Visitationsakten

Von Peter Thaddäus Lang

Akten zur Visitation von Zaisersweiher, 1787, (Quelle: Landesarchiv BW, HStAS A 281 Bü 972)
Akten zur Visitation von Zaisersweiher, 1787, (Quelle: Landesarchiv BW, HStAS A 281 Bü 972)

Historische Entwicklung

Visitation, von lateinisch visitare = besuchen, meint den Kontrollbesuch einer übergeordneten Kirchenbehörde in einer Pfarrgemeinde. Schon für die Mitte des 4. Jahrhunderts sind die frühesten Visitationen bezeugt: Die Position der Bischöfe hatte sich um diese Zeit so weit gefestigt und entwickelt, dass sie Aufsichtsfunktionen wahrnehmen konnten. Durch das gesamte Mittelalter hindurch blieb das Visitationswesen zwar erhalten, erlebte aber zugleich vielfache Wandlungen.

Die spätmittelalterliche Entwicklung der Kirche lief darauf hinaus, die Amtsgewalt der Bischöfe auszuhöhlen und streckenweise unwirksam zu machen. Die Visitation verlor darüber weitgehend ihren Charakter als Disziplinierungsinstrument. Sofern sie überhaupt noch stattfand, so geschah es nicht unter pastoralen, sondern vornehmlich unter fiskalischen Gesichtspunkten. Nicht die Amts- und Lebensführung des Pfarrklerus war also hier von Interesse, sondern dessen Steuerkraft. Erst die durch Martin Luthers Thesen in Gang gekommene reformatorische Bewegung erweckte das Visitationswesen zu neuem Leben. Nach dem Vorbild der ersten großen kursächsischen Visitation von 1528, für die der große evangelische Theologe Philipp Melanchthon den Leitfaden und Martin Luther selbst die Vorrede geschrieben hatten, bedienten sich viele evangelische Reichsstädte und Territorialfürsten der Kirchenvisitation als eines Instruments, um das Kirchenwesen unter ihrer eigenen Herrschaft neu einzurichten. In der alten Kirche setzte das Konzil von Trient (1545 - 1563) neue Maßstäbe und schrieb den Bischöfen regelmäßiges Visitieren vor. Die Konzilsväter ebneten ihnen den Weg hierfür, indem sie deren Rechtsstellung mit Nachdruck stärkten, so dass die Oberhirten ihr Visitationsrecht gegenüber behindernden Gewalten besser durchsetzen konnten.

Funktion der Visitation

Das durch die ausgebaute Verwaltung erst richtig wirksam gewordene Kontrollinstrument der Visitation festigte nicht nur das Kirchenwesen, sondern vergrößerte dadurch gleichzeitig Macht und Autorität dessen, der an der Spitze dieses Kirchenwesens stand. Durch die Visitation manifestiert sich außerdem der Territorialstaat: Hoheitsrechte hat man dort, wo man visitiert. Oder zugespitzt ausgedrückt: Wer visitiert, regiert.

Das gilt natürlich zuvörderst für protestantische Territorialherren. Sie ließen vor allem jene Gebiete fleißig visitieren, in denen ihre Herrschaft nicht sehr gefestigt war oder wo sie von anderer Seite angefochten wurde, so etwa im Bereich der nassauischen oder hohenlohischen Grafschaften. Dort ließen Erbteilungen die Herrschaftsverhältnisse gelegentlich unklar werden. Aber auch im katholischen Raum kommt dieser Gesichtspunkt zum Tragen; nicht umsonst wehrten sich zahllose Äbte, Pröpste und Ordensritter gegen die bischöfliche Visitation ihres Gebiets. Die kleineren weltlichen Potentaten katholischen Glaubens respektierten das bischöfliche Visitationsrecht zu allermeist; die größeren unter ihnen - namentlich Bayern und Österreich - konnten dagegen den auf ihrem Gebiet amtierenden Bischöfen ihren Willen aufzwingen, wenn sie es für nötig hielten.

Die frühmodernen Staatsgebilde waren also zum einen bestrebt, die Objekte der Verwaltung zu vereinheitlichen, weil Gleichförmigkeit eine größere Übersichtlichkeit bewirkt und die Verwaltung einfacher und wirksamer werden lässt. Zum andern trachteten sie danach, immer weitere Lebensbereiche unter ihre Kontrolle zu bringen, um dadurch ihre Macht zu vergrößern. Beide Tendenzen führten in der Praxis dazu, dass Formen lokalen Brauchtums überall zurechtgestutzt, umgemodelt oder auch gänzlich verboten wurden.

