Diehl, Karl 

Geburtsdatum/-ort: 27.03.1864; Frankfurt/M.
Sterbedatum/-ort: 12.05.1943;  Freiburg, beigesetzt in Freiburg
Beruf/Funktion:
  • Volkswirtschaftler
Kurzbiografie: 1882 Reifeprüfung, Handelsabteilung des Realgymnasiums Frankfurt/M.; Studium der Volkswirtschaft in Berlin
1883 Dienst als Einjährig Freiwilliger
1884 Reifeprüfung, Realabteilung des oben angeführten Gymnasiums mit Erwerb der allgemeinen Studienberechtigung
1885-1888 Studium in Jena und Halle, Promotion in den Wirtschaftlichen Staatswissenschaften zum Dr. phil., Schüler von J. Conrad
1889 Reifeprüfung, humanistisches Gymnasium, zwecks Zulassung zur Habilitation; Arbeit an der Habilitationsschrift in Wien
1890 Habilitation in Halle
1893 außerordentlicher Prof. Halle, mit Lehrauftrag
1898 ordentlicher Prof. Rostock, Nachfolger von W. Stieda
1899 ordentlicher Prof. Königsberg, Nachfolger von K. H. Umpfenbach; Mitglied des Bezirksausschusses Königsberg
1908 ordentlicher Prof. Freiburg i. Br., Nachfolger von C. J. Fuchs
1913 Ernennung zum Geheimen Hofrat
1920 Rektor der Universität Freiburg
1933 Emeritierung
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev.
Auszeichnungen: Ehrenpromotionen: Dr. jur. h. c; Dr. agr. h. c; Dr. rer. pol. h. c; Dr. oec. h. c; abgelehnte Berufungen: Marburg (1905), Kiel (1907), Breslau (1913), Halle (1914)
Verheiratet: 1894 Anna, geb. Berger aus Witten (1871-1967)
Eltern: Vater: Carl Diehl, Senatspräsident in Frankfurt/M. (1833-1904)
Mutter: Maria, geb. Söldner (1842-1919)
Geschwister: Ludwig Diehl (geb. 1868)
Kinder: 2 Töchter, 2 Söhne:
Herta Meyer (geb. 1895)
Karl Ludwig, Schauspieler (1896-1957)
Anita Hagemann (geb. 1901)
Edgar (1906-1945, gefallen)
GND-ID: GND/101272669

Biografie: Karl Brandt (Autor)
Aus: Badische Biographien NF 4 (1996), 55-58

Diehl war der eigentliche Begründer und Hauptvertreter der Sozialrechtlichen Schule innerhalb der Nationalökonomie. Er vertrat eine ganzheitliche Betrachtungsweise, bei der die Rechtsordnung als gemeinschaftsbildende Kraft in den Vordergrund gerückt wurde.
Die Anregung zum Studium der Nationalökonomie verdankte er seinem Geschichts- und Geographielehrer K. Bücher, später einer der bedeutenden Wortführer der jüngeren Historischen Schule. Auch seine Universitätslehrer gehörten vorwiegend der Historischen Schule an: G. Schmoller in Berlin, J. Pierstorff in Jena, J. Conrad und R. Friedberg in Halle. Nicht so A. Wagner in Berlin und der Jurist R. Stammler in Halle. Sie haben Diehl am stärksten geprägt, ihm das Rüstzeug mitgegeben, seinen eigenen Weg zu finden. Dennoch blieb Diehl in gewisser Weise dem Historismus verhaftet, auch für ihn waren alle wirtschaftlichen Erscheinungen historisch bedingt. Sein starkes dogmengeschichtliches Interesse, das u. a. in der Dissertation und der Habilitationsschrift zum Ausdruck kommt, beide dem französischen Sozialisten P. J. Proudhon gewidmet, unterstreicht diese Bindungen. Jedoch war Diehl theoriebewußter als die meisten Vertreter der Historischen Schule. Die klassische Nationalökonomie wurde nicht verdammt, sie bildete für ihn vielmehr die Basis theoretischer Argumentation, die nur erweitert werden muß. Diehl wollte das individualistische Weltbild des klassischen Liberalismus überwinden. Nicht die unverrückbar geltenden Gesetze der „natürlichen Ordnung“ bestimmen nach ihm den Gang der Geschichte, sondern die von Menschenhand geschaffene „gewillkürte Ordnung“ ist maßgebend. Den Weg zu dieser neuen Sichtweite wiesen A. Wagner und R. Stammler, die in den Rechtsinstitutionen das ordnende Element der Wirtschaft sahen. Diehl bekannte sich aber weder zu Wagners Staatssozialismus noch zu Stammlers teleologischer Einstellung. Sein Denken wurde vom Kantschen Idealismus bestimmt. Beeinflußt hat ihn auch A. Menger in Wien, dessen Vorbehalte gegen den individualistischen Ansatz seines Bruders Carl und die „pseudo-psychologische“ Ausrichtung der Grenznutzenschule Diehl teilte.
