Keil, Wilhelm 

Geburtsdatum/-ort: 24.07.1870; Helsa/Kreis Kassel
Sterbedatum/-ort: 04.04.1968;  Ludwigsburg
Beruf/Funktion:
  • Drechsler, Journalist, SPD-Politiker, MdL, MdR, Landtagspräsident
Kurzbiografie: Volksschule in Helsa
1884-1887 Lehre als Drechsler
ab 1888 Wanderjahre als Drechsler, beginnende Tätigkeit als Journalist
1895 Eintritt in die Redaktion „Schwäbische Tagwacht“
1900-1918 Mitglied der II. Württembergischen Abgeordnetenkammer (SPD)
1919-1920 Präsident der Kammer
1919-1933 Mitglied des Württembergischen Landtags, bis 1933 Fraktionsvorsitzender
1910-1932 Mitglied des Reichstags
1921-1923 Württembergischer Minister für Arbeit und Ernährung
1933 Entzug der Ministerpension
1945/46 Vorsitzender der Landräteversammlung, der Vorläufigen Volksvertretung und des Verfassungsausschusses der Verfassunggebenden Landesversammlung für Württemberg-Baden
1946-1952 Präsident des Landtags von Württemberg-Baden
1950 Ehrenbürger der Universität Stuttgart und Karlsruhe; Ehrensenator der Universität Heidelberg und Ehrenbürger der Stadt Ludwigsburg
1957 Großes Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland mit Stern
1965 Verfassungsmedaille des Landes Baden-Württemberg in Gold
Weitere Angaben zur Person: Religion: evangelisch
Verheiratet: 1896 (Stuttgart) Julie, geb. Gutekunst (gest. 1963)
Eltern: Vater: Johann Friedrich (1835-1911), Kohlenfuhrmann, Bauer und Schneider
Mutter: Dorothea (1839-1885), Tochter des Kattunwebers Johannes Steusel
Geschwister: 7
Kinder: Willy, Erich, Elsa
GND-ID: GND/118560972

Biografie: Paul Feuchte (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 2 (1999), 259-265

Eine Symbolfigur des deutschen Parlamentarismus über mehr als ein halbes Jahrhundert hinweg kann man Keil nennen: 1888 stieß Keil zu den Sozialdemokraten, deren Nestor er später wurde, 1900 war er jüngster Abgeordneter des Württembergischen Landtags, dem er bis 1933 angehörte; 22 Jahre, von 1910 bis 1932, war er Mitglied des Reichstags. Parlamentspräsident in Stuttgart war er in den Aufbaujahren von 1945 bis 1952. Sein Leben umfaßt die Zeit des Kaiserreichs, der Weimarer Republik, des „Dritten Reichs“ und der wiedererrichteten Demokratie in Deutschland bis zum Jahr der Studentenunruhen 1968. Die Reihe der Zeitgenossen, denen er in politischer Gemeinsamkeit nahestand, reicht über Friedrich Ebert, Paul Löbe und Kurt Schumacher bis zur Führungstroika der 60er Jahre, Brandt-Wehner-Schmidt. Brandt würdigte 1967 seine acht volle Jahrzehnte überdauernde Zugehörigkeit zur Partei, mit der er gelebt und gelitten habe. Aus dem Dorf Helsa, in Kurhessen, unweit von Kassel, wo er als Sohn eines Handwerkers und Kleinbauern aufwuchs und kräftig mitarbeiten mußte, zog er als Handwerksbursche, der Drechsler werden wollte, auf Wanderschaft in die Fremde; über die Gewerkschaft stieß er mit 19 Jahren zu der noch verbotenen sozialdemokratischen Partei. Er stellte sich dem Kampf für eine demokratische Ordnung und als Journalist und Mitglied der Volksvertretungen in Württemberg und im Reich, zugleich tätig in den obersten Gremien der Partei, führte er, wie Theodor Heuss ihm zum 70. Geburtstag schrieb, ein tapferes und redliches Kämpferleben.
