Mittelalterliche Glasmalereien in Esslinger Kirchen

Die Glasfenster der Frauenkirche in Esslingen. Copyright: LABW
Die Glasfenster der Frauenkirche in Esslingen. Copyright: LABW
Esslingen bewahrt noch heute in drei mittelalterlichen Kirchen Glasmalereien aus hochgotischer Zeit. Insgesamt zählt der Bestand über 400 gut erhaltene Scheiben, von denen sich allein drei Viertel heute in der Stadtkirche St. Dionys befinden.

Die fünf vierbahnigen, 14-zeiligen Chorfenster von St. Dionys nehmen einen umfangreichen Bildzyklus auf, der in mehreren Abschnitten um 1300 bis zur Mitte des 14. Jh. entstanden ist und sich durch seine thematische Vielfalt und künstlerische Qualität auszeichnet. Die ältere Gruppe zeigt im Chorachsenfenster einen typologischen Bibelzyklus, der die neutestamentliche Heilsgeschichte Christi in Bezug zu alttestamentlichen Szenen setzt. Die weiteren Fenster enthalten Szenen aus dem Themenkreis des Jüngsten Gerichtes (Kluge und törichte Jungfrauen, Apostelmartyrien), der Psychomachie (Kampf der Tugenden und Laster, ergänzt um Apostel mit Glaubensbekenntnissen) und des Physiologus, dessen vermeintliche Autoren Platon und Aristoteles ebenfalls mit abgebildet wurden. Zur Jahrhundertmitte wurde die Verglasung um das Marien- und das Vita-Christi-Fenster erweitert, welche ein retrospektives Stilbild zeigen und durch die monumentalen Architekturbekrönungen neuartige Gestaltungselemente einbringen. Weitere vier Bahnen mit Ornamentscheiben wurden 1899 aus der Franziskanerkirche hierher übertragen. In deren Chor befinden sich noch 18 Scheiben aus dem zentralen, dreiteiligen Bibelfenster. Hier werden je einer neutestamentlichen Szene zwei Szenen aus dem Alten Testament gegenübergestellt. Mit ehemals 45 Szenen war dies der umfangreichste Zyklus seiner Art, der nur von der typologischen Chorverglasung der Oberkirche zu Assisi übertroffen wurde.

Die Farbverglasung der Frauenkirche entstand um 1330. In ihren drei Chorfenstern befinden sich noch mehr als 100 Scheiben. Auch hier zeigt das zentrale Fenster einen dreiteiligen, jedoch weniger umfangreichen typologischen Bibelzyklus, der konzeptionell von demjenigen der Franziskanerkirche abhängig ist. Im flankierenden Marienfenster wird die apokryphe Legende von Maria in einer ungewöhnlichen Ausführlichkeit erzählt und durch alltägliche Szenen bereichert, die das mittelalterliche Leben veranschaulichen, wie zum Beispiel das Bad der Maria, der Schulgang des Jesusknaben oder Maria am Webstuhl. Das dritte Fenster vereint Scheiben aus unterschiedlichen Zusammenhängen, darunter ein Märtyrerzyklus und die ehemalige fensterübergreifende Komposition eines Thron Salomonis.

Esslingen war während seiner Blütezeit im 14. Jh. ein bedeutendes Kunstzentrum, das weit über die Region hinaus ausstrahlte. Auch wenn es an historischen Quellen mangelt – lediglich ein Konrad der Glaser ist bekannt – kann dies aus der großen Zahl überlieferter Kunstwerke erschlossen werden. In kaum einer anderen Stadt lässt sich die Entwicklung der Glasmalerei während eines halben Jahrhunderts anhand des überlieferten Bestandes so veranschaulichen wie hier, zumal die Glasfenster nicht wie andernorts durch historisierende Restaurierungen des 19. Jh. verunklärt wurden. Selten ist die Wirkung der Farbfenster auf den mittelalterlichen Menschen noch so unmittelbar erfahrbar wie in den Esslinger Kirchen. Die thematische Vielfalt, ihre künstlerische Qualität und ihre quantitative Überlieferung stellt die hochgotischen Esslinger Glasmalereien auf eine Stufe mit den zeitgleichen Glasmalerei-Beständen aus Köln, Freiburg oder Regensburg.

Michael Burger

Veröffentlicht in: Der Landkreis Esslingen. Hg. v. der Landesarchivdirektion Baden-Württemberg in Verbindung mit dem Landkreis Esslingen (Kreisbeschreibungen des Landes Baden-Württemberg). Ostfildern 2009, Bd. 1, S. 223. 
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