„Gucken Sie, dass Sie Ihre Biografie anders schreiben.“

Das „Stigma Heimkind“

von Corinna Keunecke

 

Häufig sind ehemalige Heimkinder durch die damalige physische, psychische, sexualisierte und strukturelle Gewalt in den Heimen bis heute traumatisiert und haben diverse Ängste. Oft kommt die Scham hinzu, im Heim gewesen zu sein. Viele litten unter dem Stigma und versuchten deshalb, ihren Heimaufenthalt zu verbergen, häufig sogar vor dem engsten Umfeld. Akua Desta, die in verschiedenen Einrichtungen und Pflegefamilien aufgewachsen ist, nennt dies das „Stigma Heimkind im Inneren“. Es äußert sich in dem Gefühl, „nicht richtig“ gewesen zu sein und etwas „falsch gemacht“ zu haben – so, als habe man das Heim mitsamt der Gewalt verdient.

 

„Weder ich noch mein Bruder (…) dürfen Post zu dem Thema nach Hause bekommen!“

Darum bittet ein Betroffener, als er sich wegen einer Recherche an die Projektstelle wendet. Weiter schreibt er: „Bitte alles ausschließlich per E-Mail oder am Telefon nach vorheriger Absprache, da unser komplettes Umfeld nichts davon weiß und auch weiterhin nichts wissen soll!“ Die Sätze leuchten in roten Buchstaben in der ansonsten nüchtern verfassten Nachricht.

Evelyne Rochus-Hamlin, Beraterin bei der baden-württembergischen Anlaufstelle der Stiftung Anerkennung und Hilfe, weiß um diese Ängste: „Wenn ich mich in meiner Arbeit (…) mit etwas intensiv auseinandersetzen musste, dann ist es dieses Thema!“ Viele berichten bei der Antragstellung zum ersten Mal von ihrem Heimaufenthalt. Manchmal komme es auch vor, dass ein Betroffener aus Angst vor der „Enttarnung“ durch sein Umfeld seinen Antrag bei der Stiftung zurückziehen möchte. Auch wenn sie die Antragsstellung immer unterstützen, nehmen die Beraterinnen diese Sorgen sehr ernst: „Ich würde niemandem aus dem Blauen heraus raten, sich seinem Umfeld zu öffnen. Das ist ein sehr komplexer Sachverhalt mit vielen Variablen und schwer vorhersagbaren Folgen“, so Rochus-Hamlin.

 

„Ich würde Sie gerne nehmen, aber...“

Eine Vorbereitung auf das Erwachsenenleben fand im Heim selten statt. Das Stigma des Heimaufenthalts erschwerte es den ehemaligen Heimkindern, die oft ganz alleine waren, zusätzlich, ihren Platz im Leben zu finden.

Akua Desta bewarb sich erfolglos für einen Ausbildungsplatz. Ein Chef sagte ihr ganz offen: „Ich würde Sie gerne nehmen, aber ich weiß, dass Menschen wie Sie unstet sind.“ Er riet ihr, ihre Biografie bei künftigen Bewerbungen zu ändern. Sie denkt, dass er das „Unstete“ durchaus nicht als Charaktereigenschaft von Heimkindern wahrnahm, sondern im Heim gemachten Erfahrungen zugeschrieb. Doch die Konsequenz für sie war die gleiche: die strukturelle Benachteiligung von (ehemaligen) Heimkindern wurde fortgeschrieben.

 

Mit den eigenen Erfahrungen nicht allein

Wie kann man den Betroffenen helfen, deren Leben bis heute durch Ängste geprägt wird? Erfahrungen anderer Ehemaliger zu hören kann helfen, in den eigenen Erinnerungen und Wahrnehmungen bestärkt zu werden. Das zeigen die Erfahrungen der Projekte des Landesarchivs und das bestätigt auch Rochus-Hamlin: „Oft erzähle ich (…), dass die gleichen Begebenheiten von anderen auch genau so geschildert wurden, so dass die Menschen merken, dass sie mir ihren Erfahrungen nicht alleine sind.“

 

Zitierhinweis: Corinna Keunecke, Das „Stigma Heimkind“, in: Heimkindheiten, URL: […], Stand: 17.02.2022.

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