Das Kommunistische Manifest von Marx und Engels (Februar 1848), das die Sozialdemokratische Partei alsbald nach der Gründung als richtunggebendes Programm anerkannte, erscheint in seinen Schriften immer wieder. Seinen entscheidenden Wert erblickte Keil in der tiefgründigen Analyse der Triebkräfte der gesellschaftlichen Entwicklung, wonach alle Veränderungen auf Klassenkämpfen beruhen. Den deutschen Herrschern und der feudalen Klasse warf er vor, nicht erkannt zu haben, daß die wirtschaftliche und soziale Entwicklung eine Anpassung der politischen Strukturen gebot. Die Volksbewegung zur Demokratie in Deutschland verfolgte er, auch immer wieder in die Geschichte zurückgreifend, mit heißem Herzen. Aber er war kein „Revolutionär“, der sich von einer gewaltsamen Erhebung das Heil versprochen hätte. Vielmehr gab er rechtzeitigen, kraftvollen und organischen Reformen den Vorzug. In dem beharrlichen, gewaltsamen Festhalten an überlebten Staatszuständen und der starren Verneinung der vom Geist der Zeit geforderten Erneuerungen, in brutaler Rechtswillkür, Vorenthaltung der Freiheitsrechte und der Geistes- und Gewissensfreiheit erblickte er die Ursachen der Volksrevolutionen in der europäischen Geschichte der letzten Jahrhunderte; insofern drängte es ihn, auf eine stetige Verbesserung der Zustände hinzuwirken. Sein Zeitungsaufsatz, 1916 zum 25jährigen Regierungsjubiläum des Königs von Württemberg, Wilhelm I., verfaßt, wirft darauf ein starkes Licht. Unter den gegebenen Verhältnissen würde gar nichts geändert, so schreibt er, wenn morgen in Württemberg an die Stelle der Monarchie die Republik treten würde. Kein anderer nämlich würde, wenn alle Bürger und Bürgerinnen zu entscheiden hätten, mehr Aussichten haben, an die Spitze des Staates gestellt zu werden, als der jetzige König. Mit seiner ausgleichenden Haltung stand Keil auf der Seite der „Reformisten“, denen der Flügel der radikal oppositionellen Sozialisten gegenüberstand, unter ihnen die in Stuttgart wirkende streitbare Kommunistin Clara Zetkin, Redakteurin der Zeitschrift für die Interessen der Arbeitnehmerinnen „Die Gleichheit“, für die Keil zeitweilig geschrieben hatte. Mit ihr verkehrte seine Familie in herzlicher Freundschaft. Diese ging aber, als der Richtungsstreit in der Partei sich verschärfte, in persönliche Feindschaft zu der Frau über, deren „großes geistiges Format“ er weiterhin anerkannte.
Im Machtkampf um die Führung in der württembergischen Sozialdemokratie konnte Keil sich mit seinen Freunden durchsetzen und auch in der bis dahin dogmatisch marxistisch geführten Parteizeitung „Schwäbische Tagwacht“, deren Redaktion er seit 1896 angehörte, die Oberleitung gewinnen. Diese 1901 erlangte Position behielt er bis zum Verbot der Zeitung im März 1933 bei. Schon 1900 hatte er den Wahlkreis Ludwigsburg für die SPD erobert, die nun in der Volkskammer fünf Sitze einnahm. Keil, mit 30 Jahren der „Benjamin“, war bald einer der aktivsten und bestinformierten Parlamentarier, nüchtern analysierend und abwägend, und nach wenigen Jahren der Führer einer inzwischen größer gewordenen Landtagsfraktion. In rastloser Arbeit erweiterte er sein Wissen. Ludwigsburg war, nach kürzerem Aufenthalt in Mannheim, seine Heimat geworden, der er bis zu seinem Tode treu blieb. Dem schwäbischen Kolorit und der Denkweise seiner neuen Landsleute, die sein Wohlgefallen fanden, wußte er sich rasch anzupassen, bis hin zur taktvollen Respektierung religiöser Gefühle. Aus einer Stuttgarter Familie stammte seine Frau. Eine gewisse Scheu gegen den geselligen Verkehr mit ihm fernstehenden Menschen konstatierte er im Rückblick.
