Aufarbeiten im Archiv

von Nora Wohlfarth
 

In Heiligenbronn bei Schramberg wurden die nicht-sinnesbehinderten Mädchen in der Einrichtung im Unterschied zu den hör- und sehgeschädigten Schülern als „Vollsinnige“ gekennzeichnet [Quelle: Archiv Stiftung St. Franziskus]. Zum Vergrößern bitte klicken.
In Heiligenbronn bei Schramberg wurden die nicht-sinnesbehinderten Mädchen in der Einrichtung im Unterschied zu den hör- und sehgeschädigten Schülern als „Vollsinnige“ gekennzeichnet [Quelle: Archiv Stiftung St. Franziskus]. Zum Vergrößern bitte klicken.

Archive sind für die historische Aufarbeitung unerlässlich. Die Erforschung historischen Unrechts ist ohne die Quellen, die in Archiven gesichert sind, kaum möglich. Und so haben Archive auch für die Erforschung der Heimerziehung in der Nachkriegszeit eine entscheidende Rolle gespielt. Das Projekt Heimerziehung und in seiner Fortsetzung das Dokumentationsprojekt Zwangsunterbringung des Landesarchivs Baden-Württemberg sind in dieser Form nach wie vor einzigartig. Doch es gibt weitere Beispiele für Aufarbeiten im Archiv.

Nach Übernahme der Unterlagen aus der Odenwaldschule hat sich das Hessische Landesarchiv umfassend in der Aufarbeitung engagiert. In der Odenwaldschule war es von den 1970er bis in die 1980er Jahre zu systematischem sexuellen Missbrauch durch u.a. den Schulleiter Gerold Becker gekommen. Nachdem die Akten der Schule dem Landesarchiv angeboten wurden, kam es zu einer ertragreichen Zusammenarbeit mit einerseits Betroffenen und Betroffenenvereinigungen, andererseits der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs und weiteren Beteiligten. In der daraus entstandenen Tagung (und Publikation) „Archive und Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs“ wurden viele Fragen diskutiert, die auch über dieses Thema hinaus für Archive und Aufarbeitung relevant sind: die Auskunfts- und Einsichtsrechte für Betroffene und Forschende, die Möglichkeit von Betroffenen, ihre Sichtweise in Akten zu ergänzen und die Frage, ob Akten, die Persönlichkeitsrechte von Betroffenen verletzten, vernichtet werden sollten und wie Archive eigentlich mit Material pädosexuellen Inhalts umgehen sollten. Auf der Tagung wurden nach durchaus kontroversen Debatten einige Punkte identifiziert, die für die Aufarbeitung unter Beteiligung von Archiven entscheidend sind. Dazu gehört zunächst die Bedeutung einer korrekten Aktenführung sowie die sorgfältige historische Arbeit, konkret die konsequente Quellenkritik. Betroffenen sollte niederschwellig der Zugang zu „ihren“ Akten ermöglicht werden – wie das in den Projekten des Landesarchivs auch immer gehandhabt wurde – und der Quellenkorpus durch fundierte und systematisch durchgeführte Interviews mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen ergänzt werden. Solche Interviews sind dann als archivwürdig einzuschätzen. Nicht zuletzt ist es Aufgabe der Forschung das jeweilige Geschehen in den zeitgenössischen Kontext einzuordnen.

Dies ist nur ein Beispiel für einen Aufarbeitungsprozess, in dem ein Archiv eine große Rolle gespielt hat. Weitere internationale Beispiele gibt Christian Keitel in seinem Artikel hier im Themenmodul „Anmerkungen zur Aufarbeitung der Heimerziehung“. Wie einige dieser Beispiele zeigen, beginnt Aufarbeiten im Archiv schon bevor die Akten im Archiv sind, das zeigt auch Felix Teuchert in seiner Transferarbeit, in der er sich über die Rechte von Bürgerinnen und Bürgern und die berechtigten Belange von Betroffenen als Ziel der Überlieferungsbildung Gedanken macht. Die Frage nach persönlichen Gründen für die Bedeutung von Akten spielt bei der Entscheidung für oder gegen die Übernahme von Akten häufig eine untergeordnete Rolle, auch wenn die Wahrung berechtigter Belange in den meisten Archivgesetzen festgehalten ist. Am Beispiel von u.a. Heimerziehung, aber auch den Themen Migration, Flucht und Asyl und der Aufarbeitung von Diktaturen und Menschenrechtsverbrechen sowie indigenen communities diskutiert er Möglichkeiten, die Bedarfe von Einzelpersonen in die fachlichen Entscheidungen im Archiv einzubeziehen und empfiehlt Archiven, die berechtigten Belange Betroffener stärker in der Überlieferungsbildung zu verankern.

In den folgenden Beiträgen werden verschiedene Aspekte rund um die Aufarbeitung im Archiv angesprochen: die bisherigen Projekte des Landesarchivs Baden-Württemberg zu Heimkindheiten werden vorgestellt und einige Ergebnisse präsentiert, aber auch die verschiedenen Bedeutungen die archivische Quellen je nach Sichtweise annehmen – aus Forschungssicht ebenso wie aus Sicht eines Betroffenen. Alle Beiträge zeigen damit auch die gesellschaftliche und politische Relevanz archivischer Arbeit.

 

Literatur:

  • Andresen, Sabine/Kistenich-Zerfaß, Johannes, Vorwort, in: Archive und Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs. Dokumentation einer Tagung der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs und des Hessischen Landesarchivs. Arbeiten der Hessischen Historischen Kommmission Band 41, hg. von Sabine Andresen/Johannes Kistenich-Zerfaß, Darmstadt 2020, S. 5-8.
  • Teuchert, Rechte der Bürger*innen und berechtigte Belange der Betroffenen als Ziel der Überlieferungsbildung. Überlegungen zum archivischen Umgang mit aus persönlichen Gründen wichtigen Unterlagen, Transferarbeit im Rahmen der Ausbildung für den höheren Archivdienst. 53. Wissenschaftlicher Lehrgang an der Archivschule Marburg, Abgabedatum: 1.4.2020, https://www.landesarchiv-bw.de/sixcms/media.php/120/Transferarbeit2020_Teuchert.pdf (aufgerufen am: 23.03.2022)

 

ZitierhinweisNora Wohlfarth, Aufarbeiten im Archiv, in: Heimkindheiten, URL: […], Stand: 21.03.2022.

 

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