Vormundschafts- und Pflegrechnungen

Von Konstantin Huber

Titelblatt einer Ölbronner Pflegrechnung von 1696/97, (Quelle: Gemeindearchiv Ölbronn)
Titelblatt einer Ölbronner Pflegrechnung von 1696/97, (Quelle: Gemeindearchiv Ölbronn)

Definition

Vormundschafts- bzw. Pflegrechnungen (auch Waisen- oder Waisenpflegrechnungen genannt) sind der schriftliche Niederschlag der unter Vormundschaft bzw. Pflegschaft stehenden Vermögensverwaltung von natürlichen Personen.

Es gab zwei Hauptgruppen von Personen, die aus verschiedenen Gründen nicht in der Lage waren, ihr Vermögen selbst zu verwalten: Minderjährige, die über ihr Erbe noch nicht verfügen durften, oder Erwachsene, die ihr Vermögen nicht verwalten konnten oder durften. Die zweite Gruppe lässt sich unterteilen, einerseits in entmündigte Menschen, andererseits in längere Zeit oder dauerhaft Ortsabwesende wie Auswanderer oder verschollene bzw. vermisste Personen, z.B. Soldaten.

Historische Entwicklung

Vormundschafts- bzw. Pflegrechnungen gibt es für zahlreiche südwestdeutsche Gebiete. Sie reichen im Idealfall bis ins 16. Jahrhundert zurück. In Württemberg sind sie in relativ großer Homogenität besonders verbreitet. Daher bezieht sich der vorliegende Artikel im Wesentlichen auf das Herzogtum bzw. Königreich Württemberg, wo sich schließlich der Begriff „Pflegrechnung“ durchsetzte. Sie gehen hier zurück auf Herzog Christoph, der ihre Führung durch die „Pupillen-Ordnung“ 1552 verbindlich machte. Als Ausschuss aus den örtlichen Gerichten bestanden für das Vormundschaftswesen sogenannte Waisengerichte. Der beauftragte Pfleger hatte das Vermögen zu verwalten. Aufsicht (und häufig auch die Rechnungsstellung) erfolgte durch die Stadt- und Amtsschreibereien, welche die Rechnungen verwahrten. Der spätere König Friedrich I. übertrug die Bestimmungen des Herzogtums auf die neuwürttembergischen Gebiete. Nach Auflösung der Stadt- und Amtsschreibereien (1826) wurden die dörflichen Quellen an die jeweiligen Amtsgemeinden abgegeben. Die Funktion der Stadt- und Amtsschreibereien übernahmen die bei den Amtsgerichten angesiedelten Notariate. Mit Einführung des Bürgerlichen Gesetzbuches im Jahr 1900 enden die Pflegrechnungen. Ihre Nachfolge traten die staatlichen Vormundschaftsakten an.

Aufbau und Inhalt

Normalerweise besteht eine württembergische Archivalieneinheit aus mehreren gehefteten Pflegrechnungen für aufeinander folgende Abrechnungszeiträume. Pro Zeitraum (von meist mehreren Jahren) existieren normalerweise die Entwurfsrechnung (Rapiat) und eine Reinschrift. Die zeitlich erste Rechnung, also zu Beginn der Pflegschaft, heißt „Anstandspflegrechnung“, die letzte zum Ende der Pflegschaft heißt „Abstandspflegrechnung“. Bisweilen konnte auch ein Rapiat zur Rechnung aufgewertet werden, womit die aufwändige „doppelte Buchführung“ entfiel. Für mehrere Personen, meist elternlose Geschwister, bestand bisweilen eine gemeinsame Pflegschaft, wobei sich bei Heirat oder Volljährigkeit des ältesten dann die Pflegschaft auf die Minderjährigen reduzierte.

Das Titelblatt einer württembergischen Pflegrechnung enthält meist: Ort; ggf. Nummer der Rechnung; Name und Lebensalter bzw. Geburtsdatum des Pfleglings; bei Minderjährigen Name und Stand bzw. Beruf des Vaters, bei Erwachsenen Grund der Pflegschaft und ggf. Aufenthaltsort; Abrechnungszeitraum, Name des (stets männlichen) Pflegers.