Nun stand auch seine Wahl in den Reichstag zur Debatte. Keil unterlag bei den „Hottentotten-Wahlen“ 1907, bei denen Sozialdemokraten und Zentrum sich gemeinsam gegen die deutsche Kolonialpolitik wandten, dem nationalliberalen Gegenbewerber Dr. Johannes Hieber, der später Staatspräsident von Württemberg wurde. Aber im Sommer 1910 wurde Keil bei einer Nachwahl für den Bezirk Ludwigsburg-Cannstatt mit überzeugender Mehrheit in den Reichstag gewählt, dem er 22 Jahre angehörte.
Zu der Zeit, als Keil sich der aktiven politischen Betätigung zuwandte, setzte die Entwicklung der politischen Parteien zu modernen Massenparteien ein, was besonders für die Sozialdemokratie gilt. Die Sozialistengesetze fielen (1890). Die Wahlen wurden vom Parteiapparat gesteuert; wer nominiert werden wollte, mußte bereit sein, sich auf die Parteilinie festzulegen. Aber der Erfurter Parteitag (1891) ließ die Spannungen zwischen dem als „opportunistisch“ gescholtenen rechten Flügel und der linksoppositionellen Gruppe Jüngerer deutlich hervortreten. Nach Verabschiedung des Erfurter Programms, das eine mittlere Linie einhielt, verstärkten die süddeutschen Landesgruppen, im Widerspruch zur offiziellen Parteilinie und von den Parteitagen scharf kritisiert, die sozialdemokratische Mitarbeit am Staat, ganz im Sinne Keils. Die Landtagsfraktionen in Bayern, Hessen, Württemberg und Baden erlangten größeren Einfluß und eine Vertretung in den Landtagspräsidien. In Baden kam es sogar zum Bündnis mit den Nationalliberalen und den Freisinnigen. In Württemberg war die wichtigste der landespolitischen Fragen die Verfassungsreform, bei der es um die Zusammensetzung der beiden Kammern ging. Die Sozialdemokraten forderten mit der Mehrheit der zweiten Kammer das unbeschränkte allgemeine und gleiche Wahlrecht und die Ausschaltung der „Privilegierten“ (Ritterschaft, Kirchen, Universität) aus ihrer Mitte. Erst das Wahlgesetz von 1906, die wichtigste verfassungspolitische Entscheidung zwischen 1819 und 1918, brachte die Umwandelung der Zweiten Kammer in eine reine Volkskammer nach dem allgemeinen und gleichen Wahlrecht. Die Sozialdemokraten erreichten bei der Wahl Ende 1906 15, bei der Wahl 1907 17 von 92 Sitzen. Keil, der sich nachhaltig eingesetzt hatte, sah damit sein Anliegen freilich nur teilweise erfüllt. Der Ersten Kammer als einer Vertretung des Adels, die sie in der Hauptsache sei, erkannte er mit den Sozialdemokraten auf längere Sicht eine Existenzberechtigung überhaupt nicht zu. Das Wahlrecht gehörte zu deren zentralen Forderungen, und Keil sah es selbst für den Reichstag, wo bereits das allgemeine und gleiche Wahlrecht galt, noch mit schweren Mängeln behaftet.
In Württemberg fand Keil also den Boden für eine Mitwirkung der Sozialdemokraten im Konzert der politischen Kräfte schon bereitet. Obwohl der Wunsch nach einer demokratischen Republik noch weit entfernt war von der Möglichkeit einer Realisierung, zeigte das gesellschaftliche und politische Leben nach seinem Urteil in Württemberg nicht dieselbe Schärfe des Klassengegensatzes wie etwa in Preußen und Sachsen.
So brachte er nicht nur dem König Ehrerbietung entgegen, sondern auch dem Ministerpräsidenten als dem Repräsentanten seiner Regierung, Karl von Weizsäcker, dessen er noch in einer Ansprache zum 100. Geburtstag (1953) rühmend gedachte. Und Keil selbst nannte man später gelegentlich einen konservativen Patriarchen. Das Ansehen dazu besaß er, aber konservativ kann man ihn nur nennen, wenn man vom Standpunkt radikaler Neuerer ausgeht. Nicht im Glanz der Monarchie, sondern im schaffenden Volk sah er den Grund- und Eckpfeiler des Staatslebens.
