Jugendliche in den Gesetzen der Behindertengesetzgebung

 

von Christoph Beckmann

Ausschnitt aus dem Bundessozialhilfegesetz von 1961 [Quelle: Bundesgesetzblatt online, s. Bildnachweis]. Zum Vergrößern bitte klicken.
Ausschnitt aus dem Bundessozialhilfegesetz von 1961 [Quelle: Bundesgesetzblatt online, s. Bildnachweis]. Zum Vergrößern bitte klicken.

Im Schwerbehindertengesetz (1974) macht bereits der erste Paragraph deutlich, dass das Gesetz kaum mit dem Gedanken an Minderjährige verfasst wurde: Es legt den unter das Gesetz fallenden Personenkreis danach fest, ob sie in ihrer Erwerbsfähigkeit dauerhaft um die Hälfte gemindert sind.[1] Zwar ließe sich argumentieren, dass sich die Aussicht auf Erwerbsfähigkeit als Erwachsene auch für Minderjährige bestimmen ließe, die Formulierung lässt jedoch kaum darauf schließen, dass diese im Gesetz mit bedacht wurden. Es beschäftigt sich dann auch hauptsächlich mit der Schaffung von Arbeitsplätzen für Schwerbehinderte – ihre Erziehung kommt nicht vor.

Jedoch war die Schaffung von „Werkstätten für Behinderte“, einer der Hauptinhalte des Gesetzes[2], sicherlich auch für viele Jugendlich relevant, auch wenn sich diese Bedeutung für Jugendliche im Gesetz nicht niederschlägt.

Ein ähnlicher Fokus auf Arbeitsmöglichkeiten zeichnet auch das Bundessozialhilfegesetz (1961) aus. Es ist vom Ziel bestimmt, sich selbst überflüssig zu machen. So heißt es in §1 des Gesetzes in Bezug auf mögliche Empfänger von Leistungen: „Die Hilfe soll ihn soweit wie möglich befähigen, unabhängig von ihr zu leben.“[3] Ziel ist also die Reintegration in das Berufsleben.

Dass die Bestimmungen des Gesetzes auch für Minderjährige gedacht sind, wird nur am Rande deutlich. So findet sich etwa bei den Bestimmungen für die Möglichkeit der Unterbringung nicht arbeitswilliger Sozialhilfeempfänger in Arbeitshäusern[4] die Bemerkung, diese sei „bei Personen unter achtzehn Jahren“ nicht zulässig. Auch die Bemerkung, dass im Rahmen dieses Gesetzes gewährte Ausbildungshilfe auch die Unterstützung des Schulbesuches umfassen kann[5], legt nahe, dass die Autoren des Gesetzes die Anwendung desselben auf Minderjährige durchaus im Blick hatten. Im Rahmen der Eingliederungshilfe für Menschen mit sowohl körperlichen, als auch geistigen Behinderungen, wurde die Unterstützung des Schulbesuchs nochmals bekräftigt[6].

Diese Unterstützung wurde dabei sehr weit gefasst. So gehören, entsprechend der 1964 erlassenen Verordnung zur Eingliederungshilfe, zur Hilfe zu angemessenen Schuldbildung Maßnahmen, erstens die den Schulbesuch im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht ermöglichen oder erleichtern und zweitens die erforderlich oder geeignet sind, Menschen mit Behinderung die üblicherweise in der allgemeinen Schulpflicht erreichbare Bildung zu ermöglichen, sowie drittens Hilfe zum Besuch einer Schule, sofern das Erreichen des entsprechenden Bildungsziels erwartbar ist.[7]

Die Maßnahmen des Gesetzes richten sich größtenteils auf die Unterstützung einzelner Personen und haben für Einrichtungen der Behindertenhilfe nur eingeschränkte Relevanz. Lediglich die Finanzierung des Aufenthaltes in „einer Anstalt, einem Heim oder einer gleichartigen Einrichtung“ wird in diesem Gesetz geregelt[8]. Für Einrichtungen der Behindertenhilfe, in denen Jugendliche untergebracht waren, ist das Bundessozialhilfegesetz (1961) also vor allem im finanziellen Sinne relevant. Ihre Ansprechpartner sind als örtliche Träger der Sozialhilfe hierbei vor allem die Landkreise und kreisfreien Städte, sowie die landesrechtlich zu regelnden überregionalen Träger der Sozialhilfe.

