Dateisammlungen

Von Kai Naumann

Dateisammlung der Johannes-Wagner-Schule Nürtingen, vor Aufbereitung, (Quelle: Landesarchiv BW, StAL FL 240 /4 I, DO 1-377)
Dateisammlung der Johannes-Wagner-Schule Nürtingen, vor Aufbereitung, (Quelle: Landesarchiv BW, StAL FL 240 /4 I, DO 1-377)

Definition der Quellengattung

Dateisammlungen sind Ablagen für digitale Unterlagen aller Art, die eine Organisation oder eine Einzelperson auf Dateisystemen in Verzeichnisbäumen anlegten und die über einen rein entwurfsmäßigen Charakter hinausgehen. Sie entstehen seit den 1990er Jahren, verstärkt ca. seit dem Jahr 2000. Eine klare Abgrenzung intellektueller Einheiten ist nur vorhanden, wenn in Anlehnung an Aktenpläne, Fall- oder Ortskennzeichen oder andere Taxonomien gearbeitet wurde. Der Hauptunterschied zur E-Akte besteht in der geringeren Kontrolle über Integrität und Authentizität der Unterlagen.

Dateisammlungen können Schriftstücke, Datenbanktabellen, Pläne, Bewegtbilder oder E-Mails enthalten.

Identische oder ähnliche Begriffe: Fileablagen, Gruppenlaufwerke, Netzlaufwerke, Quasi-DMS, Shares.

Historische Entwicklung

Dateisammlungen für Einzelpersonen entstanden in der Wissenschaft ab den frühen 1980er Jahren, als Personal Computer mit Massenspeicher und Backup-Funktionen zur Verfügung standen. Gemeinschaftliche Dateisammlungen entstanden, als für Bürocomputer in lokalen Netzen die Möglichkeit entstand, auf einen zentralen Speicherort mit einem Dateisystem zuzugreifen. Dieser Moment trat in Großforschung und Industrie bereits Anfang der 1990er Jahre ein, in vielen Behörden erst Anfang des 21. Jahrhunderts. Die ersten Dateisammlungen stellten meist Sammlungen von Entwürfen oder Wissensdokumenten über den Betriebsalltag dar, weshalb sie selten überliefert sind.

Ab den frühen 2000er Jahren kam es bei einigen Abteilungen einiger Institutionen zu einer hybriden Parallelisierung der Aktenführung. Dies geschah zuerst besonders in Bereichen, in denen keine Papierform mehr erforderlich schien, wie IT, Marketing oder Öffentlichkeitsarbeit. Meist wurden aus Effizienzgründen die bereits digital entstandenen, ausgehenden Schriftstücke in elektronischer Form abgelegt. Wo die Eingangsschreiben beim Sachbearbeiter per E-Mail eingingen, kamen auch diese hinzu. Nur Unterlagen in Papierform fanden selten einen Weg in elektronische Ablagen.

Umgekehrt galt zwar die Regel, dass die Papierakte die maßgebliche Akte sei, aber diese Regel wurde mangels Kontrollmöglichkeiten immer mehr unterlaufen. Es ist bei vielen Institutionen der 2000er Jahre davon auszugehen, dass weder in den Dateisammlungen noch in den Papierakten die vollständige Übersicht aller Geschäftsdokumente zu finden ist, sondern nur in einer Zusammenschau beider Ablageformen.

Vorläufer sind Sachakten, Handakten, Loseblattsammlungen.

Nachfolger ist die E-Akte.

Aufbau und Inhalt

Dateisammlungen haben eine monohierarchische Struktur (Verzeichnisbaum). Querverweise (Hyperlinks) zwischen einzelnen Ordnern des Baums sind möglich. Bei Dateisammlungen gibt es wie in Sachbearbeiterablagen und Handakten Ordnungskriterien, die entweder aus bestehenden Ordnungssystemen (Bezirk/Ort/Straße/Haus, Fall-Aktenzeichen, Gesamtaktenplan) erwuchsen und frei ergänzt wurden oder die sich aus Projekt- oder Zuständigkeitskontext ergaben. Grenzen für die Erweiterungen des Baums gab es nur im Ordnungssinn der Kollegenschaft und in der Länge der Verzeichnisnamen (mit übergeordneten Verzeichnissen oft nicht mehr als 255 Zeichen).

Die Inhalte sind (in Datenmengen gerechnet) zumeist wenig umfangreich, wenn es sich nur um Office-Dokumente handelt. Sobald hingegen Fotos und Bild- und Tonaufzeichnungen hinzukommen, vervielfacht sich der Speicherbedarf.

Für Konstrukte, die ein eigentlich gewünschtes, aber aus Mangel an Initiative nicht eingeführtes echtes Dokumenten-Management-System ersetzen, wurde der Begriff „Quasi-DMS“ vorgeschlagen.

Überlieferungslage und ggf. (vor)archivische Bearbeitungsschritte

Dateisammlungen besitzen nur ausnahmsweise ein klares Ordnungssystem, das voraussetzungslos eine archivische Erschließung erlaubt. Dies liegt in erster Linie an der Baumform der Ablage selbst. Papierablagen erfordern physische Schriftgutbehälter, die deckungsgleich mit einer thematisch abgegrenzten Schriftguteinheit sind und nur eine bestimmte Menge an Dokumenten fassen. Für diese Eigenschaft sei hier der Begriff Überschaubarkeit vorgeschlagen. Die Dateisammlung kennt diese Überschaubarkeit nicht. So kann ein Oberbegriff im Verzeichnisbaum, der eigentlich nur strukturierenden Zweck hatte, zu einem Ablageort werden. Ebenso kann der persönliche Ordner einer Urlaubsvertretung alle Dokumente der vertretenen Person in Kopie enthalten.