Auf eine harte Probe sah die deutsche Sozialdemokratie ihre Friedenspolitik bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs gestellt. Mit ihrer Abstimmung im Reichstag am 4. August 1914 über die Kriegsnotgesetze und den ersten Kriegskredit hat sie den nationalen Verteidigungskrieg in nationaler Solidarität als unvermeidlich hingenommen; nach außen einstimmig, innerparteilich jedoch gegen Widerstände. Keil trug diese Haltung mit, auch als sich der linksradikale Widerstand versteifte und 1916/17 zur Spaltung der Partei führte. Immer wieder habe die Sozialdemokratie ihre Stimme erhoben für die Erhaltung des Friedens, aber, so sagte er am 8. Oktober 1914 in Ulm, sie sei bereit, einen Angriff auf das Deutsche Reich abzuwehren. Einen Eroberungskrieg lehnte man ab, aber die Landesverteidigung rechtfertigte den Krieg. Seine Ursachen sah Keil in den „Triebkräften der hochkapitalistischen Wirtschaftsordnung“, in der Verwandlung wirtschaftlicher Interessenkämpfe in politische Machtkämpfe. Daß das zaristische Rußland als „Hort despotischer Reaktion“ sich zum Beherrscher der Welt aufwerfen könnte, war die Sorge der württembergischen Sozialdemokraten. Tiefschmerzlich empfand Keil, daß der Krieg zugleich ein Krieg gegen Frankreich sein mußte. In dem neu aufflammenden Streit um die „Schwäbische Tagwacht“ setzte der Landesvorstand am 4. November 1914 Keil als Chefredakteur über die bis dahin amtierende Kollegialredaktion der Parteilinken, ein erster Schritt zur Spaltung der Partei.
Keil wurde im Reichstag zum Sprecher seiner Fraktion in finanz- und steuerpolitischen Fragen. Er blieb es lange Jahre, und stolz berichtet er, in der Zeit von 1915 bis 1932 habe der Reichstag kein wichtiges Steuergesetz verabschiedet, an dem er nicht mitgearbeitet hätte. Die Anleihepolitik der Reichsregierung im Kriege, die darauf zielte, einen möglichst großen Teil der Kriegsausgaben in langfristigen Anleihen unterzubringen, lehnte er ab. Mit den Sozialdemokraten drängte er zur Erhebung von Kriegssteuern durch Belastung von Kriegsgewinnen und des alten Besitzes. Eine unsolide Finanzwirtschaft werde bei der schließlich notwendig werdenden Radikalkur die Arbeiterklasse am meisten belasten. Nach dem Kriege suchte er die Rettung aus dem finanziellen Elend in einem entschiedenen „Steuersozialismus“, in der Erfassung der Kriegsgewinne mit einer radikalen Steuer, einer allgemeinen Vermögensabgabe- und Erbschaftssteuer auch für Kinder und Ehegatten auf reichsgesetzlicher Grundlage. Die Vergesellschaftung der Produktionsmittel suchte er nicht in einem einmaligen Akt, sondern in einem langsamen Entwicklungsprozeß zu erreichen.
