krieg vom NS-Regime distanzierte und daß er seit 1938 für eine Beseitigung der NS-Herrschaft eintrat, nachdem ihm, dem Kriegsgegner und überzeugten Europäer, deutlich geworden war, daß Hitler auf den bewaffneten Konflikt zusteuerte. Dem Widerstandskreis um Goerdeler gehörte er mindestens seit 1940 an, und er hat sich mit dessen Zielen identifiziert. Er hat einer großen Zahl von Verfolgten geholfen, mehr als 20 hat er vor der Vollstreckung der bereits über sie verhängten Todesurteile bewahrt, gegenüber der Partei hat er sich exponiert, hat sich offen und unmißverständlich gegen die Judenverfolgung und gegen die Bedrückung der Kirchen ausgesprochen. Er hat in den letzten Kriegsmonaten die Zerstörungsbefehle mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln sabotiert und dabei bewußt sein Leben aufs Spiel gesetzt.
Schon zu Beginn des Krieges wollte er von seinem Amt zurücktreten, weil er die Politik des Regimes nicht länger mittragen konnte. Männer wie Carl Goerdeler, sein Amtsvorgänger Carl Lautenschlager und der frühere Polizeipräsident Paul Hahn beschworen ihn jedoch, an seinem Platz zu verbleiben. Nur so könne er im Sinne seiner Überzeugung für Stuttgart und seine Bürger Gutes wirken und andererseits verhindern, daß die Stadt einem willfährigen Vertreter des Regimes ausgeliefert werde.
Im Frühjahr 1945, als sich französische und amerikanische Truppen Stuttgart näherten, harrte Strölin auf seinem Posten aus. Am Morgen des 22. April 1945 übergab er im Gasthof zum Ritter in Degerloch die Stadt Stuttgart den Franzosen. Wenige Tage später nahm ihn die amerikanische Militärpolizei in „automatischen Arrest“. Er verbrachte drei Jahre in Gefängnissen und Internierungslagern und kam erst wieder im Mai 1948 auf freien Fuß. Das Urteil der Spruchkammer I Stuttgart vom 7. Oktober 1948, die ihn in die Gruppe der Minderbelasteten einstufte, bedeutete für einen Mann seiner Stellung eine weitgehende Entlastung. Freilich, dieses Urteil war in der Öffentlichkeit umstritten, ebenso die Entscheidung im Nachverfahren, Strölin sogar den Status eines Mitläufers zuzuerkennen, weil wesentliche Dokumente und Zeugenaussagen vom Gericht unter Verschluß blieben. Erst heute können wir bestätigen, daß die Spruchkammer das Verhalten Strölins in der Zeit des NS-Regimes gewissenhaft bewertet und ausgewogen beurteilt hat.
Quellen: Stadtarchiv Stuttgart: Unterlagen (einschließlich Nachlaß) Oberbürgermeister Dr. Karl Strölin; StA Ludwigsburg: Entnazifizierungsakten Dr. Karl Strölin
Werke: Die Deutsche Gemeindeordnung. Vortrag (Stuttgart 1935); Der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit in der Stadt Stuttgart, 1936; Die Neuordnung des Gemeindeprüfungswesen, in: Jahrbuch für Kommunalwissenschaft. 2. Jg. 1935, 2. Halbjahresband, 105-144; L’administration de la ville de Stuttgart, 1937; Stuttgart im Endstadium des Krieges, Stuttgart 1950; Verräter oder Patrioten? Der 20. Juli und das Recht auf Widerstand, 1952
Nachweis: Bildnachweise: Stadtarchiv Stuttgart (zahlreiche Fotos)

Literatur: Roland Müller, Stuttgart zur Zeit des Nationalsozialismus, 1988; Walter Nachtmann, Karl Strölin. Stuttgarter Oberbürgermeister im „Führerstaat“, 1995
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