Damit ging es der bäuerlichen Volkskultur an den Kragen. Sie steuerte Lebensbereiche, die fortan der werdende Staat zu kontrollieren sich anschickte, wie etwa das Gesundheitswesen oder die dörfliche Selbstverwaltung. Da diese Kultur ihrem Wesen nach einer magischen Vorstellungswelt verhaftet war (was vor allem die kultische Sphäre betraf), sahen auch die Konfessionskirchen darauf, solches abzustellen. Staat und Kirche erklärten nun manches Brauchtum zur Unsitte und manche Einstellung zum Aberglauben. Wo sich die Träger der Volkskultur dem entgegen stellten, wurden sie lächerlich gemacht oder zu Verbrechern abgestempelt. Die fast ausschließlich auf mündlicher Tradition beruhende Kultur des Volks hinterließ also die meisten Spuren dort, wo sie mit den auf Schriftlichkeit fußenden bürokratischen Apparaten von Kirche und Staat kollidierte. Da die Kirchenvisitation intensiv zum Aufspüren von inkriminierten Erscheinungen der Volkskultur eingesetzt wurde, gehören die Visitationsprotokolle zu den wichtigsten Quellen zu deren Erforschung.

Visitationstypen

Was nun die konkrete Abwicklung einer Visitation anbetrifft, so ist grundsätzlich zu unterscheiden zwischen der Mittelpunktvisitation und der Visitationsreise. Bei der Mittelpunktvisitation werden alle Geistlichen eines bestimmten Gebiets an einem Ort zusammengerufen und dort von den Visitatoren befragt. Dieser Visitationstyp ist für die Visitatoren außerordentlich bequem, da sie sich nicht den Strapazen einer Reise unterziehen müssen. Ansonsten bringt eine solche Vorgehensweise nur Nachteile mit sich. Zum einen können die Aussagen der Pfarrer nicht durch den Augenschein überprüft werden; zum andern haben die Geistlichen nun ihrerseits lange Anmarschwege in Kauf zu nehmen (sofern es sich um ein größeres Territorium oder ein ganzes Bistum handelt) - Kleriker, die zur Visitation nicht erschienen, führten dies regelmäßig zu ihrer Entschuldigung an.

Trotzdem findet sich dieser Visitationstyp recht häufig. Das Problem der langen Anmarschwege wird gelöst, indem man den Klerus eines kleineren Bezirks zusammenruft (z.B. Landkapitel bzw. Ämter oder Superintendenzen). Außerdem werden bei dieser Visitation vornehmlich solche Fragen gestellt, die auch ohne die Anwesenheit des Visitators in der Pfarrei verhältnismäßig zuverlässige Informationen versprechen: Fragen etwa nach den theologischen Kenntnissen oder nach der dogmatischen Ausrichtung des Pfarrers.

Dieser Visitation bediente man sich beispielsweise bei einigen der frühen Visitationen im Bistum Konstanz oder bei der Einführung der Reformation in der Grafschaft Hohenlohe. Auch die evangelischen Synoden und Klassenkonvente wie auch die jährlichen Zusammenkünfte eines Landkapitels können in funktionaler Hinsicht als Mittelpunktvisitation gelten, obwohl sie kirchenrechtlich meist einer anderen Nomenklatur unterworfen sind.

Viele Bereiche des Niederkirchenwesens lassen sich jedoch bedeutend wirksamer überprüfen, wenn sich der kirchliche Kontrolleur auf einer Visitationsreise persönlich ein Bild vom Zustand der Pfarreien verschafft. Trotzdem wird er manches auch nur durch Hörensagen in Erfahrung bringen können. Wenn er beispielsweise wissen will, wie sich die Gemeinde an gottesdienstlichen Veranstaltungen beteiligt, so ist er auf die Auskunft des Pfarrers angewiesen. Sofern es sich um regelmäßige oder um angekündigte Visitationen handelt, können sich die Visitierten sorgfältig auf die anstehende Kontrolle vorbereiten. Dann aber erhält der Visitator ein überaus positives Bild, das jedoch nicht unbedingt mit der Alltagswirklichkeit übereinstimmt. Selbstverständlich kannten die Visitatoren diese Schwachstellen des Verfahrens schon immer. Sie suchten dem zum Beispiel dadurch entgegen zu wirken, indem sie verschiedene Personen unter vier Augen über einander befragten.