In der Nationalversammlung in Weimar hatte Keil für die Sozialdemokratische Fraktion in der ersten politischen Debatte zu sprechen. Wieder erscheint hier der Begriff der Klassen, und die Gegensätze zwischen den Großmächten werden auf den wirtschaftlichen Untergrund zurückgeführt. Aber ebenso spielten die sittlich-moralischen Faktoren im Völkerleben eine Rolle, und neben anderen Ursachen habe auch der Stillstand der politischen Entwicklung Deutschlands dessen Ansehen in der Welt gemindert. So wenig aber die deutsche Arbeiterschaft in den patriotischen Jubel eingestimmt habe, als das Kriegsglück dem eigenen Volke günstig schien, so sehr werde ihr Empfinden verwundet durch die Schmach, die nun ihrem Lande angetan werde. „Wir fordern die Gerechtigkeit, die uns in den Friedensgrundsätzen des Präsidenten Wilson zugesichert worden ist. Wir fordern einen Frieden, der uns Luft und Licht zum Leben läßt. Wir wollen mitarbeiten in der Reihe der Völker der Welt ...“
Das Jahr 1919 sah Keil aber auch in der Landespolitik weiter gegenwärtig, als Präsident der Verfassunggebenden Landesversammlung in Württemberg, die anschließend zum Landtag wurde. Für den Festakt zum Inkrafttreten der Verfassung im Ludwigsburger Schloß wählte er das Datum des 25. September 1919. Genau 100 Jahre zuvor war an diesem Ort das zwischen König Wilhelm I. und den Landständen im Vertragswege zustande gekommene Verfassungswerk, eines der ersten Zeugnisse der konstitutionellen Monarchie in Deutschland, feierlich bekräftigt worden. Keil blieb der geschichtlichen Voraussetzungen und Vorläufer eingedenk.
Mit den Mehrheitssozialisten war Keil der Meinung, der politischen müsse nun auch eine wirtschaftliche Revolution folgen: die Überführung der Produktionsmittel in den Besitz der Gesellschaft, damit der Ertrag der Arbeit allen nützlichen Gliedern der Gesellschaft in gerechter Weise zukomme. Die gesamte Gesetzgebung und Verwaltung müsse mit dem Geist des Sozialismus erfüllt werden (Rede am 21.12.1918). Die Sozialisten konnten aber die absolute Mehrheit nicht erreichen, die Verfassung Württembergs wurde, wie die von Weimar, eine bürgerliche Verfassung mit sozialistischen Akzenten (Greiffenhagen). Für eineinhalb Jahre – 1921 bis 1923 – übernahm Keil das Ministeramt für Wirtschaft, Landwirtschaft und Arbeit, aber nachher waren die Sozialdemokraten, von inneren Kämpfen geschwächt, in die Opposition verwiesen. Ministerämter im Reich, die ihm wiederholt offenstanden, lehnte er ab, ebenso den Vorsitz seiner Fraktion im Reichstag, der ihm angetragen wurde.
In der zweiten Hälfte der 20er Jahre trat Keil die Rolle des politischen Führers an den 25 Jahre jüngeren, vitalen und „ideologisch schärfer profilierten“ (Besson) Dr. Kurt Schumacher ab, womit der Kurs der Sozialdemokraten sich verhärtete. Schumachers rückhaltloses Eintreten für seine Ideale zog ihm den erbarmungslosen Haß der Nationalsozialisten zu. Keil hingegen wurde während des Dritten Reiches zwar schikaniert, aber in seiner persönlichen Freiheit nicht beschränkt. Aber auch er ließ an seiner Haltung keinen Zweifel. Dafür steht seine letzte Amtshandlung im württembergischen Landtag: Für seine Fraktion erklärte er am 8. Juni 1933, daß sie sich an der Abstimmung über das „Ermächtigungsgesetz“ des Landes, das der Regierung das Recht der Gesetzgebung und das Recht gab, die Landesverfassung den vom Reich gegebenen Tatsachen anzupassen, nicht beteilige. Die grundsätzliche Einstellung der Fraktion zu den großen geschichtlichen Problemen, vor die Staat und Nation gestellt sind, ändere sich nicht, so sagte er. Damit war für diesen Abklatsch des Ermächtigungsgesetzes des Reiches auf dessen bravouröse Ablehnung durch die SPD-Fraktion im Reichstag im März 1933 verwiesen. Den Weg des Märtyrers brauchte er nicht zu gehen. Die Verbindung zu den alten Gefährten pflegte er, seiner Überzeugung treu, weiter. Er empfand dafür ein seelisches Bedürfnis.