Nach Lehrtätigkeit in Rostock und Königsberg kam Diehl 1908 nach Freiburg, seiner hauptsächlichen Wirkungsstätte, der er bis zu seinem Tode 1943 treu geblieben ist. Er hat in der erst 1896 durch Fächerzusammenlegung entstandenen Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät gelehrt. Die hier gepflegte enge Verbindung zwischen der Rechtswissenschaft und der Volkswirtschaftslehre kam seiner wissenschaftstheoretischen Einstellung entgegen. C. J. Fuchs, E. von Philippovich, M. Weber waren anerkannte Amtsvorgänger. Mit den Fachkollegen, zu denen G. von Schulze-Gaevernitz, G. Briefs, W. Eucken gehörten, gab es eine fruchtbare Zusammenarbeit. In C. von Dietze fand er einen würdigen Nachfolger.
Diehl ist zunächst mit dogmengeschichtlichen Untersuchungen hervorgetreten. Er hat über D. Ricardo und K. Marx gearbeitet, Biographien über J. G. Fichte, C. H. Saint-Simon, M. Weber geschrieben und mit P. Mombert die „Lesestücke zur politischen Ökonomie“ herausgegeben, mit Textauszügen ausgewählter Werke und einleitender Kommentierung auch heute noch vorbildlich. Als weitere Arbeitsgebiete sind zu nennen: das Kartellwesen, Wert- und Preislehre, Verteilungsfragen, Geld und Kredit, Außenwirtschaft. Aus Vorlesungen ging seine Schrift „Sozialismus, Kommunismus, Anarchismus“ hervor, die 1933 der von den Nationalsozialisten veranlaßten Bücherverbrennung zum Opfer fiel. Diehl bekannte sich zur nominalistischen Geldlehre, K. F. Knapps Theorie vom „Geld als Geschöpf der Rechtsordnung“ fand seine Zustimmung ebenso wie die von H. Gerber betonte Sinngebung der Währung als „öffentlich-rechtliche Gewährleistung“. Zurechnungslehre und Grenzproduktivitätstheorie, die verteilungstheoretischen Varianten von Grenznutzenschule und Neoklassik, lehnte er ab. Wie M. Tugan-Baranowsky und R. Stolzmann sah er in der Einkommensverteilung lediglich ein Machtproblem. In der Konjunkturerklärung ging Diehl eigene Wege. Der Streit um Überinvestitions- oder Unterkonsumtionstheorie kümmerte ihn wenig, die letzten Ursachen der Wirtschaftskrisen sah er in der „Planlosigkeit und Dezentralisation“ des Kapitalismus. W. Diltheys Dualismus war für seine methodologische Einstellung Orientierungspunkt. Nach Diehl finden sich allgemein gültige Gesetze nur in den Naturwissenschaften. Die Sozialwissenschaften dagegen verlangen nach einer „realistischen und konkretisierenden“ Wirkungsanalyse, welche die Möglichkeiten und Folgen gestaltenden Handelns einfängt. Werturteile läßt eine solche Analyse nicht zu, für die Herausstellung „idealer Zielpunkte“ ist die Wissenschaft keine Instanz.
