Juristische Konsilien

Von Marianne Sauter

Urteil der Tübinger Juristischen Fakultät gegen David Veithannß vom 18. September 1751, (Quelle: Universitätsarchiv Tübingen 84-84)
Urteil der Tübinger Juristischen Fakultät gegen David Veithannß vom 18. September 1751, (Quelle: Universitätsarchiv Tübingen 84-84)

Definition der Quellengattung

Die juristischen Konsilien sind ein Produkt des sog. Instituts der Aktenversendung, das ein typisches Merkmal des frühneuzeitlichen Strafprozesses darstellt. Zeitgenössisch wurden diese auch Belehrungen oder Responsa genannt. Den Gesamtbestand von Konsilien eines Spruchkörpers (Juristenfakultät oder Schöppenstuhl) nennt man Spruchakten.

Bei juristischen Konsilien handelt es sich um von einzelnen Juristen oder einem Kollegium solcher abgefassten Gutachten, die auf Anfrage an einzelne Gerichte oder Prozessparteien versandt wurden.

Hinsichtlich der Verfasser unterscheidet man zwei Arten von Konsilien: 1. Privatgutachten, die von einzelnen Rechtsgelehrten angefertigt wurden und 2. Fakultätsgutachten, die auf der Spruchpraxis von juristischen Fakultäten, Schöppenstühlen oder ähnlicher juristischer Gremien beruhen. Bezüglich der Form und des Inhalts besteht kein nennenswerter Unterschied. Auch waren beide Arten nicht rechtlich bindend, denn Konsilien waren ihrem Charakter nach immer nur Ratschläge. Privatgutachten waren in der Regel zwar billiger, besaßen aber auch geringere Autorität. Sie waren v.a. in der Anfangszeit der Aktenversendung maßgeblich und erreichten ihren Höhepunkt in der Mitte des 16. Jahrhunderts; in der Folgezeit nahm ihr Anteil aber stetig zugunsten kollegial erstellter Gutachten ab. Die teureren Fakultätsgutachten hingegen erlangten seit dem Ende des 16. Jahrhunderts de facto oft bindende Kraft. So wurde beispielsweise in Kursachsen die Pflicht zur Ratseinholung bei Juristenfakultäten oder Schöppenstühlen 1572 sogar gesetzlich verankert. In Württemberg wurde die Aktenversendung zwar erst in der Kriminalordnung von 1732 verpflichtend festgesetzt, sie war jedoch bereits seit dem 16. Jahrhundert immer wieder dringend angeraten worden und wurde auch allgemein praktiziert, so dass die Tübinger Juristenfakultät de facto fest in die Strafrechtspflege des Herzogtums eingebunden war.

Daneben unterschied man hinsichtlich der Konsulenten zwischen Gerichtsgutachten, die an die Gerichte selbst geschickt wurden, und Parteiengutachten, die privat von einer der Prozessparteien eingeholt wurden. Manchmal wurden Gutachten, die an Gerichte verschickt wurden, Consilia genannt, solche an Privatpersonen Responsa. Da diese unterschiedlichen Bezeichnungen aber schon von den Zeitgenossen nicht wirklich eingehalten wurden, sind sie auch für eine heutige Kategorisierung nicht sinnvoll.

Es war prinzipiell möglich, sowohl in Kriminal- als auch in Zivilprozessen zu konsulieren, wobei in der Regel die Strafprozesse den größeren Anteil der Konsilien ausmachten.

Konsuliert werden konnte in jedem Stadium des Verfahrens. So unterscheidet man zwischen verfahrensleitenden Entscheidungen, sog. Zwischenurteilen oder Interlokuten, die in den meisten Fällen die Frage der Folteranwendung betrafen, und verfahrensbeendenden Entscheidungen, sog. End- oder Definitivurteilen, in denen eine Strafe verhängt oder der Angeklagte freigesprochen wurde.