Keil versagte sich, 75jährig, nicht, als es 1945 darum ging, zunächst in der Gemeinde, dann im Lande einen neuen Anfang zu machen. Vom Regierungschef Reinhold Maier zum Präsidenten der Vorläufigen Volksvertretung von Württemberg-Baden benannt, amtierte er mit Sachkunde und Würde. Sein ausgleichendes Wesen und seine Unparteilichkeit sicherten ihm die Anerkennung und Achtung aller Parteien. Er sah nun eine neue Chance für das deutsche Volk, auf dem Wege der Demokratie in eine bessere Zukunft zu gehen. Folgt man der nicht näher belegten Darstellung von Albrecht, so stieß freilich sein Hervortreten bei einigen führenden Parteifreunden, die unter dem Nationalsozialismus und in der Emigration schwer gelitten hatten, auf Widerstand.
Für die Gründung des Südweststaates trat Keil überzeugt ein, hatte er doch schon 1919 im Gespräch mit badischen und württembergischen Politikern mehrfach den Plan eines Zusammenschlusses erörtert, ohne freilich damit Anklang zu finden. Erst als das Land gegründet war, zog der Hochbetagte sich 1952 aus dem öffentlichen Leben zurück. Mit einzelnen Schriften trat er aber auch dann noch hervor. Seine persönliche Meinung zu aktuellen Streitfragen verhehlte er, ohne Rücksicht auf die parteipolitische Konstellation, nicht. So gab er zum Beispiel zu überlegen, ob man parlamentarische Untersuchungsausschüsse nicht aus geeigneten Personen, die den Parlamenten fernstehen, bilden und ihnen Parlamentarier zur Beratung oder Auskunftserteilung beiordnen könnte. Das entsprach gar nicht der Haltung seiner Partei bei den Verfassungsberatungen, und die Gegner beriefen sich gerne auf seine Meinung, daß Untersuchungsausschüsse, bei denen sich Regierung und Opposition schroff gegenüberstehen, problematisch seien. Dieses Problem ist bis heute nicht voll befriedigend gelöst, aber Elemente einer Objektivierung der Ausschüsse wurden inzwischen in das System eingebaut.
In einer 1954 erschienenen Schrift Keils über die Bausparkasse Wüstenrot erscheint sein Bild neben dem Titel: Das markante Dreieck des Schädels, das durch einen kleinen Spitzbart leicht unterstrichen wird, ist wenig behaart, die Augen blicken klar, prüfend, aber zuversichtlich; ein weißer Stehkragen über der dunklen Krawatte und dem schwarzen Anzug zeigt die Zugehörigkeit zur Generation jener Menschen an, die damals in einer Zeit der Not bereit waren, nach einem reich bewegten Leben noch einmal Verantwortung zu übernehmen. Bei ihm durfte man treue Hingabe, Verläßlichkeit und größte Genauigkeit in der Arbeit erwarten. Keil, seit 1945 Vorsitzender des Aufsichtsrats der Gemeinschaft, dem auch Eugen Gerstenmeier angehörte, war nun 84 Jahre alt. Er rechtfertigt in dieser Schrift die „Bausparbewegung“, die in Württemberg ihre Heimat hat. Der soziale Gedanke verwirklicht sich ihm also nicht allein in Maßnahmen des Staates und der Gemeinden, deren Hilfe er freilich fordert, sondern auch im kollektiven Zusammenleben Privater.
Keil konnte eine scharfe Klinge führen. Seine Wahlkampfreden gelten als brillant. War er schon in jungen Jahren aber nicht ein ideologisch einseitig festgelegter Parteimann, sondern Pragmatiker, so kehrte er sich im Alter erst recht von jeder Polemik ab, gab der Gewissensfreiheit des Einzelnen, auch des Abgeordneten, absoluten Vorrang und wuchs, wie Nachrufe hervorheben, in ein staatsmännisches Verantwortungsbewußtsein hinein. Das Verbindende, Staatsbürgerliche war ihm wesentlich. Viele Ehrungen wurden Keil zuteil, auch von den Universitäten, die ihn als Förderer des Bildungswesens und Freund wissenschaftlicher Arbeit feierten und seine Wahrhaftigkeit und Lauterkeit anerkannten.