Neben der Mittelpunktvisitation und der Visitationsreise findet sich noch eine Mischform aus diesen beiden. Die Visitatoren pflegten nämlich bisweilen an verschiedenen Orten kleinere Gruppen von Pfarrern zusammenzurufen. Aber auch bei einer Visitationsreise sensu proprio kann es vorkommen, dass der Visitator auf den Besuch der einen oder anderen Pfarrei oder Gemeinde verzichtete und die betreffenden Geistlichen in eine von ihm visitierte Nachbarpfarrei zitierte, um sich auf diese Weise beschwerliche Wegstrecken zu ersparen.

Als letzter Visitationstyp wäre die Einzelvisitation zu nennen. Sie richtet sich gezielt auf einzelne problembeladene Personen oder Orte. So fiel beispielsweise 1658 der Pfarrer der württembergischen Gemeinde Gerlingen während der Predigt in Ohnmacht. Als er von der Kanzel heruntergeholt worden war, erinnerte sich eine Dienstmagd daran, dass ein Ohnmächtiger wieder zu Sinnen kommen würde, wenn eine Jungfrau ihm in den Hosenlatz griffe, um ihn kräftig am Gemächt zu fassen. Als sie solchermaßen verfuhr, war dies natürlich Anlass genug für eine Einzelvisitation.

Arten von Visitationsakten

Die Visitationsakten lassen sich ihrer Entstehung nach in drei Gruppen einteilen: Da sind erstens jene Akten, die bei der Vorbereitung einer Visitation zustande kamen, wie juristische und pastorale Traktate zum Thema Kirchenvisitation, Gesetze und Erlasse über die Durchführung, Instruktionen für die Visitatoren, Interrogatorien und Visitationsbefehle. Eine zweite Gruppe bilden alle Akten, die in unmittelbarem Zusammenhang mit einer Visitation entstanden, nämlich die Protokolle.

Zu einer dritten Gruppe gehören schließlich die Akten, die im Anschluss an eine Visitation erwuchsen. Dazu gehören neben Visitationsrechnungen, Zusammenfassungen und statistischen Erhebungen vor allem Rügen, Urteile und Rezesse, durch welche die festgestellten Mängel beseitigt werden sollten.

Nicht unerwähnt bleiben dürfen die oft zahlreichen Beiakten: zumeist Kirchenrechnungen, Einkommens- und Abgabenverzeichnisse oder Inventarien der Kirchenausstattung. Gelegentlich finden sich auch Korrespondenzen zwischen dem Veranlasser der Visitation und anderen (geistlichen oder weltlichen) Herrschaftsträgern und Institutionen, die sich in ihren eigenen Rechten eingeschränkt sahen; nicht selten sind Eingaben und Beschwerdeschriften an den Visitator, sei es von Gemeindemitgliedern oder auch von Geistlichen. Seltener hingegen stößt man auf Namenslisten von Personen, die in der einen oder anderen Weise die kirchlichen Normen missachteten: Leute, die den Sakramenten fernblieben, die gegen das Fastengebot verstießen, die ihre Ehe brachen oder einer anderen Konfession zugehörten.

Die vorbereitenden Akten sind stets in allgemeinem Ton gehalten und geben keine Auskunft über die Zustände in einzelnen Orten - bisweilen mit Ausnahme der Instruktionen, wenn sich diese auf vorangegangene Visitationen beziehen und den Visitator auf bestimmte Mängel in einzelnen Pfarreien aufmerksam machen wollen.

Die Akten der dritten Gruppe wiederum geben nur Ausschnitte des Visitationsgeschehens wieder; die Mängelverzeichnisse etwa blenden den „Normalzustand“ aus und vermitteln deshalb ein stark verzerrtes Bild; sie sind, für sich selbst genommen, „chroniques scandaleuses“ im wahrsten Sinn des Worts. Und Schande über alle Historiker, die glauben, sie hätten ein Protokoll vor sich, wenn ihnen ein solches Mängelverzeichnis in die Hände gefallen ist! Die inhaltlich ergiebigste und aussagekräftigste Aktengruppe bilden ohne Zweifel die Protokolle. Sie lassen sich zumeist leicht an ihrer äußeren Form erkennen. Die Schreiber nennen den visitierten Ort in der Art einer Überschrift (wobei sie im Idealfall auch das Datum angeben) und führen dann die einzelnen Punkte auf, die durch den Fragebogen vorgegeben sind - ganz gewissenhafte Schreiber halten sich dabei sogar an die Reihenfolge der einzelnen Punkte des Fragebogens. Daran anschließend folgt der nächste visitierte Ort mit den zugehörigen Informationen und so fort.