Die Konsilien waren ursprünglich nur in lateinischer Sprache abgefasst und somit für die Laienrichter oft nur schwer zu verwenden. 1570 wurden die Juristenfakultäten im Reichsabschied von Speyer dazu angehalten, ihren Gutachten einen in deutscher Sprache verfassten Urteilsvorschlag anzufügen, den die Gerichte in aller Regel dann nur noch vorzulesen brauchten. Später wurden immer häufiger auch die gesamten Gutachten in deutscher Sprache geschrieben und nur die Zitate aus der rechtsgelehrten Literatur auf Latein eingestreut.

Manche Juristen veröffentlichten einen Teil ihrer Konsilien in sog. Konsiliensammlungen, so dass diese heute in gedruckter Form vorliegen, und man nicht unbedingt ein Archiv aufsuchen muss, um frühneuzeitliche Konsilien zu lesen.

Der frühneuzeitliche Strafprozess und das Institut der Aktenversendung

Das Rechtssystem des Mittelalters war auf das Gewohnheitsrecht ausgerichtet. Die Richter, die nur auf Grund ihrer sozialen Stellung dieses Amt bekleideten, urteilten, da niedergeschriebene Gesetzeskodifikationen unbekannt waren, nach altem Herkommen und eigenem Gutdünken, und ihre Autorität allein genügte, das Urteil zu begründen und ihm die notwendige Durchsetzungskraft zu verschaffen. Das Beweisverfahren konzentrierte sich auf formale Beweismittel wie Gottesurteile, Zweikämpfe und Reinigungseid, und das Strafensystem war ein Kompositionssystem, das auf Schadensersatz und Versöhnung, nicht auf Genugtuung und Abschreckung ausgerichtet war. Der Strafprozess war im Mittelalter somit ein Parteienstreit, bei dem es ohne Kläger auch keinen Richter gab. Als im Hochmittelalter die Gesellschaft allmählich komplexer wurde und immer mehr sog. landschädliche Leute die Gemeinschaft bedrohten, schien diese Auffassung des Strafrechts als Parteienstreit nicht mehr zu genügen und im Zuge der sog. Landfriedensbewegung setzte sich allmählich die Auffassung durch, dass Verbrechensbekämpfung nicht Privatsache, sondern Aufgabe des sich zu dieser Zeit erst langsam bildenden Staates sei. So kam der sog. Inquisitionsprozess auf, bei dem eine Anklage von Amts wegen stattfand und rationale Beweismittel gefordert wurden. Der Inquisitionsprozess setzte sich de facto bald überall durch. Seine Entstehung hängt eng mit der Rezeption des Römischen Rechts zusammen, eine Entwicklung, die sich seit dem 12. Jahrhundert europaweit verbreitete. Diese Übergänge gingen aber nicht reibungslos vor sich. Die althergebrachte Form des Prozesswesens blieb zunächst noch erhalten, war aber faktisch wirkungslos, so dass nicht selten gesetzlose Willkür herrschte. Auf dem Reichstag 1495 beschloss man, diesem Zustand mit der Ausarbeitung einer Reichsstrafprozessordnung ein Ende zu bereiten. 1532 war nach einigen Schwierigkeiten die Peinliche Halsgerichtsordnung Kaiser Karls V. (lat. Constitutio Criminalis Carolina, kurz Carolina genannt) endlich fertiggestellt. Aufgrund des Widerstands der Reichsstände, die um ihre Macht fürchteten, konnte sie aber nicht völlig durchgesetzt werden, sondern mit der sog. Salvatorischen Klausel wurde ihr nur subsidiäres Geltungsrecht eingeräumt, d.h. ihre Bestimmungen sollten nur dort gelten, wo es keine althergebrachten Partikularrechte gab. In der Praxis wurde die Carolina aber bald als verbindliche Rechtsgrundlage anerkannt. In Württemberg wies Herzog Christoph 1551 alle Gerichte an, sich die Carolina zu kaufen und ihr gemäß zu urteilen.

Als Hauptursache für die herrschenden Missstände im Strafrechtswesen wird in der Carolina immer wieder das Laienrichtertum genannt, das wegen seiner Unkenntnis des Rechts durch die Prozesse überfordert sei, wodurch oft Unschuldige gepeinigt würden.