Der Schwerpunkt der wissenschaftlichen Arbeit Diehls liegt zweifellos in der Konzeption der Sozialrechtlichen Theorie. Sie ist zwar ein verallgemeinernder Theorieansatz, erhebt aber nicht den Anspruch auf mathematisch faßbare „Exaktheit und Objektivität“. Da es keine „ewige Wirtschaft“ im Sinne gleichbleibender Lebensbedingungen gibt, lassen sich auch keine „natürlichen Entwicklungsgesetze“ nachweisen. Deshalb kommt die Theoriebildung nie zu einem Abschluß, die Hypothesen, die aufgestellt werden, müssen immer wieder revidiert werden. Der Wandel von Wirtschaft und Gesellschaft vollzieht sich unter den Bedingungen „besonderer Rechtsgestaltung“. Diese allein haben daher den Ausgangspunkt ökonomischer Betrachtung abzugeben.
Einen vollständigen Aufriß seiner Lehre gibt Diehl erstmals in der Freiburger Antrittsvorlesung. Die Grundgedanken sind aber zuvor schon in einer Würdigung Stammlers unter dem Titel „Wirtschaft und Recht“ entwickelt worden. In späteren Veröffentlichungen bemüht sich Diehl um eine Vertiefung, sein bekanntes Lehrbuch „Theoretische Nationalökonomie“ bringt darüber hinaus aufschlußreiche Vergleiche zu den übrigen Lehrmeinungen seiner Zeit. Eine zusammenfassende Darstellung bietet die Spätschrift „Die sozialrechtliche Richtung in der Nationalökonomie“, in der er sich ausführlich mit seinen Kritikern auseinandersetzt.
Diehl geht von folgender Leitidee aus: Die Wirtschaft ist Teil der menschlichen Kultur. Gestaltungen der Wirtschaft vollziehen sich in Gemeinschaften. Das Leben in einer Gemeinschaft verlangt nach einer Ordnung. Die Grundlage der Wirtschaftsordnung ist die Rechtsordnung. Wichtige Hinweise zu diesem Konzept verdankt Diehl, neben den schon genannten A. Wagner und R. Stammler, H. Roesler, W. Röscher, C. Rodbertus. Diehl geht aber weiter. Im Recht kommt die „formale Ordnung“ des Zusammenlebens der Menschen zum Ausdruck. Das Wirtschaften spielt sich in einer konkreten Rechtsordnung ab, die Normen setzt, an die das tatsächliche Zusammenwirken gebunden ist. Verschiedene Wirtschaftsverfassungen unterscheiden sich durch die Eigentumsregelung. Der Wirtschaftsverfassung mit Gemeineigentum (Kommunismus, Sozialismus, Agrarsozialismus) ist die Verfassung mit Privateigentum gegenüberzustellen. Letztere tritt als freie, ungebundene oder als gebundene, gelenkte, gesteuerte Wirtschaft in Erscheinung, bei der bei prinzipieller Anerkennung des Marktes entweder die Nutzung des Privateigentums eingeschränkt ist oder auf Maßnahmen der Wirtschaftslenkung zurückgegriffen wird. Die Stufen- und Stiltheorien lehnt Diehl ab, da sie die Rechtsordnung nicht genügend zur Geltung bringen. Weitgehende Übereinstimmung besteht zu W. Eucken, jedoch ist Diehl dessen idealtypische Kategorisierung der Wirtschaftsordnungen zu einseitig. Euckens an Planungskriterien ausgerichtete Unterscheidung zwischen zentral geleiteter Wirtschaft und freier Verkehrswirtschaft erscheint ihm eine nicht sachgerechte Polarisierung. Für Diehl gibt es nur eine Kategorie, die Wirtschaftsverfassung, für die Marktform und Geldsystem allein keine hinreichenden Ordnungselemente sind, da Eigentumskontrolle und unterschiedliche Formen des Gemeineigentums differenzierte historische Ausprägungen zulassen. Obwohl Diehl, insbesondere was die Grundgedanken seiner Lehre anbelangt, viel Zustimmung fand, ist der engere Kreis seiner Anhänger relativ klein geblieben. Wortreiche Unterstützung fand er bei R. Stolzmann, der einen „sozial-organischen“ Ansatz verfolgte und philosophisch zu begründen suchte. Zu nennen sind weiter O. Gerlach, Diehls Königsberger Kollege, A. Hesse, sein dortiger Nachfolger, und W. E. Biermann in Greifswald. In den USA hat der zu den Institutionalisten gehörende J. R. Commons zur Verbreitung der Ideen Diehls beigetragen. In der Beurteilung Diehls ist G. Albrecht zuzustimmen, daß Diehl der Wirtschaftstheorie den „Weg zur Lebensnähe“ gewiesen habe, und nicht zu Unrecht hat A. Hesse unterstrichen, daß Diehl den Gedankenströmungen der Historischen Schule eine „präzisere Fassung“ gab.