Der Inhalt einer typischen Pflegrechnung umfasst:

  • Einnahmen (Geld und ggf. Naturalien), v.a. aus Güterbewirtschaftung, dem Verkauf von Liegenschaften und Fahrnis, aus Verpachtung sowie Zinsen aus Kapitalienleihe
  • Ausgaben (Geld und ggf. Naturalien), v.a. für Güterbewirtschaftung, Gebäudeunterhaltung, Steuern, Schuldentilgung sowie Verwaltungskosten
  • Verrechnung der Einnahmen und Ausgaben des Rechnungszeitraums, d.h. positive oder negative Bilanz des Rechners (sogen. Remanet)
  • Abhörvermerk und ggf. Revisionsbemerkungen

Beilagen sind: Auszüge aus Erbteilungen und Güterbüchern, Versteigerungsprotokolle, Schuldscheine, Quittungen (jeweils häufig); Briefe (eher selten); Tagebücher (sehr selten).

Das Gesamtvermögen ist in der Regel nur summarisch aufgeführt, so in der ersten Rechnung bei Waisen als Summe aus elterlicher Vermögensteilung (manchmal auch einzeln durch beiliegenden Auszug oder „Teil- und Loszettel“ aus dieser Teilung). Beim Ende der Pflegschaft wird das Gesamtvermögen – ebenfalls summarisch – als „Inventarium“ in der letzten Rechnung genannt.

Überlieferungslage und ggf. vorarchivische/archivische Bearbeitungsschritte

Die meisten württembergischen Stadt- und Gemeindearchiven verfügen über Pflegrechnungen für das 18.und 19. Jahrhundert, teilweise auch schon für das 16./17. Jahrhundert. Für Baden und die meisten anderen Territorien des Alten Reiches sind entsprechende Rechnungen in weitaus geringerer Dichte bis gar nicht in den Kommunalarchiven erhalten. In staatlichen Archivbeständen befinden sich vorwiegend Pflegrechnungen ehemals kleinerer weltlicher Territorien und Herrschaften des niederen Adels, vereinzelt auch geistlicher Territorien.[1]

Quellenkritik und Auswertungsmöglichkeiten

Titelblatt der ersten Ölbronner Pflegrechnung für Maria Elisabetha Weihing, 1772-1774, (Quelle: Gemeindearchiv Ölbronn)
Titelblatt der ersten Ölbronner Pflegrechnung für Maria Elisabetha Weihing, 1772-1774, (Quelle: Gemeindearchiv Ölbronn)

Die Pflegrechnungen können insbesondere für bevölkerungs-, migrations-, sozial- und wirtschaftsgeschichtliche sowie genealogische Forschungen genutzt werden.

Im Allgemeinen sind die Pflegrechnungen über ortsabwesende Personen bedeutender als solche über Minderjährige. Denn wenn sich ein Pflegling auswärts, etwa in Amerika, befand und Anspruch auf sein Vermögen anmeldete, so musste er meist eine notarielle Vollmacht vorlegen, die den Pfleger berechtigte, sich das Geld ausbezahlen und überweisen zu lassen. Oftmals war der Pfleger ein Verwandter, und so schickte der Auswanderer Briefe an seine Familie mit. Nur aufgrund des amtlichen Geschäfts blieben diese Briefe als Rechnungsbeilagen erhalten, während die anderen aus Privatbesitz mit wenigen Ausnahmen die Zeit bis heute nicht überdauerten. Auch Fahrkarten oder Einkaufslisten mit Utensilien für die lange Überfahrt sind manchmal in den Beilagen enthalten. Die Pflegrechnungen können daher maßgeblich dazu beitragen, die Auswanderer einer Gemeinde und dabei auch nicht offiziell emigrierte Personen zu erfassen. Allerdings wurden Pflegrechnungen vor allem über die Auswanderer geführt, die Vermögen zurückließen oder erst während ihrer Abwesenheit durch Erbschaft zu einem solchen kamen.[2]

Auch die Binnenwanderung ist in gewisser Weise ablesbar. In Ölbronn etwa gibt es 1801–1850 gegenüber 1851–1900 mit 139 bis 130 Pflegschaften mit auswärtigen Aufenthaltsorten der Pfleglinge einen leichten Rückgang. Während die Anzahl der Pflegschaften mit Orten im selben Oberamt (Maulbronn) von 21 auf 14 zurück ging, erhöhte sich die Anzahl derjenigen mit an weiter entfernten württembergischen Orten lebenden Pfleglingen von 8 auf 26, was als Indiz für eine höhere inländische Mobilität der Bevölkerung im Zeitalter der Industrialisierung zu werten ist.