Das Laienrichtertum abzuschaffen vermochte die Carolina nicht, doch, um weiteren Missständen vorzubeugen, wurde den Laienrichtern dringend angeraten, in Zweifelsfällen bei gelehrten Juristen Rat zu holen. So heißt es in Artikel 219: „So sollen allwegen die gericht, so inn jren peinlichen processen, gerichtsübungen vnd vrtheilen, darinn jnen zweuel zufiel, bei jren Oberhofen, da sie ... bißher vnderricht begert jren rath zu suchen schuldig sein, Welche aber nicht oberhoffe hetten ... sollen in obgemeltem fall bei jrer oberkeyt ... rath suchen. Wo aber die oberkeyt ex officio vnd von ampts wegen wider eynen mißhendlern, mit peinlicher anklag oder handlung volnfüre, so sollen die Richter, wo jnen zweiffeln zufiele, bei den nechsten hohen schulen, Stetten, Communen oder andern rechtsverstendigen, da sie die vnderricht mit dem wenigsten kosten zu erlangen vermeynen, rath zu suchen schuldig sein.“ Dieser Artikel wurde zur Grundlage des sich nun entfaltenden Instituts der Aktenversendung. Besonders an den im Text zuletzt genannten Juristenfakultäten und Schöppenstühlen entwickelte sich eine ausgedehnte gutachterliche Tätigkeit. Zwar wurden auch schon früher immer wieder von Juristen Gutachten ausgestellt: zum einen im Zusammenhang mit dem Entstehen einer gelehrten Rechtswissenschaft an den Universitäten in Italien und zum anderen in der altdeutschen weltlichen Gerichtsbarkeit durch die Anrufung der Oberhöfe. Die feste Verankerung der Aktenversendung in der deutschen Strafrechtspflege und die flächenhafte Ausbreitung dieses Instituts kam jedoch erst mit der Carolina. Das frühneuzeitliche Strafrechtssystem wäre ohne das Institut der Aktenversendung nicht denkbar.

Der Vorteil dieses Systems war, dass die in den Fall persönlich nicht involvierten Juristen im Regelfall relativ objektiv urteilen konnten. Durch genaue Befolgung und strenge Auslegung von Gesetzen konnten unter Umständen manche Verdächtige, v.a. in den Hexenprozessen, vor Folter und Tod bewahrt werden. Ein nicht zu leugnender Nachteil war jedoch, dass die Juristen auf die Glaubwürdigkeit des ihnen zugeschickten Materials (Zeugen- und Verhörprotokolle) angewiesen waren und sich von der Lage vor Ort kein eigenes Bild machen konnten. Sie waren von der wirklichen Gerichtspraxis weit entfernt, so dass sie die Qualen der Gefolterten nicht hautnah miterlebten und somit ziemlich emotionslos über einen Fall urteilen konnten.

Dennoch ist zu konstatieren, dass sich die Aktenversendung dort, wo sie zum Einsatz kam, in den meisten Fällen eher positiv für den Angeklagten auswirkte, da ihm dadurch zumindest in einem gewissen Maß ein rechtlich einwandfreier Prozess ermöglicht wurde und er nicht völlig der Willkür der lokalen Gerichte ausgeliefert war.

Absolutistischen Herrschern war das Institut der Aktenversendung natürlich ein Dorn im Auge, da die Einbeziehung relativ selbständiger und selbstbewusster Institutionen wie Juristenfakultäten in die Strafrechtspflege ihrer absoluten Macht im Weg stand. Bereits 1746 setzte Friedrich II. in Preußen das Verbot durch, Prozessakten zu verschicken. Andere Herrscher folgten seinem Vorbild. Das endgültige Ende der Aktenversendung kam allerdings erst mit dem Inkrafttreten der Reichsjustizgesetze am 1. Oktober 1879, in denen die Fakultäten in ihrer Eigenschaft als Spruchkörper aufgehoben wurden. Tübingen ist eine der Universitäten, an der sich die Aktenversendung am längsten gehalten hat, hier wurden noch bis 1879 Konsilien eingeholt – ein Beleg dafür, dass die Aktenversendung in Württemberg gut funktioniert und sich bewährt hatte.

