Missivenbücher

Von Patrizia Hartich

Briefeinträge aus dem Jahr 1477 mit den Adressaten als Überschriften in einem Esslinger Missivenbuch (Quelle: Stadtarchiv Esslingen, Bestand Reichsstadt, Missivenbuch Bd. 8, 120v–121r)
Briefeinträge aus dem Jahr 1477 mit den Adressaten als Überschriften in einem Esslinger Missivenbuch (Quelle: Stadtarchiv Esslingen, Bestand Reichsstadt, Missivenbuch Bd. 8, 120v–121r)

Definition der Quellengattung

Missivenbücher, auch als Missiv-, Briefbücher, Missivenprotokolle oder schlicht als Missive bezeichnet, sind serielle Verwaltungsquellen, die aus der institutionellen schriftlichen Kommunikation, hauptsächlich von (Reichs-)Städten, resultieren. Sie enthalten den ausgehenden Briefverkehr als Konzept oder in Kopie in chronologischer Reihenfolge. Sie wurden im Auftrag des jeweils korrespondierenden städtischen Rats angelegt, für die Erstellung und für die konkrete Gestaltung waren aber die jeweiligen Stadt- beziehungsweise Ratsschreiber verantwortlich. Die Bezeichnung Missivenbuch lässt sich zumindest für die Reichsstadt Esslingen (Missivenbůch) sowie für Freiburg (liber missivarum) als zeitgenössisch nachweisen.[1]

Aufbau und Inhalt

Die Bücher wurden auf Papier erstellt und mit Koperteinbänden aus Leder versehen. Abhängig vom Entstehungsort lagen bei der Eintragung der Briefausgänge entweder bereits die gebundenen Kodizes oder noch lose ineinandergelegte Lagen vor, die nach dem Beschreiben zusammengefasst wurden. Zu Beginn einiger Bände finden sich zur besseren Auffindbarkeit einzelner Briefeinträge zeitgenössische Register, die alphabetisch nach Adressaten geordnet und gelegentlich auch mit Regesten ausgestattet wurden. Die Aufnahme der Briefausgänge in diese Register erfolgte aber meist sporadisch.

Inhaltlich besteht der Kern der Bücher aus den ausgesandten Brieftexten, die sukzessive und überwiegend chronologisch eingetragen wurden. Die Adresse mit Angabe des Empfängers, die sich auf den Originalbriefen auf der Rückseite befand, wurde als Überschrift angeführt. Hier trugen manche Schreiber auch kurze Regesten des Briefinhaltes ein. Daraufhin folgen der Brieftext selbst sowie die Unterschrift der ausstellenden Stadt. Abhängig vom eintragenden Schreiber konnten einzelne Formularteile wie die Über- oder Unterschrift zugunsten der Arbeitsökonomie sowie aus Platzgründen gekürzt, auf die Unterschrift auch ganz verzichtet werden. Statt des vollständigen Brieftextes erfolgte in manchen Fällen auch nur ein Regest.

Randnotizen erleichtern in vielen Bänden die Übersicht; so zeigen beispielsweise die Kennzeichnungen von Brieftexten mit non est missa[2], dass diese Briefe nicht versendet worden waren. Mittels Vermerke am Ende der Brieftexte wie des gelych ist ŏch geschriben den von [...][3] wurde der Versand gleichlautender Stücke an mehrere Empfänger angezeigt. Gleichzeitig konnte mit Hilfe von Rubrizierungen auf Höhe des Briefanfangs in Kurzform auf den Adressaten hingewiesen werden.

In einigen Städten wurde die Korrespondenz in getrennten Reihen aufgenommen. In Konstanz beispielsweise wurde zu Beginn der Laufzeit der Missivenbücher der Briefverkehr, der im Zusammenhang mit einem Bündnis der Bodenseestädte ausgesandt wurde, getrennt von der restlichen Korrespondenz aufgenommen. In Esslingen erfolgte ab dem Jahr 1541 ebenfalls eine Reihentrennung, bei der der Briefausgang an die Herzöge von Württemberg sowie an die Amtsträger ihres Territoriums vom übrigen Briefverkehr separiert wurde.

