Entsetzte Bevölkerung – ratlose Obrigkeit

Erdbeben, Kometen und Wunderzeichen im Herzogtum Württemberg während des 17. Jahrhunderts

 

Doppelköpfiges Lamm in Tübingen, 1646. Federzeichnung 33 x 40 cm. Vorlage: LABW, HStAS A 202 Bü 2821 Qu. 46. Zum Vergrößern bitte klicken.
Doppelköpfiges Lamm in Tübingen, 1646. Federzeichnung 33 x 40 cm. Vorlage: LABW, HStAS A 202 Bü 2821 Qu. 46. Zum Vergrößern bitte klicken.

Mit einer solch dramatischen Wendung hatte Margaretha Müntzing, die Witwe eines Münsinger Hufschmieds, nicht gerechnet. Wie jeden Tag hatte sie auch am Pfingstabend 1645 die Milch ihrer einzigen Ziege in zwei Tongefäße gefüllt, mit einem Deckel versehen und in der Stube gelagert. Als die Frau tags darauf die Ziegenmilch wieder hervorholte, erblickte sie auf dem Rahm etliche rote Striche, die wie Zwirnfäden aussahen. Ganz entsetzt zeigte sie das Geschehnis ihrer alten Mutter, die es ebenmäßig mit Schröckhen und Verwunderung angesehen. Rasch wurde die Sache in der Stadt ruchbar. Neugierig liefen die Leute herbei, um zu beobachten, wie sich große Bluethfleckhen bildeten, die an rote, aus Zinnober und Lack zubereitete Tinte erinnerten. Selbst der Münsinger Pfarrer und der dortige Amtskeller maßen dem Geschehen eine unheilvolle Vorbedeutung bei, die sie auf natürliche Weise nicht zu erklären wussten. Unverzüglich erstatteten sie dem Geheimen Rat in Stuttgart Bericht.

Im Hauptstaatsarchiv Stuttgart sind drei bemerkenswerte, mit zahlreichen Zeichnungen illustrierte Akten aus der Zeit von 1639 bis 1695 überliefert, die uns Kenntnis von derartigen Vorfällen geben. In Dutzenden von Schriftstücken brachten die lokalen Amtleute und Seelsorger dem Landesherrn die Ängste und Sorgen der Untertanen nahe. Sie berichteten von Erdbeben, von rätselhaften Himmelszeichen und Wetterphänomenen, aber auch von individuellen Schicksalsschlägen, die als Omen für die Gemeinschaft gedeutet wurden.

Zwischen dem 19. und dem 30. März 1655 kam es im Raum Tübingen zu einer Reihe heftiger Erdstöße, die Häuser erzittern und Kamine einstürzen ließen. In höchster Forcht und Schreckhen erkannten die Tübinger Vögte in den Beben eine Warnung Gottes, der man mit bueßferttigen Herzen begegnen sollte, um drohende Strafen abzuwenden. Auch das Erscheinen eines Kometen wurde zumeist als Vorbote für Gottes Zorn interpretiert. Ein Schweifstern, der im August 1664 beobachtet werden konnte, zog Meldungen aus allen Teilen des Landes nach sich. Zehn Jahre zuvor hatte eine halbstündige Lichterscheinung bei Bietigheim, in deren Zentrum eine Totenbahre zu erkennen war, die Menschen im mittleren Neckarraum geängstigt. In den letzten Jahren des Dreißigjährigen Krieges wurde der herzoglichen Regierung häufig von mysteriösem Blutregen und Missgeburten berichtet. Letztere erklärte man sich in einem gewissen Maße mit der Kriegsnot. So brachte eine schwangere Frau, die im Januar 1645 mit ihren Habseligkeiten von Weil im Schönbuch nach Tübingen geflohen war, ein missgebildetes Mädchen tot zur Welt, das von den dortigen Medizinern untersucht und bildlich festgehalten wurde.

Nur selten äußerte sich der Geheime Rat direkt zu den eingehenden Berichten. Zumeist begnügte man sich mit dem Vermerk: Beruht auf sich. Oder man wies die Pfarrer im gesamten Herzogtum an, Buße und Gottesfurcht zu predigen. Selbst wenn man Gutachten der Medizinischen Fakultät der Universität Tübingen einholte, so etwa zur Analyse von vermeintlichem Blutwasser, bleibt die Ratlosigkeit der politischen Entscheidungsträger unverkennbar. Doch welche Alternativen hätten die gelehrten Räte überhaupt gehabt?

Albrecht Ernst

Quelle: Archivnachrichten 63 (2021), Seite 18-19.

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