Die Tübinger Spruchakten

Die handschriftliche Sammlung der Tübinger Spruchakten umfasst ca. 20 000 Konsilien aus der Zeit von Mai 1602 bis Oktober 1879. Sie ist in 269 Bände gegliedert und liegt im Tübinger Universitätsarchiv unter den Signaturen 84/1 - 84/269.

Das Einsetzen der Überlieferung mit dem Jahr 1602 ist eine Folge der neuen Fakultätsstatuten vom 15. August 1601, in denen die Fakultät zur Ausstellung von Konsilien durch die Obrigkeit verpflichtet wurde. Die Tübinger Juristenfakultät stellte zwar nachweislich auch schon im 16. Jahrhundert Belehrungen aus, doch wurden diese damals noch nicht systematisch gesammelt. In den genannten Fakultätsstatuten wurden nämlich nicht nur die Professoren zur Anfertigung von Konsilien angehalten, sondern auch der Universitätsnotar dazu verpflichtet, diese abzuschreiben und die Abschrift zu archivieren. Vereinzelt kann man jedoch feststellen, dass einzelne Konsilien in der Sammlung fehlen. So wird z.B. in einer nach Maulbronn verschickten Belehrung vom 7. September 1671 erwähnt, dass die Folter vorgenommen worden sei „nach anleit unseres den 15. Augusti ertheilten und von Fürstl. Cantzley den 22. eiusdem in allen stücken gnädigst confirmierten consilii“. [1] Von diesem Interlokut fehlt in der handschriftlichen Sammlung jedoch jede Spur. Solche Fälle sind jedoch sehr selten, und somit darf die Sammlung mit gutem Recht als zumindest fast vollständiges Abbild der Tübinger Spruchpraxis betrachtet werden.

In Tübingen lassen sich somit 277 Jahre Spruchpraxis in den Akten kontinuierlich nachvollziehen und analysieren. Die Konsilien wurden in chronologischer Reihenfolge in die Bände aufgenommen,[2] doch ist seit der Mitte des 17. Jahrhunderts diese streng zeitliche Gliederung nicht mehr so strikt eingehalten worden, so dass es durchaus vorkommen kann, dass man das Endurteil eines Prozesses einige Seiten vor dem zeitlich früher ergangenen Zwischenurteil finden kann.

Die Konsilien betreffen sowohl privatrechtliche als auch strafrechtliche Themen, wobei Anfragen zu Strafprozessen in der Überzahl sind, da die Tübinger Juristenfakultät in die württembergische Strafrechtspflege relativ eng eingebunden war. Somit stellen auch württembergische Gerichte den Hauptanteil der Konsulenten dar (ca. 85 % der Strafrechtsfälle gingen im 17. Jahrhundert an württembergische Gerichte). Doch auch von auswärtigen Gerichten wurde in Tübingen immer wieder konsuliert, wobei deren Anteil im Laufe des 17. Jahrhunderts immer mehr zunahm. Das am weitesten entfernte Territorium, aus dem in Tübingen um Rat gefragt wurde, war das im Nordosten des Reiches gelegene Herzogtum Mecklenburg.