Eine große Arbeit „Unsere Söhne“, in der er das Geistes- und Seelenleben der während des Krieges verstorbenen beiden Söhne ergründete, war nur für Mutter und Tochter und das Familienarchiv bestimmt. Das zweibändige Werk „Erlebnisse eines Sozialdemokraten“ aber, das er nach dem Kriege abschloß, gibt auf 1200 Seiten Rückschau und Rechenschaft, im Bestreben, zu einem wahrheitsgetreuen Bild der wechselvollen Geschichte Deutschlands in 60 Jahren beizutragen. Die Beschaulichkeit dieses Lebensbildes, das die großen Geschehnisse ebenso einbezieht wie das persönliche Erleben bis in viele Details und Episoden hinein, zeugt eher von einer versöhnlich gestimmten, duldsamen, fast friedfertigen Natur des Verfassers als von dogmatischer Strenge eines Eiferers. Dem mag es zuzuschreiben sein, daß man dem Namen Keils in den Kompendien zur Parteiengeschichte weniger häufig begegnet als Gesinnungsgenossen, die auf Kontrast und ideologisches Profil mehr Gewicht legten.
Quellen: Nachlaßteile in: HStAS (Q 1/4. Nachlaß Wilhelm Keil) und in AdS Bonn.
Werke: Die Tätigkeit der Sozialdemokraten im württembergischen Landtag; 1902; Volksrecht oder Herrenrechte? Rede über die württembergische Verfassungsrevision in der Sitzung am 27. Juni 1905 der württembergischen Abgeordnetenkammer; Die württembergische Steuerreform, 2. Aufl. von: Die württembergische Steuerreform und die Sozialdemokratie, 1905; Die Tätigkeit der Sozialdemokratischen Fraktion im württembergischen Landtag. Rede auf der Landesversammlung der Sozialdemokraten Württembergs am 14. Oktober 1906; Das deutsche Volk im Krieg. Vortrag, gehalten am 8. Oktober 1914 in Ulm auf Einladung des Sozialdemokratischen Vereins Ulm, 1914; Die ersten Kriegssteuern und die Sozialdemokratie, 1916; Die Sozialdemokratie und die Erneuerung Deutschlands, 1918; Die Rettung aus dem finanziellen Elend, 1919; Die Kriegssteuern von 1918, 1919; Steuerbuch, hg. von Wilhelm Keil und Fritz Winker, 1921; Ausführungsgesetz zum Landessteuergesetz ... Gemeinverständlich erläutert von Wilhelm Keil, 1921; Die Einkommensteuer vom Arbeitslohn (Lohnsteuer), 7. Aufl., 1921; Deutsches Finanzelend. Die Bankrottwirtschaft Helfferichs, 1921; Wißt Ihr das? Was die deutsche Republik leistete, 1932; Erlebnisse eines Sozialdemokraten, Bd. 1, 2, 1947-1948; Lehren der Geschichte, in: Wilhelm Keil (Hg.), Deutschland 1848-1948, 1948; Revolution oder Evolution? Zwei Reden anläßlich der Feierstunde des Württemberg-Badischen Landtags zum Gedenken der Freiheitskämpfe von 1848 von Charles M. Lafolette und Wilhelm Keil, Stuttgart 1948; Schriften und Reden eines deutschen Politikers. Mit einer Biographie von Dr. Eugen Barthelmess, 1950; daselbst, S. 84f., Verzeichnis von Büchern und Schriften; Friedrich Ebert. Gedenkrede zum 25. Todestag, 1950; Das Parlament, 1952; Abgeordnete – Parteien – Volk, 1952 (Politische Bildung, Schriftenreihe der Hochschule für Politische Wissenschaften, Heft 23; Die Rechnungsprüfung im Haushaltsrecht des Parlaments, in: Staatsanzeiger für Baden-Württemberg Nr. 55 vom 22.11.1952, S. 1; Erinnerung an einen verdienten württembergischen Staatsmann. Landtagspräsident a.D. Wilhelm Keil sprach zum 100. Geburtstag des Freiherrn von Weizsäcker, in: Staatsanzeiger für Baden-Württemberg Nr. 16 vom 28.02.1953, 3f.; Aktuelle Probleme der Uhrentechnik, als Manuskript gedruckt, 1953, 2 Bl.; Theodor Heuss zum 70. Geburtstag, in: Staatsanzeiger für Baden-Württemberg Nr. 7 vom 27.01.1954, 1; Bausparkasse Gemeinschaft der Freunde Wüstenrot, hg. von der Bausparkasse Gemeinschaft der Freunde Wüstenrot Gemeinnützige GmbH Ludwigsburg/Württemberg o.J. (1954); Brief an einen Freund (Fritz Ulrich), in: Wengerter und Minister, Fritz Ulrich, o.J. (1968).