Diehl war ein hochgeachteter, im In- und Ausland anerkannter Gelehrter. Mit großem Engagement hat er sich Anfang der zwanziger Jahre für die Einrichtung des volkswirtschaftlichen Diplomstudienganges eingesetzt. Betriebswirtschaftliche Kurse förderte er schon in Königsberg, in Freiburg sorgte er für die Errichtung eines Lehrstuhls für Privatwirtschaftslehre, die erste Professur dieser Art außerhalb der damals schon bestehenden Handelshochschulen. Er hatte aber nicht nur das Gespür für notwendige Reformen der Universitätsausbildung. Auch seine Lehrveranstaltungen fanden großen Zuspruch. Viele Teilnehmer seiner Seminare, auch solche, die keine engere Bindung an die Sozialrechtliche Schule eingingen, sahen in ihm ihr Vorbild. Die Ehrerbietung, die man ihm entgegenbrachte, beruhte nicht zuletzt auf freundlichem Entgegenkommen, teilnehmender Sorge und manchem guten Ratschlag, der seinen Studenten zuteil wurde. Leben und Werk Diehls sind von der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Freiburg 1943 und 1964 in akademischen Feiern gewürdigt worden.
Werke: (Auswahl) P. J. Proudhon, s. Lehre und s. Leben, 3 Bände, Jena 1888 (Diss.), 1890 (Habil. Schr.), 1896; Wirtschaft u. Recht, in: Jb. f. Nationalökonomie u. Statistik, Bd. 14, 1897; Über Sozialismus, Kommunismus u. Anarchismus, Jena 1906; Die Bedeutung d. wiss. Nationalökonomie f. d. prakt. Wirtschaftspolitik, (Freiburger Antrittsvorlesung) in: Jb. f. Nationalökonomie u. Statistik, Bd. 37, 1909; Theoret. Nationalökonomie, 4 Bände, Jena 1916 ff.; Die Diktatur d. Proletariats u. d. Rätesystem, (Freiburger Rektoratsrede), Jena 1920; Die rechtl. Grundlagen d. Kapitalismus, Jena 1929; Der Einzelne u. d. Gemeinschaft, Überblick über d. wichtigsten Gesellschaftssysteme vom Altertum bis z. Gegenwart, Jena 1940; Die sozialrechtl. Richtung in d. Nationalökonomie, Jena 1941. Vollst. Literaturverz. s. A. Hesse, Diehl Karl, vergl. L. Hg. zus. m. P. Mombert, Ausgew. Lesestücke z. Studium d. polit. Ökonomie, Karlsruhe 1910 ff.; Grundrisse z. Studium d. Nationalökonomie, Jena 1933 ff.
Nachweis: Bildnachweise: Porträt von F. Erler, im Besitz d. Wirtschaftswissenschaftl. Fakultät d. Univ. Freiburg; Foto, in F. Meiner (Hg.), Die Volkswirtschaftslehre der Gegenwart, siehe Lit.

Literatur: K. Diehl, in: F. Meiner (Hg.), Die Volkswirtschaftslehre d. Gegenwart in Selbstdarstellungen, Bd. 1, Leipzig 1924; G. Albrecht, Die sozialrechtl. Richtung in d. Nationalökonomie, in: Jb. f. Nationalökonomie u. Statistik, Bd. 155, 1942; W. Eucken, K. Diehl u. die Entwicklung d. dt. Nationalökonomie, in: ebd. Bd. 158, 1943; A. Hesse, K. Diehl u. die sozialrechtl. Richtung in d. Nationalökonomie, Schmollers Jb., Jg. 70, 1950; J. Baxa, Diehl, K. in: NDB 3, 1957; A. Hesse, Diehl, K., Handwörterbuch d. Sozialwiss., Bd. 2, Stuttgart u. a. 1959.
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