Neben der handschriftlichen Überlieferung gibt es auch gedruckte Konsiliensammlungen, in denen ausgewählte Belehrungen veröffentlicht wurden. Diese Sammlungen enthalten sowohl Privat- als auch Fakultätskonsilien, wodurch es in Tübingen z.T. eine Doppelüberlieferung von handschriftlichen und gedruckten Konsilien gibt. Da allerdings Privatkonsilien in der Regel nicht in die handschriftliche Überlieferung aufgenommen wurden, finden sich in den gedruckten Werken z.T. sonst nicht überlieferte Belehrungen, die ergänzend zum Archivbestand herangezogen werden können. Die Veröffentlichung von Konsilien in solchen Sammlungen war sehr beliebt und wurde nicht nur von Tübinger Professoren praktiziert. Dennoch steht Tübingen dabei mit 14 Titeln an der Spitze, gefolgt von den sächsischen Universitäten.[3] Es ist sicher kein Zufall, dass gerade die Landesuniversitäten von Sachsen und Württemberg, zwei Territorien, in denen die Aktenversendung sich sehr stark etabliert hatte, die größte Zahl an Veröffentlichungen vorweisen können. In den meisten Fällen waren es die einzelnen Juristen selbst, die ihre Konsilien in Eigenregie veröffentlicht haben, doch vereinzelt nahm auch die Fakultät eine Veröffentlichung vor. Ein solches Projekt waren die sog. Consilia Tubingensia, ein neunbändiges Werk, das 1731 bis 1750 von Wolfgang Adam Schöpff im Auftrag der Universität herausgegeben wurde. Der Plan, alle bisher ungedruckten Konsilien zu veröffentlichen, konnte zwar nicht in vollem Umfang verwirklicht werden, das Werk enthält jedoch 1186 Konsilien aus den Jahren 1636 bis 1750 zu allen möglichen Rechtsgebieten von Wolfgang Adam Lauterbach (1618-1678), Gabriel Schweder (1648-1735), Michael Grass (1657-1731), Georg Friedrich Harpprecht (1676-1754) und Wolfgang Adam Schöpff (1679-1770).

Hinzu kommen noch die Veröffentlichungen von einzelnen Professoren:

Martin Prenninger 218 Konsilien (1490 bis 1501)
Johannes Sichard 53 Konsilien (1535 bis 1551)
Justinus Gobler 100 Konsilien (1531 bis 1565)
Christoph Besold 302 Konsilien (1553 bis 1634)
Erich Mauritius 12 Konsilien (1660 bis 1665)
Ferdinand Christoph Harpprecht 100 Konsilien (1678 bis 1699)
  100 Konsilien (1700 bis 1708)
  100 Konsilien (1709 bis 1713)
Michael Grass 26 Konsilien  
Wolfgang Adam Schöpff 350 Konsilien (1716 bis 1730)
  16 Konsilien (1716 bis 1754)
  32 Konsilien (1716 bis 1763)
Georg Friedrich Harpprecht 142 Konsilien (1722 bis 1746)

 

So wurden - wenn man den Zahlen von Geipel Glauben schenken darf - von Tübinger Professoren in einem Zeitraum von über 250 Jahren insgesamt 2737 Konsilien in Konsiliensammlungen veröffentlicht. Es ist somit anzunehmen, dass die Tübinger Juristenfakultät, obwohl aus ihrem Kreis keine bahnbrechenden theoretischen, juristischen Werke entstanden sind, doch durch diese Konsiliensammlungen die Spruchpraxis anderer Kollegien und damit auch die Gerichtspraxis im Reich nachhaltig beeinflusst hat. Solche Sammlungen wurden nämlich von anderen Juristen sowohl als Lehrbücher für die Studenten im akademischen Unterricht, als auch als Handbücher und Nachschlagewerke für die Erstellung eigener Konsilien benutzt. Auch in den Tübinger Spruchakten selbst werden immer wieder eigene oder auch fremde Konsiliensammlungen als Autoritäten zitiert.

Umfang und Aufbau der Tübinger Konsilien

Die Tübinger Konsilien waren zumeist überdurchschnittlich lang: Während eine Belehrung zu Beginn des 17. Jahrhunderts im Normalfall nur ca. eine Seite umfasste, kam es im Laufe der Zeit zu immer ausführlicheren Darstellungen und Erläuterungen, so dass ab der Mitte des 17. Jahrhunderts rund zwanzig bis dreißig Seiten die Regel waren, wobei sich einzelne Konsilien sogar über mehr als hundert Seiten erstreckten. Dies trug den Tübinger Juristen schon bei den Zeitgenossen nicht zu Unrecht den Ruf der Weitschweifigkeit ein. Die Rostocker Konsilien beispielsweise sind im Vergleich zu den Tübingern mit einer halben bis ganzen Seite pro Belehrung sehr knapp gehalten. Allerdings wurden dort auch sehr viel mehr Fälle behandelt als an der württembergischen Landesuniversität. Die Weitschweifigkeit der Tübinger Juristen hat aber für den Historiker heute den Vorteil, dass sich dadurch die Prozessabläufe ziemlich genau nachvollziehen lassen und man durch die ausführlichen Urteilsbegründungen die Argumentationsstrukturen gut analysieren kann.