Auch für die genealogische Forschung sind v.a. die Pflegrechnungen über Ortsabwesende bedeutsam, da Auswanderung und Wegzug aus den Kirchenbüchern als den wichtigsten familiengeschichtlichen Quellen oft nicht ermittelbar sind.

Sozialgeschichtlich spiegeln die Pflegrechnungen über sogenannte „simpelhafte“ oder „blödsinnige“, also behinderte oder geisteskranke sowie über „wegen Verschwendungssucht“ entmündigte Pfleglinge den Umgang der Verwaltung mit Randgruppen. Da auch kleinste Vermögen vormundschaftlich verwaltet wurden, bildet die in relativer Vollständigkeit erhaltene Quellenserie Vermögen aller Schichten ab.

In wirtschafts- oder auch klimageschichtlicher Hinsicht können die in den Pflegrechnungen enthaltenen exakten Geldwerte, zum Beispiel für landwirtschaftliche Produkte, Kleidung und Dienstleistungen relevant sein, zumal sich die Rechnungen im Gegensatz zu vielen anderen Quellen nicht auf einen bestimmten Zeitpunkt, sondern auf einen Zeitraum von oft mehreren Jahren beziehen.

Hinweise zur Benutzung

Die Vormundschaft bzw. Pflegschaft endete bei Minderjährigen mit Erreichen der Volljährigkeit oder Verheiratung des Pfleglings, bei Erwachsenen mit dem Tod. Verschollene Personen konnten für tot erklärt werden, worauf die Pflegschaft mit Verteilung des Vermögens an die Erben endete.

Als zeitgenössische Verzeichnisse zu den Pflegrechnungen existieren häufig Pflegschaftstabellen, die als Hilfsmittel herangezogen werden können. Sie sind oft aber nur bedingt nutzbar, da sie von Zeit zu Zeit aktualisiert und erneuert wurden, wobei man die dann bestehenden Pflegschaften neu nummerierte. Deshalb befindet sich teilweise der Niederschlag verschiedener Zählungen auf den Rechnungen.

Die bis 1900 angelegten Pflegrechnungen unterliegen üblicherweise keinen Sperrfristen mehr und sind damit frei zugänglich. Digitalisate sind jedoch bislang kaum über das Internet nutzbar. Die Bestände der nicht hauptamtlich besetzten kleineren Stadt- und Gemeindearchive können bisweilen via Vermittlung durch das zuständige Kreisarchiv genutzt werden.

Die Pflegrechnungen können an unterschiedlicher Stelle innerhalb der Tektonik eines Stadt- bzw. Gemeindearchivs erscheinen: Aufgrund ihrer äußeren Form befinden sie sich oft im Teilbestand Rechnungen (R); sie können jedoch auch im Teilbestand Akten unter den Unterlagen zur Freiwilligen Gerichtsbarkeit aufgelistet sein – je nach zugrunde liegender Aktenplanstruktur dort unter „9135 Vormundschaften und Pflegschaften“ (Flattich-Aktenplan) oder „084.3 Vormundschaftssachen“ (Boorberg-Aktenplan).

Keinesfalls zu verwechseln sind die Pflegrechnungen mit anderen Rechnungsserien wie Gemeindepflegrechnungen, Armen- und Stiftungspflegrechnungen, die bisweilen nur als „Pflegrechnungen“ bezeichnet sind, weil der Begriff ‚Pflege‘ als Synonym für Vermögensverwaltung Verwendung fand.