Neben der Eintragung von Brieftexten konnten Missivenbücher zusätzlich genutzt werden, um weitere administrative Vorgänge festzuhalten. So wurden häufig auch Abschriften von Urkunden, die für die Städte von besonderer Bedeutung waren, nach demselben Schema wie die Brieftexte eingetragen. Hin und wieder finden sich auch kanzleiinterne Notizen wie beispielsweise Erinnerungen an ausstehende Aufgaben sowie, seltener, Briefeingänge. Im Fall der Esslinger Bücher sind zur Zeit des Stadtschreibers Niklas von Wyle (Stadtschreiber in Esslingen von 1448 bis 1469) zudem Zeichnungen sowie Kritzeleien auf den letzten Blättern der Bücher festgehalten. Darunter finden sich auch Entwürfe von Boten- und Bürgereiden sowie Bürgerlisten und Ratsprotokolle, sodass sich hier auch innerstädtische Begebenheiten widerspiegeln. Eintragungen dieser Art stellen aber eine Ausnahme dar.

Überlieferungslage

In Südwestdeutschland sind Missivenbücher in den Stadtarchiven der ehemaligen Reichsstädte Esslingen (44 Bände, 1434–1598), Freiburg (54 Bände, 1440–1693), Konstanz (183 Bände, 1461–1779) und Überlingen (71 Bände, 1510–1817) erhalten, etwas darüber hinaus auch in Augsburg, Nördlingen, Nürnberg, Rothenburg ob der Tauber, Speyer und Weißenburg. Die Überlieferung der genannten Missivenbücher setzt frühestens zu Beginn des 15. Jahrhunderts ein und endet spätestens im 19. Jahrhundert. In den meisten Serien finden sich durch den Verlust einzelner Bände unterschiedlich große Lücken.

Die Verzeichnungsquote der Brieftexte ist schwankend und die meisten Serien verzeichnen den Briefverkehr nicht lückenlos. Generell enthalten sie jedoch bis auf Ausnahmen die Briefeinträge in hochfrequentierter Weise, sodass ein überwiegender Teil des Briefausgangs vorliegt. Somit sind Missivenbücher, wo vorhanden, als fester Bestandteil des Kommunikationsprozesses der Kanzlei einzuordnen.

Quellenkritik und Auswertungsmöglichkeiten

Durch die verschiedenen Inhalte der eingetragenen Brieftexte lassen sich Missivenbücher als Informationsquelle für spätmittelalterliche Wirtschafts-, Verfassungs-, Rechts-, Ereignis- und Sozialgeschichte heranziehen. Für das von Auseinandersetzungen zwischen Reichsstädten und benachbarten Territorialherren geprägte 15. Jahrhundert können beispielsweise regional- und reichspolitischer wie auch militärischer Informationsaustausch sowie Absprachen zwischen befreundeten oder verbündeten Städten herausgearbeitet werden. Daneben treten auf kleinerer Ebene, beispielsweise aus Geleit- oder Kredenzbriefen, auch einzelne Bürger in Erscheinung. Da sie häufig aus anderen Quellen ansonsten nicht nachweisbar sind, kann hiermit zumindest ein kurzer Lebensabschnitt dieser Personen beleuchtet werden.

Darüber hinaus lassen sich anhand der Einträge in Missivenbüchern Erkenntnisse hinsichtlich der Kommunikationsgeschichte von Städten gewinnen. Die Bücher zeigen die Kommunikationspartner sowie die Häufigkeit des Briefversands auf. Allerdings sei darauf hingewiesen, dass, in unterschiedlichem Umfang und abhängig von der Stadt und dem dort tätigen Schreiber, nicht immer alle Briefe in die Bücher eingetragen wurden, sodass der Briefausgang stellenweise unvollständig vorliegt.