Das Gesetz regelt auch die sogenannte „Eingliederungshilfe für Behinderte“[9]. Diese habe das Ziel, „eine drohende Behinderung zu verhüten oder eine vorhandene Behinderung oder deren Folgen zu beseitigen oder zu mildern und dabei dem Behinderten die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern.“ In seinem Verständnis dieser Ziele folgt die Bestimmung der Eingliederungshilfe weitgehend der allgemeinen Stoßrichtung des Gesetzes: Auch sie soll „die Ausübung eines angemessenen Berufs“ ermöglichen oder „wenigstens unabhängig von Pflege“ machen. Wie alle „Arten der Hilfe,“ die in diesem Gesetz bestimmt werden, kann durch die Eingliederungshilfe auch ein Leben in einer Anstalt oder einem Heim unterstützt werden.[10] Nähere Bestimmungen zur Aufnahme in eine solche Einrichtungen finden sich im Gesetz jedoch nicht. Diese Tatsache verwundert allerdings nicht, wenn man sich den Charakter des Gesetzes vor Augen führt. Das Gesetz zählt in weiten Teilen verschiedenste Hilfen auf, die über das Gesetz finanziert werden können.

Nur wenige Bestimmungen der die Behindertenhilfe betreffenden Abschnitte des Bundessozialhilfegesetzes gehen explizit auf Minderjährige und deren besondere Situation ein. Nichtsdestotrotz sind weit größere Teile des Gesetzes für sie relevant, betreffen doch auch viele der nicht explizit auf Jugendliche zugeschnittenen Bestimmungen Erwachsene und Jugendliche gleichermaßen, weshalb eine gesonderte Erwähnung wenig Sinn ergeben würde. Daher verweist abgesehen von der Unterstützung des Schulbesuchs nur die gelegentliche Bemerkung, diese oder jene Bestimmung gelte nicht für Menschen unter einem bestimmten Alter, explizit darauf, dass sich das Gesetz auch mit Minderjährigen und ihrer Situation befasst.

Im baden-württembergischen „Gesetz über die Unterbringung von Geisteskranken und Suchtkranken“ (1955, im folgenden kurz Psychiatriegesetz) finden sich Hinweise auf Minderjährige dagegen schon gleich zu Anfang, wenn es heißt, dass das Gesetz „auf Geisteskranke einschließlich Geistesschwache und Gemütskranke […] Anwendung [findet, C.B.], die gegen ihren Willen in einer Krankenanstalt untergebracht oder festgehalten werden sollen“, und dass, wenn „der Kranke unter elterlicher Gewalt, Vormundschaft oder Pflegschaft [steht, C.B.]“, damit auch der Wille dieses gesetzlichen Vertreters gemeint ist.[11]

Hier tauchen Eltern von geistig kranken oder behinderten Jugendlichen (hier „Geistesschwache“ genannt) zwar auf, jedoch nur als eine Form der Vormundschaft unter vielen, und nicht unbedingt die, an die bei in Psychiatrien untergebrachten Menschen primär gedacht wurde. Eine prinzipielle Beachtung der Situation von Menschen, die wie Minderjährige unter besonderem Schutz stehen und zugleich eingeschränkte Rechte haben, ist jedoch nicht zu leugnen.

Wie in dem Ausschnitt zum Anwendungsbereich des Gesetzes deutlich wurde, beschäftigt sich das Gesetz vornehmlich mit der zwangsweisen Unterbringung von Menschen in psychiatrischen Anstalten. Es legt also fest, unter welchen Bedingungen und nach welchem Verfahren Personen gegen ihren Willen in eine psychiatrische Einrichtung eingewiesen oder dort einbehalten werden konnten.

Dabei werden mehrere unterschiedliche Wege aufgezeichnet: So können untere Verwaltungsbehörden, also Landratsämter und Gemeinden, eine „Unterbringung von Amts wegen“ anordnen, wenn eine Person „anstaltsbedürftig ist, weil er für sich oder andere gefährlich oder für die öffentliche Sittlichkeit anstößig oder ohne Anstaltspflege der Gefahr der Verwahrlosung oder ernster Gesundheitsschädigung ausgesetzt ist.“ Dies wird dabei von einem Amtsarzt festgestellt. Die eigentliche Entscheidung obliegt jedoch nicht dem Arzt: „Über Zulässigkeit der Anordnung entscheidet das Amtsgericht durch Beschluß.“ Ohne diesen gerichtlichen Entscheid darf eine Anstaltsunterbringung nicht erfolgen.[12]

Deutlich wird dieses Verfahren von der „Unterbringung auf Antrag“[13] abgegrenzt. Hier konnte ein gesetzlicher Vertreter oder, wenn ein solcher nicht vorhanden war, „die mit der Fürsorge für den Unterzubringenden befasste Person oder Behörde“ eine Unterbringung, wie der Name schon sagt, beantragen.