Nachweis: Bildnachweise: in: Wilhelm Keil, Schriften und Reden (siehe Werke); Bausparkasse Gemeinschaft der Freunde Wüstenrot (siehe Werke); Feuchte, Verfassungsgeschichte von Baden-Württemberg, 1983, bei S. 190; Reinhold Maier, Ein Grundstein wird gelegt, 1964, bei S. 209; Walter Grube, Der Stuttgarter Landtag, 1957, bei S. 569.

Literatur: Verhandlungen der Vorläufigen Volksvertretung für Württemberg-Baden; Verhandlungen der Verfassunggebenden Landesversammlung für Württemberg-Baden (1946); Eugen Barthelmess, Wilhelm Keil – Lebensgang eines Politikers, in: Keil, Schriften und Reden (siehe Werke), 7-23; Ernst Glaeser, Köpfe und Profile, o.J., S. 99-106; Feierstunde des Württemberg-Badischen Landtags aus Anlaß des 80. Geburtstags des Landtagspräsidenten, 1950 (Sonderdruck); Walter Grube, Der Stuttgarter Landtag, 1957, ab S. 548; Waldemar Besson, Württemberg und die deutsche Staatskrise 1928-1933. Eine Studie zur Auflösung der Weimarer Republik, 1959; Walter Pfuhl, Er lebte mit Kaiser, König und August Bebel, in: Die Welt vom 20.12.1967; Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. IV-VII, 1969-1984, VIII (Registerband) 1990; Keil, in: Biographisches Lexikon zur deutschen Geschichte, 1971, 357f. (K. Pätzold); Susanne Miller, Burgfrieden und Klassenkampf, 1974; Klaus Achenbach, Keil, Wilhelm, in: NDB 11 (1977) 407; Alex Möller, Genosse Generaldirektor, 1978, S. 115, 226f.; ders., Tatort Politik, 1982; Jörg Schadt und Wolfgang Schmierer (Hg.), Die SPD in Baden-Württemberg und ihre Geschichte, 1979 (SpLBW Bd. 3, hg. von der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg); Paul Sauer, „Der württembergische Landtag“ und „Die südwestdeutschen Landtage“, in: Von der Ständeversammlung zum demokratischen Parlament, hg. von der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg 1982, 205-223, 249-268; S. Miller/H. Potthoff, Kleine Geschichte der SPD. Darstellung und Dokumentation 1848-1983. 1983; S. Miller, Die Bürde der Macht. Die deutsche Sozialdemokratie 1918-1920. 1978; M. Scharrer, Die Spaltung der deutschen Arbeiterbewegung, 1983; Willy Albrecht, Keil, Wilhelm, in: Biographisches Lexikon zur Weimarer Republik, hg. von Wolfgang Benz und Hermann Graml, 1988, S. 177; Nachrufe: Reinhold Maier, Der Politiker, der drei Generationen sah, in: Südwest-Merkur vom 11.04.1968; ders., in: Stuttgarter Zeitung vom 06.04.1968; Helmut Cron, Wilhelm Keil +, in: Der Bürger im Staat. April 1968; Staatsanzeiger für Baden-Württemberg Nr. 29 vom 10.04.1968; Staatsministerium Baden-Württemberg, Pressestelle, Pressemitteilung Nr. 78/1968 vom 09.04.1968, Die Landesregierung ehrt das Gedächtnis von Wilhelm Keil.
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