Obwohl der Briefverkehr in Missivenbüchern nur einseitig festgehalten ist, sind die Bücher als Überlieferungsträger von hoher Bedeutung. Briefe haben eine geringe Überlieferungschance, da sie nach der Nachrichtenübermittlung oft entsorgt wurden. Mit ihrer Niederschrift in den Büchern liegen somit gesammelt Brieftexte vor, deren Ausfertigung häufig nicht mehr erhalten ist. Gleiches gilt für sogenannte zedulae/cedule, Briefzusätze, die Ergänzungen oder auch Geheimbotschaften in Form eines kleinen Zettels, der in den Brief hineingelegt wurde, übermittelten. Diese zedulae wurden wohl nur von Fall zu Fall den Brieftexten nachstehend in die Bücher aufgenommen. Ihre Überlieferungschance war noch geringer als die der Briefe selbst, sodass sie meist nur über ihren Eintrag in den Büchern nachweisbar sind.

Neben der Auswertung der Briefinhalte ist die Untersuchung der Vorgehensweise bei der Eintragung in die Bücher aussagekräftig für Verwaltungsgeschichte, Kanzleipraxis und Schriftlichkeit spätmittelalterlicher Städte. Betrachtet man die an den Büchern beteiligten Schreiberhände, lassen sich Rückschlüsse auf das Kanzleipersonal und gleichzeitig auf dessen Verantwortungsbereich und Ausbildung ziehen. Die Eintragung der Brieftexte als Entwürfe oder Abschriften, die sich anhand der unterschiedlich starken Korrektureingriffe als solche identifizieren lassen, geben Auskunft über die tägliche Arbeit in der Kanzlei. Gleichzeitig können hierüber Zweck und Nutzung der Bücher bestimmt werden: Wurden die Briefe direkt als Entwürfe eingetragen, nutzte man die Bände als Teil der Briefausstellung. Liegen vermehrt Abschriften vor, wurden die Briefe nach Abschluss der Ausfertigung eingetragen und die Missivenbücher dienten als Kopialbücher und Erinnerungswerke.

Hinweise zur Benutzung

Die Missivbücher des Stadtarchivs Speyer liegen als Online-Ressource vor und sind über das Portal www.findbuch.net zugänglich. Generell sind bei Missivenbüchern keine Sperrfristen zu beachten; lediglich können einzelne Exemplare aus konservatorischen Gründen Einschränkungen bei der Benutzung unterliegen.

Forschungs- und Editionsgeschichte

Die ältere Forschung beschäftigte sich mit Missivenbüchern hauptsächlich, um personen- oder ereignisgeschichtliche Einzelfälle aufzuarbeiten. Innerhalb der letzten Jahre wurden sie zunehmend auch zur Untersuchung städtischer Kommunikationsgeschichte und Kanzleipraxis herangezogen.

Insgesamt wurde die Gattung der Missivenbücher selbst somit nur schlaglichtartig für kurze Zeitspannen genutzt. Vereinzelt liegen für Missivenbücher bayerischer Archive, so für die Bände im Stadtarchiv Augsburg oder diejenigen im Staatsarchiv Nürnberg, kurze einführende Darstellungen vor.[4] Auch gibt es bisher keine vollständigen Editionen von Missivenbüchern des deutschen Südwestens, was sicherlich auch dem großen Umfang der überlieferten Buchserien geschuldet ist. Allerdings wurden gelegentlich Teiltranskriptionen innerhalb von Publikationen, die Missivenbücher zur Erforschung von Einzelfällen herangezogen haben, angefertigt.

Anmerkungen

[1] Vgl. exemplarisch Stadtarchiv Esslingen, Bestand Reichsstadt, Missivenbuch Bd. 18 (1520–1521), erstes, unfoliiertes Blatt des Bandes sowie ebenfalls exemplarisch Stadtarchiv Freiburg, B5 XI, Nr.1/4 (1443), Umschlagtitel.
[2] Vgl. Timpener, Strategien, S. 72.
[3] Exemplarisch Stadtarchiv Esslingen, Bestand Reichsstadt, Missivenbuch Bd. 1 (1434–1437), S. 44.
[4] Vgl. Kalesse, Missivbücher, S. 658 sowie Bauernfeind, Briefbücher, S. 159.