Auch die Eltern können einen solchen Antrag stellen. Da diese jedoch erstens zusammen mit den Ehegatten und Kindern genannt werden und zweitens dies nur für Fälle aufgeführt wird, in denen kein gesetzlicher Vertreter vorhanden ist, geht es bei dieser Erwähnung der Eltern gerade nicht um die Situation von Minderjährigen.

Insgesamt wird auf die besondere Situation von Jugendlichen mit Behinderungen und geistigen Krankheiten im baden-württembergischen Psychiatriegesetz deutlich häufiger eingegangen als in den anderen Gesetzen der Behindertenhilfe, jedoch fast immer zusammen mit anderen Fällen, bei denen Menschen einen gesetzlichen Vertreter haben. Lediglich die Bestimmung, dass bei Minderjährigen vom zuständigen Gericht nach Möglichkeit beide Elternteile zu hören seien[14], bezieht sich nur auf diese besondere Gruppe.

Den Anträgen, die schriftlich bei der entsprechenden „Krankenanstalt“ zu stellen sind, ist weiterhin ein „ärztliches Zeugnis über die Krankheit und die Notwendigkeit der Anstaltsfürsorge beizufügen.“ Dieser Antrag wird anschließend mit einem weiteren ärztlichen Gutachten der psychiatrischen Einrichtung versehen und von derselben an das zuständige Amtsgericht weitergeleitet, welches dann spätestens am nächsten Tag über „die Zuständigkeit der Unterbringung zu entscheiden“ hatte.[15]

Zusätzlich wird den Anstaltsleitern bei Vorliegen eines entsprechenden Gutachtens auch die „sofortige fürsorgliche Aufnahme“ ohne vorherigen Gerichtsbeschluss oder auch nur Antrag ermöglicht. Dies wird als besonderer Fall bezeichnet, der das Vorhandensein einer der anfangs beschriebenen Gefahren voraussetzt.[16]

Deren Formulierung stellt eine Besonderheit des baden-württembergischen Gesetzes von 1955 dar. Neben den traditionellen Gründen für eine Zwangsunterbringung, der „Anstößigkeit“ oder „Gefährlichkeit“, wird hier auch die „Gefahr der Verwahrlosung oder ernster Gesundheitsschädigung“[17] als möglicher Grund genannt. Das baden-württembergische Gesetz von 1955 war das erste deutsche Psychiatriegesetz, das diese Möglichkeit vorsah. Neben den Gedanken der Gefahrenabwehr tritt hier der Gedanke der Fürsorge.

 

Anmerkungen

[1] Gesetz zur Sicherung der Eingliederung Schwerbehinderter in Arbeit, Beruf und Gesellschaft (Schwerbehindertengesetz – SchwbG), vom 29. April 1974, §1.
[2] Ebd., §52ff.
[3] Bundessozialhilfegesetz (BSHG), vom 30. Juni 1961, §1.
[4] Ebd., §26.
[5] Ebd., §31.
[6] Ebd., §40f.
[7] Verordnung nach §47 Bundessozialhilfegesetz (Eingliederungshilfe-Verordnung), vom 5. Juni 1964, §11.
[8]
Ebd., §43.
[9]
Ebd., §39ff.
[10]
Ebd., §27.
[11]
Gesetz über die Unterbringung von Geisteskranken und Suchtkranken (Psychiatriegesetz), vom 16. Mai 1955, §2.
[12]
Ebd., §3.
[13]
Ebd., §4.
[14]
Ebd., §13, Abs. 3.
[15]
Ebd., §4.
[16]
Siehe oben, Ausführungen zu §3, Abs. 1.
[17]
Gesetz über die Unterbringung von Geisteskranken und Suchtkranken (Psychiatriegesetz), vom 16. Mai 1955, §3, Abs. 1.

 

Bildnachweis

 

Zitierhinweis: Christoph Beckmann, Jugendliche in den Gesetzen der Behindertengesetzgebung, in: Heimkindheiten, URL: […], Stand: 21.02.2022.