Die einzelnen Belehrungen sind in deutscher Sprache verfasst, enthalten aber teilweise sehr ausführliche lateinische Zitate aus der rechtsgelehrten Literatur. Sie sind im Allgemeinen nach dem schon in der Antike gängigen Aufbaubauschema einer Rede, den sog. partes orationis aufgebaut. Nach der höflichen Anredefloskel, dem antiken exordium oder principium entsprechend, folgt in der narratio die Nennung des Angeklagten und des vorgeworfenen Verbrechens sowie eine mehr oder weniger ausführliche Beschreibung des vermuteten Tathergangs und des bisherigen Prozessverlaufs mit einer z.T. sehr detailreichen Wiedergabe von Zeugenaussagen und Verhörprotokollen. Ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts umfasst diese narratio in der Regel mehrere Seiten. Die nach dem antiken Schema gewöhnlich folgende divisio, in der die Gliederung erörtert und das Beweisziel angegeben wird, fehlt in den meisten Konsilien. Es folgt in der Regel sofort die eigentliche Auseinandersetzung mit dem Fall, die sog. argumentatio, in der die Argumente für und wider gegeneinander abgewogen werden. Dabei werden zunächst die rationes dubitandi und dann rationes decidendi aufgeführt, in einigen Konsilien werden in einem weiteren Teil die rationes dubitandi durch rationes decidendi nochmals explizit entkräftet, um abschließend zur eigentlichen Entscheidung zu kommen. Die argumentatio ist in den Tübinger Spruchakten seit der 2. Hälfte des 17. Jahrhundert in der Regel sehr umfangreich und enthält auch sehr viele, meist lateinische Zitate aus verschiedenen Gesetzen und einschlägigen Werken gelehrter Juristen. Was in der antiken Rede die peroratio oder conclusio war, ist in den Konsilien das Urteil, das in der Regel am Ende steht und als solches auch explizit ausgewiesen ist. Das Urteil war formelhaft aufgebaut und hatte immer denselben Wortlaut, so dass die Gerichte vor Ort es nur noch ablesen mussten: „In peinlicher Rechtfertigung zwischen unnsres gnädigen fürsten und herrn Anwaldt, Clegern eines, gegen unndt wider N.N., peinlich Beclagten anderntheils, erkhent ein Ersam Gericht, uff Klag, antwordt, redt, widerredt, gefürtte Khundtschafften, des Beclagten aigne bekhandtnuß, unndt alles gerichtlich fürbringen, nach gethanem Rechtsatz, genommenem bedacht, uff gehabtem Rath, mit Urthell zu recht, daß ....“ Das Konsilium endet mit Datum, Unterschrift und Siegel, wobei letztere in den Abschriften im Universitätsarchiv fehlen.

Juristische Konsilien in anderen südwestdeutschen Archiven

Leider ist die gute Überlieferungslage, wie sie bei den Tübinger Spruchakten gegeben ist, im südwestdeutschen Raum ein Einzelfall. Von den beiden anderen großen Universitäten in diesem Raum, Freiburg und Heidelberg, haben sich nur einzelne Konsilien erhalten. Eine Liste der erhaltenen und bisher bekannten Freiburger Konsilien ist bei Clausdieter Schott zu finden. Für die Heidelberger Konsilien gibt es eine solche Aufstellung leider nicht. Man kann hier lediglich auf gedruckte Konsiliensammlungen zurückgreifen.

Auswertungsmöglichkeiten

Juristische Konsilien sind eine wertvolle Quelle für alle rechtshistorischen Fragestellungen. Sowohl für die Hexenforschung als für die historische Kriminalitätsforschung lassen sich diese Akten Gewinn bringend auswerten. Speziell die Tübinger Fakultätskonsilien stellen in Ergänzung zu dem Corpus der Oberratsakten eine wichtige Quelle für die württembergische Strafrechtspflege dar.

