Das Jugenddorf Gaisbühl in Reutlingen

Von Sarah Hoyer
 

Lageplan vom Jugenddorf Gaisbühl [Quelle: Landesarchiv BW, StAS Wü 42 T 38 Nr. 90]. Zum Vergrößern bitte klicken.
Lageplan vom Jugenddorf Gaisbühl [Quelle: Landesarchiv BW, StAS Wü 42 T 38 Nr. 90]. Zum Vergrößern bitte klicken.

Das Jugenddorf Gaisbühl wurde im Jahr 1949 unter der Trägerschaft der Gustav-Werner-Stiftung gegründet und gehörte zum Bruderhaus Reutlingen.[1] Erbaut wurden die vier Lehrlingsheime des Jugenddorfs ab 1951, bezugsfertig waren sie wohl Ende des Jahres 1952. Der Bau eines Gemeinschaftshauses, in dem Gottesdienste und festliche Veranstaltungen abgehalten werden konnten und in dem es einen Speisesaal, ein Lesezimmer und Spielräume gab, schloss sich unmittelbar an.

Mit der Errichtung eines Lehrlingsheims im Jugenddorf Gaisbühl wurde das Ziel verfolgt, den Lehrlingsnachwuchs zu fördern. Insgesamt verfügte das Lehrlingsheim über 144 Plätze, die dazu dienten, Lehrlinge und Anlernlinge auszubilden. Anlernlinge sind Personen, die – häufig durch eine Unterweisung am Arbeitsplatz – eine betriebliche Ausbildung erhalten, ohne dass sie dabei einen Beruf erlernen. Für Lehrlinge und Anlernlinge aus den Geschädigtengruppen der Flüchtlinge, Kriegssachentschädigten, politisch Verfolgten oder Spätheimkehrer mussten davon zunächst 65, ab 1958 jedoch nur noch 35 Plätze freigehalten werden. Im November 1959 wurde bei der Überprüfung der Lehrlingswohnheime durch das Ausgleichsamt Reutlingen festgestellt, dass de facto nur vier Plätze mit Geschädigten belegt waren – die Anzahl erhöhte sich im Folgejahr auf 22. Es handelte sich dabei überwiegend um Vertriebene, doch zuvor waren dort auch viele Personen untergebracht, die nach dem Lastenausgleichsgesetz versorgt wurden. Ausgelastet war die Einrichtung zu diesem Zeitpunkt mit insgesamt 80 Personen.

Durch die Gewährung einer Schlaf- und Wohnstätte sollte den Lehrlingen und Anlernlingen im Jugenddorf Gaisbühl eine Berufsausbildung ermöglicht werden, die sie vor allem auf Grund der Entfernung zu einer Lehrstätte an ihrem Wohnort nicht erreichen konnten. Bereits 1949 wurden ca. 100 Lehrlinge vom Jugenddorf aus in Lehrstellen, die sich innerhalb der Stadt Reutlingen befanden, sowie innerhalb der Werkstätten des Bruderhauses vermittelt. Die Einrichtung verfolgte darüber hinaus das Ziel, Geschädigte zu unterstützen. Aus diesem Grund wurden (wie oben erwähnt) zunächst 65 und späterhin noch 35 Plätze im Lehrlingsheim vorbehalten für Vertriebenen und Kriegsgeschädigten sowie weiteren Personen, die nach §301 Lastenausgleichsgesetz Leistungen aus dem Härtefonds erhalten konnten.