Damit ist freilich nur ein Idealtyp beschrieben, denn gerade die frühen Visitationsberichte sind formal recht uneinheitlich. Die Visitatoren hatten es vielfach noch nicht gelernt, sich streng an ihre Fragebögen zu halten. Sie neigten dazu, all jene Dinge überaus genau zu beschreiben, die ihnen besonders auffielen oder die ihnen sehr wichtig erschienen; andere Punkte kamen darüber zu kurz oder wurden völlig vergessen. So kann es sein, dass ein Visitator beispielsweise vom Ort A nur über Glaubensabweichungen berichtet, während ihm der anstößige Lebenswandel des Pfarrers von B eine lange Klage entlockt, wohingegen er in C nichts anderes wahrnimmt als das wohlgebaute Gotteshaus mit seinem prächtigen Altar.

Inhalte der Visitationsprotokolle

Dem von Ernst Walter Zeeden und dem Verfasser herausgegebenen „Repertorium der Kirchenvisitationsakten“ ist ein Raster von 23 Inhaltspunkten zu Grunde gelegt, die hier näher zu erläutern sind. In Klammer wird die prozentuale Häufigkeit in den protestantischen und den katholischen Protokollen des 16. Jahrhunderts hinzugefügt, die zwischen 1973 und 1984 in dem Tübinger Sonderforschungsbereich „Spätmittelalter und Reformation“ unter Ernst Walter Zeeden bearbeitet wurden.

1. Besondere Umstände der Visitation (4% prot., 9% kath.)

Gemeint sind damit die Einzelheiten über den formalen Ablauf der Visitation: Es kommt vor, dass der Visitator über seinen Reiseweg berichtet und angibt, wo er seine Mahlzeiten einnahm und wo er nächtigte. In gegebenem Fall teilt er mit, ob ihm das Recht zur Durchführung der Visitation bestritten wurde – dies können (bei einer bischöflichen Visitation) geistliche Korporationen sein, aber auch weltliche Herrschaftsträger bzw. deren Repräsentanten.

2. Kirchenrechtliche Verhältnisse (36% prot., 60% kath.)

Darunter fallen Einzelheiten wie Kollatur, Patronat, Investitur, Vermögensverwaltung, Bau- und sonstige Lasten sowie Inkorporationen. Der wohl wichtigste Gesichtspunkt – das Patronat – findet am häufigsten Erwähnung; andere Details werden weniger oft genannt. Bei Protokollen katholischer Provenienz ist gelegentlich zu erkennen, dass der weltliche Territorialherr versuchte, die Kontrolle über die kirchlichen Finanzen an sich zu bringen. In protestantischen Gebieten konnten sich derartige Konflikte nur dort ergeben, wo Landes- und Kirchenherrschaft nicht identisch waren.

3. Weltliche Verwaltung (63% prot., 12% kath.)

Zur Sprache kommen hier Schultheißen, Bürgermeister, Amtleute, Richter und Gerichtspersonen – entweder pauschal oder auch mit Angabe der Namen; vereinzelt finden sich Angaben über ihre Religiosität und über ihre Amts- und Lebensführung.

4. Konflikte: geistliche – weltliche Obrigkeit / Pfarrer – Gemeinde (12% prot., 5% kath.)

Bisweilen klagten die Pfarrer darüber, dass die Inhaber der weltlichen Herrschaft sich in kirchliche Belange einmischten, indem diese zum Beispiel die Überprüfung der Kirchenrechnungen an sich zogen oder Kirchengut für ihre eigenen Zwecke verwendeten. Zu Misshelligkeiten zwischen Pfarrer und Gemeinde kam es vor allem wegen der Abgaben. Die Gemeinden ließen es aber auch oftmals an der von der kirchlichen Obrigkeit gebotenen Ehrerbietung dem Pfarrer gegenüber fehlen.