Literatur

  • Bauernfeind, Walter, Briefbücher, in: Stadtlexikon Nürnberg, hg. von Michael Diefenbacher/Rudolf Endres, Nürnberg 2000, S. 159.
  • Hartich, Patrizia, Die Esslinger Missivenbücher: Kanzlei- und Kommunikationspraxis der Reichsstadt Esslingen im ausgehenden Mittelalter, in: Schreiben - Verwalten - Aufbewahren: neue Forschungen zur Schriftlichkeit im spätmittelalterlichen Esslingen, hg. von Mark Mersiowsky/Anja Thaller/Joachim J. Halbekann (Esslinger Studien 49). Ostfildern 2018, S. 179-200.
  • Holzapfl, Julian, Kanzleikorrespondenz des späten Mittelalters in Bayern. Schriftlichkeit, Sprache und politische Rhetorik (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 159), München 2008.
  • Kalesse, Claudia, Missivbücher (Briefbücher), in: Augsburger Stadtlexikon. Geschichte, Gesellschaft, Kultur, Recht, Wirtschaft, hg. von Günther Grünstreudel, 2. Auflage, Augsburg 1998, S. 658.
  • Kluge, Mathias Franc, Die Macht des Gedächtnisses. Entstehung und Wandel kommunaler Schriftkultur im spätmittelalterlichen Augsburg (Studies in medieval and Reformation traditions 181), Leiden 2014.
  • Polívka, Miloslav, „Briefbücher des Rates der Reichsstadt Nürnberg“ jako pramen k českým dějinám a česko-německým vztahům doby Václava IV. [Briefbücher des Rates der Reichsstadt Nürnberg als Quelle zur Geschichte der böhmischen Länder und der deutsch-böhmischen Beziehungen in der Regierungszeit König Wenzels IV.], in: Historia docet. Sborník prací k poctě šedesátých narozenin prof. PhDr. Ivana Hlaváčka, hg. von Dems./Michal Svatoš (Práce Historického ústavu Československé akademie věd. Řada C, Miscellanea 7), Prag 1992, S. 417–436.
  • Polívka, Miloslav, Nürnberg als Nachrichtenzentrum in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts, in: Kommunikationspraxis und Korrespondenzwesen im Mittelalter und in der Renaissance, hg. von Heinz-Dieter Heimann/Ivan Hlaváček, Paderborn/München/Wien/Zürich 1998, S. 165–177.
  • Timpener, Evelien, Diplomatische Strategien der Reichsstadt Augsburg. Eine Studie zur Bewältigung regionaler Konflikte im 15. Jahrhundert (Städteforschung. Veröffentlichungen des Instituts für vergleichende Städtegeschichte in Münster, Reihe A: Darstellungen 95), Köln/Weimar/Wien 2017.
  • Untheim, Carina, Weißenburg im städtisch-territorialen Kommunikationsnetz der Frühmoderne, in: Frankens Städte und Territorien als Kulturdrehscheibe. Kommunikation in der Mitte Deutschlands. Interdisziplinäre Tagung vom 29. bis 30. September 2006, Weißenburg in Bayern, hg. von Wolfgang Wüst (Mittelfränkische Studien 19), Ansbach 2008, S. 139–160.
  • Wüst, Wolfgang, Süddeutsche Reichsstädte als Informationsdrehscheibe, in: Grenzüberschreitungen. Die Außenbeziehungen Schwabens in Mittelalter und Neuzeit, hg. von Dems./Georg Kreuzer/David Petry (Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben 100), Augsburg 2008, S. 305–325.

Zitierhinweis:  Patrizia Hartich, Missivenbücher, in: Südwestdeutsche Archivalienkunde, URL: [...], Stand: 14.07.2017.

 

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