Daneben sind die Spruchakten als ein Produkt der führenden württembergischen Rechtsgelehrten ihrer Zeit eine hervorragende Quelle für bildungsgeschichtliche Fragestellungen. Da in den Tübinger Konsilien immer auch sehr viel juristische Literatur zitiert wurde, kann man z.B. auch untersuchen, welche Autoren wann in Tübingen bekannt wurden.

Aber auch für sozialhistorische Forschungen können die Spruchakten unter Umständen nützlich sein, da in den einzelnen Konsilien (in Tübingen in der Regel erst seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts) die soziale Stellung des Angeklagten und dessen Umfeld genau beleuchtet werden. Schließlich lassen sich auch zu mentalitätsgeschichtlichen Fragestellungen Antworten in diesem Quellencorpus finden.

Anmerkungen

[1] UAT 84/22, S. 267-272 (7.9.1671). Es ging dabei um den Fall des der Sodomie verdächtigten Christian Puck von Großglattbach, der sich durch das Überstehen harter Folter von den Vorwürfen purgiert hatte.
[2] Band 84/13, der nur Fälle von Sodomie, Sittlichkeitsdelikten und Hexerei aus den Jahren 1659-1665 enthält, zeigt an, dass man sich allem Anschein nach überlegt hatte, auf eine thematische Gliederung der Bände umzusteigen. Diese Idee wurde wohl aber wieder verworfen, da im Folgenden die Bände wieder chronologisch geordnet sind.
[3] Weitere Universitäten, von denen es ebenfalls relativ viele Konsiliensammlungen gab, sind Jena (13), Halle (12), Leipzig (11), Wittenberg (10), Altdorf (9), Ingolstadt (8), Göttingen (7), Frankfurt/Oder (7), Marburg (6), Rostock (5), Helmstedt (4), Freiburg/Breisgau (3), Greifswald (3), Kiel (3), Straßburg (3).

Literatur

  • Gehring, Paul, Der Hexenprozeß und die Tübinger Juristenfakultät. Untersuchungen zur Württembergischen Kriminalrechtspflege, in: ZWLG 1 (1937), S. 157-188, 2 (1938), S. 15-47.
  • Gehrke, Heinrich, Die privatrechtliche Entscheidungsliteratur Deutschlands, Charakteristik und Bibliographie der Rechtsprechungs- und Konsiliensammlungen vom 16. bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 1974.
  • Geipel, Jochen, Die Konsiliarpraxis der Eberhard-Karls-Universität und die Behandlung der Ehrverletzung in den Tübinger Konsilien (Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde 4), Stuttgart 1965.
  • Lorenz, Sönke, Aktenversendung und Hexenprozeß, dargestellt am Beispiel der Juristenfakultäten Rostock und Greifswald (1570/82-1630) (Studia philosophica et historica 1/I), Frankfurt a.M. 1982.
  • Lorenz, Sönke, Die Rechtsauskunftstätigkeit der Tübinger Juristenfakultät in Hexenprozessen (ca. 1552-1602), in: Hexenverfolgung. Beiträge zur Forschung unter besonderer Berücksichtigung des südwestdeutschen Raumes, hg. von Dems./Dieter R. Bauer (Quellen und Forschungen zur europäischen Ethnologie 15), Würzburg 1995, S. 241-320.
  • Lorenz, Sönke, Die letzten Hexenprozesse in den Spruchakten der Juristenfakultäten. Versuch einer Beschreibung, in: Das Ende der Hexenverfolgung, hg. von Dems./Dieter R. Bauer (Hexenforschung 1), Stuttgart 1995, S. 227-247.
  • Schott, Clausdieter, Rat und Spruch der Juristenfakultät Freiburg i. Br. (Beiträge zur Freiburger Wissenschafts- und Universitätsgeschichte 30), Freiburg 1965, S. 203-280.

Zitierhinweis: Marianne Sauter, Juristische Konsilien, in: Südwestdeutsche Archivalienkunde, URL: [...], Stand: 2005.

 

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