5. Demographische Angaben (30% prot., 46% kath.)

Zumeist wird nur die Zahl der Abendmahlsempfänger bzw. der Kommunikanten genannt. Bei der Benützung dieser Zahlen ist in mehrfacher Hinsicht Vorsicht geboten: Zum Einen wird nicht immer deutlich, ob der Pfarrer nur die Kommunikanten der Pfarrkirche oder auch noch diejenigen der Filialorte meint. Zum Andern sind die Zahlen manchmal ganz offensichtlich grob geschätzt – man sieht dies an stark abgerundeten Zahlenwerten. Des Weiteren verschweigen die Pfarrer bisweilen die Zahl derer, die nicht zum Tisch des Herrn gingen. Im 17. Jahrhundert werden solche Angaben generell genauer und häufiger; in zunehmendem Maße nennen die Akten auch Taufen, Trauungen und Todesfälle. Vereinzelt finden sich schon im 16. Jahrhundert Schülerzahlen oder die Zahl der Häuser und Herdstätten.

6. Patrozinien (4% prot., 18% kath.)

Neben den Kirchenpatrozinien wird auch auf Kapellen- und Altarpatrozinien hingewiesen.

7. Bauzustände (44% prot., 41% kath.)

Die Akten beschränken sich nicht nur auf das Kirchengebäude, sie gehen auch auf das Pfarrhaus, auf Pfarrhof und Pfarrscheuer, auf den Friedhof und das Beinhaus und schließlich auf die Behausungen der Kapläne und Schulmeister ein.

8. Kirchenausstattung (26% prot., 52% kath.)

Hierzu gehören alle beweglichen und unbeweglichen Gegenstände im Kircheninnern, wie Altäre und Sakramentshäuschen, Kreuze und Kelche, Monstranzen und Bilder, Gestühl und Kanzeln, Skulpturen und Glocken, Taufsteine, Weihwasserbecken und Beichtstühle, Rauchfässer, Chorröcke, Patenen, liturgische Bücher und dergleichen mehr. Protestantische Visitatoren bemängelten, dass derlei Dinge noch aus vorreformatorischer Zeit vorhanden waren; ihre katholischen Kollegen hingegen konstatierten oftmals die geringe Anzahl solcher Gerätschaften.

9. Filialkirchen und Kapellen (44% prot., 28% kath.)

Die Entfernungen der Filialen zur Mutterkirche vermitteln einen Eindruck davon, welche Wegstrecken die Pfarrkinder zurückzulegen hatten, um den Gottesdienst zu besuchen. Die württembergischen Akten des 17. Jahrhunderts vermerken die Wegstrecken durchgängig: Ganz kurze Distanzen werden dort „Büchsenschuss“ genannt und die kürzesten heißen „Steinwurf“.

10. Wirtschaftliche Verhältnisse (89% prot., 41% kath.)

Anführt werden die Einkünfte der Geistlichen und des kirchlichen Personals. Das geschieht teils unter Nennung der Ländereien, die zu einer Pfründe gehören, teils unter Angabe der Naturalabgaben, teils auch unter Auflistung von Geldbeträgen. Außerdem ist die Rede von der Kirchenfabrik, ihrer materiellen Ausstattung und Verwaltung. Aus diesem Fundus sind Reparaturen an den kirchlichen Gebäuden wie auch das liturgische Gerät zu finanzieren.

11. Klerus und kirchliches Personal (87% prot., 97% kath.)

Fast ausnahmslos nennen die Quellen die Namen der Pfarrer, seltener die der Hilfsgeistlichen, der Kapläne, Vikare, Altaristen, Diakone und wie sie immer heißen mögen. Im 16. Jahrhundert reden die Protokolle noch nicht sehr oft über Alter, Ausbildungsgang, Dienstzeit, Ehefrau und Kinder (bei Protestanten) der Pfarrer; im 17. Jahrhundert sind hingegen solche Angaben überwiegend vorhanden. Nur ganz gelegentlich liefern die Akten weitere Daten zur Person, wie die Namen der Eltern, die Herkunft der Ehefrau oder der berufliche Werdegang der Kinder.

Über die Pfarrer wird man noch am besten informiert, über die Hilfsgeistlichen weniger gut und noch schlechter über die Laien, die hier zum kirchlichen Personal gezählt werden: die Ältesten, Presbyter und Sendschöffen, die Heiligenpfleger, Mesner, Organisten und Glöckner.