Ursprünglich war das Jugenddorf Gaisbühl ausschließlich zur Unterbringung von männlichen Lehrlingen konzipiert, doch wurden die Lehrlinge Ende der 1950er Jahre größtenteils in andere Heime verlegt. Eine Überprüfung durch das Ausgleichsamt Reutlingen im Jahr 1959 ergab, dass zu diesem Zeitpunkt auch volksschulpflichtige Kinder und schulentlassene Mädchen in dieser internatsähnlichen Einrichtung wohnten und Kurse belegten. In den vier Wohnheimen waren 1959 insgesamt 87 Schulkinder, 19 schulentlassene Mädchen (neun als „hauswirtschaftliche Anlernlinge“ und zehn in der Nähschule) sowie 12 Lehrlinge untergebracht. Das Jugenddorf Gaisbühl wurde in diesem Zuge zum Hilfsschulheim Oberlinschule. Trotz dieses Wandels wurde jedoch noch 1965 von der Gustav-Werner-Stiftung zum Bruderhaus in Reutlingen ein Förderungslehrgang für Berufsfindung und -vorbereitung im Jugenddorf Gaisbühl eingerichtet. Dieser Förderlehrgang zielte darauf ab, geistig behinderte männliche Jugendliche arbeits-, berufs- und sozialerzieherisch zu fördern, um sie auf eine Berufstätigkeit vorzubereiten.

Am 15.06.1959 eröffnete die Gustav Werner-Stiftung zusätzlich zum Lehrlingsheim das kinderpsychiatrische Beobachtungsheim „Im Ringelbach“, welches sich ebenfalls im Jugenddorf Gaisbühl befand. Es umfasste elf Plätze für Kinder zwischen vier und 12-13 Jahren. Beim so genannten „Mutter Werner-Heim“ handelte es sich um einen Neubau im Jugenddorfs Gaisbühl. Ein großer Wohnraum diente als Aufenthaltsraum und Esszimmer. Darüber hinaus gab es zwei 3-Bett- sowie ein 5-Bett-Zimmer. Die Leitung nahm eine heilpädagogisch vorgebildete, staatlich geprüfte Heimerzieherin wahr. Die kinderpsychiatrische Leitung hingegen erfolgte durch einen Stiftungsarzt der Gustav Werner-Stiftung. Seine Aufgabe bestand in der Klärung kindlicher Verhaltensstörungen und dem Einleiten einer ärztlichen Behandlung.

Aufgenommen wurden in das „Mutter Werner-Heim“ Kinder mit „Kinderfehlern“ oder sozialen Anpassungsschwierigkeiten. Das Beobachtungsheim diagnostizierte und behandelte insbesondere Fehlentwicklungen wie Neurosen mit und ohne Organstörungen, allgemeine psychosomatische Entwicklungsstörungen, Schulversagen sowie Lernschwierigkeiten. Schulpflichtige Kinder, die im Heim Aufnahme fanden, konnten während ihres zwischen zwei und vier Monaten andauernden Aufenthalts die Oberlinschule besuchen. Am ersten Sonntag im Monat durften ihre Familien sie besuchen.

 

Quellen

  • Landesarchiv BW, StAS Wü 42 T 38 Nr. 86, Wü 42 T 28 Nr. 3
  • Landesarchiv BW, StAL E 180 a II Bü 892, E 191 Bü 3601

 

Literatur

  • 150 Jahre Bruderhaus: 1840 – 1990, hrsg. v. der Gustav-Werner-Stiftung zum Bruderhaus, Reutlingen 1990.
  • Die Zeitschrift der Stiftung erschien zwischen 1949 und 1997 unter den Namen: Friedensbote aus dem Bruderhaus Reutlingen; Das Bruderhaus: Zeitschrift der Gustav-Werner-Stiftung zum Bruderhaus Reutlingen; Bruderhaus-Journal.
  • Deutsche Biographie „Gustav Werner", https://www.deutsche-biographie.de/sfz85138.html (zuletzt: 16.03.2022).

 

Anmerkungen

[1] 1855 nannte Gustav Werner seine diakonische Einrichtung „Bruderhaus“ und 1881 gründete er die „Gustav Werner Stiftung zum Bruderhaus“, „um das geistige und leibliche Wohl der Nebenmenschen zu fördern, den Armen und Verlassenen eine Heimath zu schaffen und diese im Geiste christlicher Bruderliebe zu verwalten.“ Deutsche Biographie „Gustav Werner, https://www.deutsche-biographie.de/sfz85138.html (zuletzt: 16.03.2022).
 

ZitierhinweisSarah Hoyer, Das Jugenddorf Gaisbühl in Reutlingen, in: Heimkindheiten, URL: […], Stand: 21.02.2022.

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