Die bitteren Tage von Bouillon

Die Revolution von 1918 in den Tagebüchern des Militärarztes Hans von Pezold

Porträt Hans von Pezolds, 1918. Quelle: Landesarchiv BW, HStAS M 707 Nr. 1145-9
Porträt Hans von Pezolds, 1918. Quelle: Landesarchiv BW, HStAS M 707 Nr. 1145-9

Als wir nach Hause kamen, brachte Oberleutnant Schmedding die niederschmetternde Nachricht: Kaiser und Kronprinz haben abgedankt, der Sozialdemokrat Ebert wird Reichskanzler, Bayern ist Republik, überall ist Revolution […] Es ist nicht abzusehen, wie das weitergehen wird.

Für Dr. Johannes (Hans) von Pezold, Divisionsarzt der 242. Infanterie-Division, brach am 9. November 1918 eine Welt zusammen. Seine Welt. Die gesellschaftliche und politische Ordnung, in der er sein ganzes Leben verbracht hatte und mit der er sich voll identifizierte. Im Jahr 1870 in Riga geboren, seit 1879 in Karlsruhe aufgewachsen, hatte Pezold nach dem Abitur Medizin studiert und war anschließend Militärarzt geworden. Seit Sommer 1914 hatte er mit den württembergischen Truppen im Feld gestanden.

Über Pezolds Reaktion auf die Revolution im Reich sind wir durch sein Tagebuch informiert, das er während des Ersten Weltkrieges akribisch führte und das er später abtippen ließ. Das Typoskript umfasst 984 eng beschriebene DIN A4-Seiten. Seit 2000 befinden sich die originalen Manuskripte Pezolds und die maschinenschriftliche Abschrift komplett im Hauptstaatsarchiv Stuttgart.

Als am 9. November 1918 in Berlin der Thron Kaiser Wilhelms II. stürzte, befand sich Pezold mit seiner Division in Bouillon, einer Kleinstadt in Südbelgien, unweit der französischen Staatsgrenze. Gottfried von Bouillon stammte von hier, der Kreuzritter und erste Regent des mittelalterlichen Königreichs Jerusalem. Pezold ließ es sich ungeachtet der hoffnungslosen militärischen und – aus seiner Sicht – bitteren politischen Lage nicht nehmen, in seinem Tagebuch die Schönheit der wallonischen Landschaft zu rühmen: Trotzdem sieht man, wie reizend Bouillon liegt. Unser Park geht in das gewundene enge Waldtal des Semoy herunter, bepflanzt mit Tannen und Ahorn, Kirschlorbeer, Azaleen, Magnolien. […] Vom Park aus sieht man das mächtige alte Schloß hoch über dem Tal, aus dem Nebelschleier über den herbstlaubprächtigen Wäldern hinziehen. Der Anblick war wirklich märchenhaft.

Doch aus derartigen träumerischen Stimmungen wurde Pezold rasch wieder durch die traurige Realität herausgerissen. Seine Tagebucheinträge illustrieren eindringlich, wie die deutsche Heeresorganisation in den letzten Kriegstagen in Teilen zusammenbrach. Die Disziplin der Truppe hatte gewaltig gelitten. Es kam zu Plünderungen von Nahrungsmittel- und Sanitätsdepots, zu Handgreiflichkeiten und sinnloser Gewalt. Die belgische Bevölkerung erlebte Pezold als so unfreundlich wie möglich.

In Offizierskreisen wurde die politische Situation nach dem Sturz der Monarchie erregt diskutiert. Mutmaßungen über die politische Lage machten die Runde – und vor allem Gerüchte. Man tappte im Dunkeln: Abends kam Stabsarzt Lindenmeyer, der in Stuttgart in Urlaub war […] Ob Württemberg schon Republik sei, wisse er nicht. Die Ereignisse ließen die deutschen Offiziere das Schlimmste befürchten: Kriegsgerichtsrat von Ruepprecht meinte, jetzt komme die von Trotzki vorausgesagte Weltrevolution.

Hans von Pezolds Tagebücher stellen ein einzigartiges Zeugnis für die Vielschichtigkeit des individuellen Erlebens der Revolution von 1918 dar. Aus der Perspektive der württembergischen Offiziere bedeutete der Untergang der Monarchie häufig nicht nur eine politische Niederlage, sondern den vollständigen Verlust des vertrauten weltanschaulichen Koordinatensystems.

Wolfgang Mährle

Quelle: Archivnachrichten 56 (2018), S. 12 und 13.

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