12. Bekenntnis des Klerus (31% prot., 7% kath.)

In der Gründungsphase der neuen Kirchenwesen (im protestantischen Bereich) wie auch die ersten Jahrzehnte nach dem Trienter Konzil (im katholischen Bereich) gehörte mangelnde Bekenntnistreue zu den besonders gravierenden Problemen. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts war davon nichts mehr zu bemerken.

13. Lebensführung des Klerus (54% prot., 43% kath.)

In vorreformatorischer Zeit war der soziale Abstand zwischen dem niederen Klerus und den Laien (besonders auf dem Land) sehr gering. Die Konfessionskirchen suchten die Distanz zu vergrößern und ihrer Geistlichkeit einen standesgemäßen Lebenswandel anzuerziehen. Unsere Quellen zeigen, wie weit die Praxis zunächst noch vom Ideal entfernt war: Die Kleriker aller Konfessionen verzichteten teilweise nur ungern auf die bei den Laien üblichen Vergnügungen, wie etwa die Teilnahme an Festen, auf den Wirtshausbesuch, auf Trinkgelage und Schlägereien, auf das Tanzen oder auf Karten-, Würfel- oder Kegelspiel. Auch wollten sie sich nicht daran gewöhnen, eine Kleidung zu tragen, wie sie nach Auffassung der kirchlichen Obrigkeit dem Priesterstand angemessen war.

Im sexuellen und familiären Bereich gab es ebenfalls Probleme – die katholischen Geistlichen zeigten wenig Neigung, vom Konkubinat abzulassen; die Ehen ihrer protestantischen Amtsbrüder waren nicht immer vorbildhaft.

14. Amtsführung des Klerus (56% prot., 22% kath.)

Wie bei Bekenntnis und Amtsführung, so zeigt sich auch bei der Amtsführung, dass die Konsolidierung der Amtskirchen nicht von heute auf morgen vonstatten ging. Als häufigste Mängel wurden angetroffen: Unkenntnis und fehlerhafte Durchführung der Riten sowie Unterlassen der Amtsaufgaben in mehr oder minder großem Umfang.

15. Bildungsstand des Klerus (44% prot., 4% kath.)

Wenn also der Klerus in seiner Amts- und Lebensführung vielfach zu wünschen übrig ließ, so war im Bereich der Bildung auch nur wenig zu erwarten, zumal nicht jeder Priester im 16. Jahrhundert mit einem Universitätsstudium aufwarten konnte: Die Visitatoren hatten somit guten Grund zu sorgfältiger Kontrolle. Häufig mussten sich die Geistlichen einem regelrechten Examen unterziehen und nicht selten wurde ihre (meist kümmerliche) Bibliothek inspiziert.

16. Kultus (44% prot., 48% kath.)

Dieses Stichwort umfasst die Ordnung und Form der rituellen Handlungen wie auch deren vorgeschriebene oder ortsübliche Frequenz – die Hochämter, Vespern und Vigilien, die Taufen, Betstunden und Heiligentage, die Trauungen, Christmetten, Bußfeiern, Exequien und was die kirchlichen Ritualien sonst noch enthalten. Dazu gehören auch die functiones sacrae, d.h. kultische Formen in weiterem Sinne wie z.B. Prozessionen, Exorzismen und Benediktionen oder die Verwendung des Palmesels oder der Pfingsttaube, sofern Derartiges den kirchlichen Vorschriften nicht zuwiderlief.

17. Katechese und Predigt (55% prot., 35% kath.)

Auch hier geht es um Ordnung, Form und Frequenz. Zur Katechese gehören neben dem Katechismusunterricht der Beicht-, Kommunion- und Brautunterricht. Gepredigt werden sollte nicht nur an Sonn- und Feiertagen, sondern auch bei verschiedenen anderen Anlässen; so ist in den Akten die Rede von Leichen-, Buß-, Türken- und Wochenpredigten.

18. Volksfrömmigkeit und Brauchtum (35% prot., 22% kath.)

Die Beteiligung des Volks am Gottesdienst und an allen anderen, unter Kultus genannten, liturgischen Handlungen ist hier gemeint, zudem auch Brauchtümliches, das in mittelbarem Zusammenhang mit der Kirche steht, wie etwa das Johannisfeuer, der Osterspaziergang oder der Pfingstumritt.