Forschungs- und Editionsgeschichte

Für die Forschung wurden die Pflegrechnungen bislang kaum berücksichtigt. Als erste wies Angelika Bischoff-Luithlen um 1975 in einem Aufsatz grundsätzlich auf diese Quellenserie hin. Eine erste Monographie, die sich allerdings auf eine Einzelperson (Friedrich Hölderlin) bezieht, legte Gregor Wittkop 1993 vor. Im Jahr 1996 erschienen zwei Monographien von Andreas Hartmann (zu Hailfingen) und Christine Rehe (zu den Filderstädter Stadtteilen), die Pflegrechnungen unter dem Aspekt der Amerika-Auswanderung in mentalitätsgeschichtlicher bzw. volkskundlicher Hinsicht auswerteten. Dem schloss sich 2006 ein Aufsatz von Konstantin Huber an, der am Beispiel von Ölbronn auf die migrationsgeschichtliche und genealogische Bedeutung hinwies.

Anmerkungen

[1] Beispiele: Staatsarchiv Ludwigsburg: Herrschaften Adelmann (Bestand PL 12 II), Limpurg (B 114), Racknitz (B 131), Woellwarth (PL 9/3) und Reichsstadt Ulm (B 214a); Staatsarchiv Sigmaringen: Kloster Marchtal (Dep. 30/12 T 2); Generallandesarchiv Karlsruhe: Gemmingen (72), Helmstatt (69 und 125) und Stockhorn (69); Hohenlohe-Zentralarchiv Neuenstein: Hohenlohe (Wa 130, Wa 265, We 65).
[2] Bei Forschungen zu Hailfingen bei Rottenburg wurde ermittelt, dass 21 der 43 in den Pflegrechnungen genannten Emigranten bislang nicht als solche bekannt waren. Bezogen auf 133 Auswanderer der Oberamtsprotokolle liegt der Anteil an „neuen“ Personen bei einem Sechstel (Hartmann, Pflege-Fälle, S. 4, 43).

Literatur

  • Bischoff-Luithlen, Angelika, Volkskunde und Gemeindearchiv. Arbeitsnotizen aus Archiven des Landkreises Reutlingen, in: Forschungen und Berichte zur Volkskunde in Baden-Württemberg 1974/77, hg. von Irmgard Hampp (Forschungen und Berichte zur Volkskunde in Baden-Württemberg 3), Stuttgart 1977, S. 105–113.
  • Hartmann, Andreas Peter, Pflege-Fälle. Pflegschaftsakten als Quelle zur Amerikaauswanderung, dargestellt am Beispiel eines württembergischen Dorfes [Hailfingen] im 19. Jahrhundert, Marburg 1996.
  • Huber, Konstantin, Die Quellengattung der Pflegrechnungen in württembergischen Gemeindearchiven am Beispiel der Gemeinde Ölbronn, in: Südwestdeutsche Blätter für Familien- und Wappenkunde 24 (2004/2006), S. 353–372.
  • Keller, W[ilhelm] F[riedrich], Revidirte Vorschriften für Pfleger (Vormünder und Vermögens-Verwalter) im Königreich Württemberg, 3. Auflage, Tübingen 1870.
  • Rehe, Christine, Von den Fildern nach Amerika. Alltag von Auswanderern im Spiegel ihrer Briefe. Eine mentalitätsgeschichtliche Annäherung (Filderstädter Schriftenreihe zur Heimat- und Landeskunde 11), Filderstadt 1996.
  • Siegle, David, Der württembergische Waisenrichter. Grundzüge des ehelichen Güter-, Erb- und Vormundschaftsrechts in Württemberg und Anleitung zu Behandlung der Beibringens-Inventuren, Eheverträge, Erbschaftstheilungen und Pflegschaftssachen, Stuttgart 1876.
  • Wittkop, Gregor, Hölderlin, der Pflegsohn. Texte und Dokumente 1806–1843 mit den neu entdeckten Nürtinger Pflegschaftsakten, Stuttgart u.a. 1993.

Zitierhinweis: Konstantin Huber, Vormundschafts- und Pflegrechnungen, in: Südwestdeutsche Archivalienkunde, URL: [...], Stand: 22.09.2017.

 

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