Die Tagebücher von Karl Fraaß: Mit den Augen eines Spartakisten 

Tagebucheintrag von Karl Fraaß zum 9. November 1918 - Quelle: LABW (StAL sarchiv Ludwigsburg PL 7 Bü. 1)
Tagebucheintrag von Karl Fraaß zum 9. November 1918 - Quelle: LABW (StAL sarchiv Ludwigsburg PL 7 Bü. 1)

Selbstzeugnisse, gar Tagebücher, gehören nicht unbedingt zu den Dokumenten, die man in amtlichen Unterlagen und damit in einem staatlichen Archiv vermuten würde. Zwar finden sich solche Unterlagen in Nachlässen bedeutender Politiker, wie sie viele große Archive verwahren. Private Aufzeichnungen von Personen, die nicht zur Führungselite gehörten, oder gar solche von Oppositionellen würde man dagegen eher in den Beständen des Deutschen Tagebucharchivs oder eines Kommunalarchivs suchen. Es ist daher wie so oft einigen Zufällen zu verdanken – nämlich den Forschungsinteressen eines Ludwigsburger Archivars und seinen persönlichen Beziehungen –, dass vom Staatsarchiv Ludwigsburg 1981 die schriftliche Hinterlassenschaft des Stuttgarter Spartakisten Karl Fraaß (Bestand PL 7) übernommen werden konnte. Die Papiere enthalten neben diversen Korrespondenzen und einer Reihe von Fotos auch umfangreiche Tagebuchaufzeichnungen aus der Zeit unmittelbar nach Ende des Ersten Weltkriegs. Gerade Letztere ergänzen nicht nur die in der amtlichen Überlieferung erhaltenen Unterlagen über den Spartakisten, sondern stellen eine Quelle von eigenem Wert insbesondere für die Umbruchzeit unmittelbar nach dem Sturz der Monarchie dar. Das Schicksal des im Jahr 1900 geborenen Karl Max Fraaß lässt sich wie das vieler seiner kommunistischen Zeitgenossen in seinen Grundzügen den ebenfalls im Staatsarchiv Ludwigsburg verwahrten Wiedergutmachungsakten entnehmen. Danach stieß Fraaß bereits in jungen Jahren zur KPD und betätigte sich auch in verschiedenen anderen sozialistischen Jugendvereinigungen. Beruflich war er bis zu seiner Entlassung im Zuge der Weltwirtschaftskrise 1930 als Elektromonteur tätig. Anschließend ging er als Volontär zu einer sozialistischen Büchergemeinschaft, in deren Auftrag er sich mehrfach im Ausland aufhielt. In diesem Zusammenhang führten ihn Anfang der 1930er-Jahre auch zwei Reisen in die Sowjetunion. 1933 flüchtete er über die Schweiz nach Frankreich und betätigte sich dort mehrere Jahre als Verleger. Nach der deutschen Besetzung Frankreichs kehrte er illegal in die Schweiz zurück, von wo er nach Deutschland abgeschoben wurde. Hier war er wieder als Elektromonteur beschäftigt – unterbrochen durch einen Fronteinsatz bei der Organisation Todt.

Wie viele junge Leute seiner Generation führten auch Fraaß der Erste Weltkrieg und die mit ihm einhergehenden sozialen und wirtschaftlichen Umbrüche in die Politik. Die Revolution in Württemberg mit dem Sturz des Königs und der Bildung von Arbeiter- und Soldatenräten sowie die sich anschließenden unruhigen Weimarer Jahre hat er unmittelbar miterlebt und seine Beobachtungen und Gefühle einem Tagebuch anvertraut, das im Oktober 1918 beginnt und mit größeren Unterbrechungen bis in die 1940er-Jahre reicht. Diese Aufzeichnungen sind nicht nur wegen der darin enthaltenen Berichte über die Ereignisse in Stuttgart von Interesse, sondern auch weil sie in ihrer Mischung aus politischem Radikalismus, jugendbewegter Naturbegeisterung und spätpubertären Gefühlsverwirrungen exemplarisch Aufschluss geben über Mentalität und Gefühlslage einer Generation junger Leute, deren Erwachsenwerden in die Zeit der sogenannten „Jahrhundertkatastrophe" fiel und deren weiterer Lebensweg später nicht wenige bis in die Führungselite eines der totalitären Regime in Europa führte. Fraaß sind solche Erfahrungen erspart geblieben, seine Jugenderinnerungen verdienen aber vielleicht gerade deshalb eine besondere Aufmerksamkeit.

Peter Müller

Quelle: Archivnachrichten 37 (2008), S. 16-17.

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