19. Lehrabweichungen (14% prot., 16% kath.)

Hier sind nur Lehrabweichungen der Laien innerhalb einer Konfession subsummiert; anderskonfessionelle Gruppen werden unter Punkt 23 „religiöse Minderheiten“ erfasst. Wie schwierig die „Lehrabweichung“ von der „anderskonfessionellen Gruppe“ zu unterscheiden sein kann, zeigen beispielsweise die frühen Visitationen des Ulmer Landgebiets. Die Visitatoren stießen dort auf allerlei seltsam durcheinandergemischte Glaubensmeinungen, die sich teils innerhalb, teils außerhalb der offiziellen Ulmer Lehre bewegten.

20. Sozialeinrichtungen (54% prot., 22% kath.)

Die Visitationsakten wissen zu diesem Punkt nicht sehr viel zu berichten. Ein Grund dafür mag sein, dass während des 16. Jahrhunderts die soziale Fürsorge im ländlichen Raum noch weitgehend in den Händen von Familie und Nachbarschaft ruhte; über Spitäler, Armen-, Fallend- (Häuser für Epileptiker), Siechen- oder Waisenhäuser verfügten ohnedies meist nur größere Kommunen.

In einigen Fällen sprechen die Protokolle von Almosen und gehen darauf ein, wie diese Gelder verwaltet wurden. Etwas häufiger nennen unsere Quellen die Hebammen. Die Visitatoren kümmerten sich jedoch nicht um deren fachliche Qualifikation, sondern sie wollten in erster Linie wissen, ob sie die Nottaufe spenden konnten und ob sie vom Pfarrer vereidigt worden waren.

21. Bildungseinrichtungen (34% prot., 5% kath.)

Zumeist erwähnen die Visitatoren lediglich das Vorhandensein eines Schulmeisters. Zu seiner Amts- und Lebensführung wie auch zu seinem (in der Regel katastrophal schlechten) Einkommen äußern sie sich dagegen nur vereinzelt. Das Schulgebäude, die Schüler und der Unterricht werden sehr selten abgehandelt.

22. Einstellung und Verhalten in der Gemeinde (80% prot., 19% kath.)

Unter dieser Rubrik ist alles erfasst, was die Kirche jenseits des engeren rituellen Rahmens an der Bevölkerung zu disziplinieren gedachte. Die Quellen geben allerdings nur indirekte Informationen: Im Allgemeinen berichteten nämlich die Pfarrer dem Visitator über ihre Gemeinden; letzterer kannte die Verhältnisse also nicht aus eigener Anschauung. Hier eine Aufzählung der häufigsten Themenkomplexe:

Dem sakralen Bereich verhältnismäßig nahe stehen die Forderungen der Konfessionskirchen nach der Heiligung der Sonn- und Feiertage sowie nach dem Unterlassen gotteslästerlicher Redensarten – solche werden in den Akten bisweilen wörtlich zitiert. Die mannigfaltigen Flüche und Schimpfreden ergaben sich wohl oft aus Streitereien, die nicht selten zu Handgreiflichkeiten führten, wie die kirchlichen Kontrolleure immer wieder feststellen mussten. Weiterhin hatten sie ein scharfes Auge auf magische Handlungen, auf Wahrsagerei, Kristallseherei und Zauberei wie auch auf das weit verbreitete Segensprechen. Außerdem galt das Augenmerk der Überwacher jenem Bereich, den wir unter „Brauchtum“ subsumieren – hier alles, was nicht mehr in den kirchlichen Bereich gehört (vgl. Pkt. 18). Dazu gehören die Sonnwendfeste, das Kirmes- und Fastnachtstreiben, das Lehenausrufen oder die Heischebräuche. Überhaupt wurde viel, ausdauernd und mit Hingabe gefestet – Anlässe dazu ließen sich in ausreichendem Umfang finden. Dem hierbei getriebenen Aufwand wie auch der dadurch entstehenden Ausgelassenheit suchten die kirchlichen und weltlichen Obrigkeiten engere Grenzen zu ziehen – zum Leidwesen der Kontrolleure meist mit recht geringem Erfolg. Nicht gerade selten berichten die Visitationsakten von Unzucht, wobei es entweder bei einer pauschalen Bemerkung bleibt oder aber die näheren Umstände und die beteiligten Personen genannt werden. Außerdem finden sich Nachrichten über getrennt lebende Ehepaare und über Ehepartner (meist Männer), die ihre Familien verlassen hatten. Daneben erfahren wir von Eheschwierigkeiten aller Art, seltener von üblem Haushalten, von der Erziehung, von der Vernachlässigung der Kinder und von Auseinandersetzungen zwischen Eltern und erwachsenen Kindern.