Die weiteren Charakteristika einer Dateisammlung wie die Vielfachablage von identischen Schriftstücken und die Vermischung von persönlichen Ablagefächern mit Sachgegenständen finden sich bei Papierakten ab 1980 auch, treten aber, weil Lagerplatz irrelevant wurde, nochmals stärker in Erscheinung.

Umfangreiche Dateisammlungen müssen daher vor der Übernahme ins Archiv oft aufbereitet werden, um überschaubare Einheiten analog zu den früheren Schriftgutbehältern zu bilden. Kleinere Dateisammlungen können auch als einzelne Bestelleinheit übernommen werden. Die Menge an Schriftstücken in einer solchen Bestelleinheit kann dann mehreren Laufmetern an Papierakten entsprechen. Bei audiovisuellen Dateisammlungen ist oft auch eine Bewertung aus Gründen der Speicherkosten angezeigt. Als Beispiele aus den Beständen des Landesarchivs BW seien hier zu nennen: StA Ludwigsburg FL 240/4 I; StA Sigmaringen Wü 101 T5, GLA Karlsruhe 606-1 oder HStA Stuttgart EA 8/112 ff.

Quellenkritik und Auswertungsmöglichkeiten

Dateisammlungen besitzen gegenüber ihren papiernen Vorläufern den Vorteil, dass Volltextrecherchen möglich sind. In diesem Bereich hat die digitale Forensik den Ermittlungsbehörden im Strafverfahren erhebliche Fortschritte beschert, und die Geschichtswissenschaft kann davon auch profitieren.

Mangels geeigneter Maßregeln besitzen Dateissammlungen nicht in allen Fällen das öffentliche Vertrauen, das von einer E-Akte ausgehen würde, andererseits bieten sie als Ablage für Entwürfe und Absprachen unterhalb der offiziellen Ebene einen tieferen Einblick in Entscheidungsprozesse.

Dateisammlungen werden in den nächsten Jahren für die Erforschung von Justiz, Wirtschaft, Wissenschaft und Verwaltung an Bedeutung gewinnen. Sie werden vermutlich in Analogie zu Handakte und Sachbearbeiterablage auch selbst dort weiterexistieren, wo die E-Akte bereits eingeführt ist.

Hinweise zur Benutzung

Dateisammlungen sind wie E-Mails ein informelles Mittel der Schriftgutverwaltung, weshalb eine Vermischung von privaten (etwa Nebenamt, Personalvertretung) und dienstlichen Unterlagen nicht immer auszuschließen ist. Entsprechend ist der Schutz berechtigter Belange der Anwender in der archivischen Nutzung zu beachten.

Literatur

  • Jackson, Laura Uglean/McKinley, Matthew, It's How Many Terabytes? A Case Study on Managing Large Born Digital Audio-Visual Acquisitions, in: International Journal of Digital Curation 11 (2016), S. 64–75. http://ijdc.net/index.php/ijdc/article/view/11.2.64.
  • Knobloch, Corinna, Digitale und hybride Quasi-DMS: Aufbereitungspraxis, in: Standards, Neuentwicklungen und Erfahrungen aus der Praxis zur digitalen Archivierung : 17. Tagung des Arbeitskreises „Archivierung von Unterlagen aus digitalen Systemen“ am 13. und 14. März 2013 in Dresden, hg. von Burkhard Nolte, Halle/Saale 2014, S. 107–118.
  • Kreative digitale Ablagen und die Archive. Ergebnisse eines Workshops am 22./23.11.2016 in München, hg. von Kai Naumann/Michael Puchta, München (erscheint demnächst).
  • Naumann, Kai, Digitale und hybride Quasi-DMS: Befund und Strategiefragen, in: Standards, Neuentwicklungen und Erfahrungen aus der Praxis zur digitalen Archivierung : 17. Tagung des Arbeitskreises "Archivierung von Unterlagen aus digitalen Systemen" am 13. und 14. März 2013 in Dresden, hg. von Burkhard Nolte, Halle/Saale 2014, S. 99–105.
  • Schludi, Ulrich, Zwischen Records Management und digitaler Archivierung. Das Dateisystem als Basis von Schriftgutverwaltung und Überlieferungsbildung, in: Das neue Handwerk. Digitales Arbeiten in kleinen und mittleren Archiven. Vorträge des 72. Südwestdeutschen Archivtags am 22. und 23. Juni 2012 in Bad Bergzabern, hg. von Kai Naumann/Peter Müller, Stuttgart 2013, S. 20–38. https://www.landesarchiv-bw.de/web/55282.
  • Sloyan, Victoria, Born-digital archives at the Wellcome Library: appraisal and sensitivity review of two hard drives, in: Archives and Records 37 (2016), S. 20–36. http://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/23257962.2016.1144504.
  • Taylor, Isabel, Eine hydraartige Matrjoschka: Wie wir die Fileablage eines Staatlichen Schulamtes bewertet und erschlossen haben, Vortrag am 1. März 2016 auf der 20. Tagung des Arbeitskreises Archivierung von Unterlagen aus digitalen Systemen AUdS in Potsdam. Präsentationsfolien: http://www.staatsarchiv.sg.ch/home/auds/20.html. Druckfassung erscheint demnächst.

 

Zitierhinweis: Kai Naumann, Dateisammlungen, in: Südwestdeutsche Archivalienkunde, URL: […], Stand: 01.06.2017.

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