23. Religiöse Minderheiten (4% prot., 9% kath.)

Jeweils anderskonfessionelle Gruppen werden hier aufgeführt – Kalvinisten, Katholiken, Lutheraner, Schwenckfeldianer, Utraquisten, Wiedertäufer oder Zwinglianer, ganz nach dem Standort der Visitatoren. Zu nennen sind an dieser Stelle auch die Juden, die in den Protokollen allerdings kaum einmal erscheinen. Zumeist erwähnen die Protokolle lediglich die Glaubensgruppen pauschal (acatholici, Papisten) und nur sporadisch werden einzelne Personen mit Namen genannt. In seltenen Ausnahmefällen trifft man auf ganze Namenslisten, die allerdings auch unter den Beiakten zu finden sein können.

Literatur

  • Betz-Wischnath, Irmtraud, Die Auswirkungen des Tridentinums im Bistum Konstanz unter besonderer Berücksichtigung des vorderösterreichischen Breisgaus, 1998 ( noch nicht veröffentlicht).
  • Coulet, Noël, Les visites pastorales, Turnhout 1977.
  • Froeschlé-Chopard, Marie-Hélène, Une définition de la religion populaire à travers les visites pastorales d'Ancien régime, in: La Religion populaire, hg. von Guy Duboscq/Bernard Plongeron/Daniel Robert (Colloques internationaux du Centre National de la Recherche Scientifique 576), Paris 1979, S. 185-192.
  • Kirche und Visitation. Beiträge zur Erforschung des frühneuzeitlichen Visitationswesens in Europa, hg. von Ernst Walter Zeeden/Peter Thaddäus Lang, Stuttgart 1984.
  • Lang, Peter Thaddäus, Die Bedeutung der Kirchenvisitation für die Geschichte der Frühen Neuzeit. Ein Forschungsbericht, in: Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte 3 (1984), S. 207-212 (aus diesem Aufsatz hier der Abschnitt „Bedeutung für die Frühe Neuzeit“).
  • Lang, Peter Thaddäus, Die Kirchenvisitationen des 16. Jahrhunderts und ihr Quellenwert, in: Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte 6 (1987), S. 133-154 (aus diesem Aufsatz hier die Abschnitte „Arten von Visitationsakten“ und „Inhalte der Visitationsprotokolle“).
  • Lang, Peter Thaddäus, Die Erforschung der frühneuzeitlichen Kirchenvisitationen. Neuere Veröffentlichungen in Deutschland, in: Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte 16 (1997), S. 185-194.
  • Lang, Peter Thaddäus, Visitationsprotokolle und andere Quellen zur Frömmigkeitsgeschichte, in: Aufriß der Historischen Wissenschaften, Bd. 4: Quellen, hg. von Michael Maurer, Stuttgart 2002, S. 302-324.
  • Repertorium der Kirchenvisitationsakten aus dem 16. und 17. Jahrhundert aus Archiven der Bundesrepublik Deutschland, hg. von Ernst Walter Zeeden/Peter Thaddäus Lang u.a., Bd. 1: Hessen, Stuttgart 1982; Bd. 2: Baden-Württemberg I, Stuttgart 1984; Bd. 3: Baden-Württemberg II, Stuttgart 1987 (dort jeweils in der Einleitung der hier wiedergegebene Abschnitt „Geschichte der Visitation“).
  • Schmidt, Heinrich Richard, Konfessionalisierung im 16. Jahrhundert (Enzyklopädie deutscher Geschichte 12), München 1992.
  • Tolley, Bruce, Pastors and Parishioners in Württemberg during the Late Reformation 1581-1621, Stanford, Ca1995.
  • Die Visitation im Dienst der kirchlichen Reform, hg. von Ernst Walter Zeeden/Hansgeorg Molitor (Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung 25/26), Münster i.W. 21977.
  • Le visite pastorali. Analisi di una fonte, hg. von Umberto Mazzone/Angelo Turchini, Bologna 1985.
  • Le visite pastorali fra storia sociale e storia religiosa d'Europa: un antico istituto in nuove prospettive, hg. von Cecilia Nubola/Angelo Turchini, Bologna 1998 (Überblick über den gegenwärtigen Stand der Forschung in Europa).

Zitierhinweis:  Peter Thaddäus Lang, Visitationsakten, in: Südwestdeutsche Archivalienkunde, URL: […], Stand: 2005.

 

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