Payer, Friedrich 

Geburtsdatum/-ort: 12.06.1847;  Tübingen
Sterbedatum/-ort: 14.07.1931;  Stuttgart
Beruf/Funktion:
  • Rechtsanwalt und Politiker
Kurzbiografie: 1861/1865 Ev.-theologisches Seminar Blaubeuren; demokratischer Volksverein Tübingen
1865–1869 Studium der Rechtswiss. Univ. Tübingen
1869 Erstes juristisches Examen
1871 Zweites juristisches Examen
1879 Rechtsanwaltskanzlei Stuttgart
1874 erste misslungene Kandidatur für den Reichstag
1877 Reichstagsabgeordneter für den Wahlkreis Tübingen-Rottenburg-Reutlingen (1877–1878, 1880–1887, 1890–1917)
1892 Gemeinderat der Stadt Stuttgart (1892–1895)
1893–1912 Mitglied der Kammer der Abgeordneten in Stuttgart für die Stadt Reutlingen
1895–1912 Präsident der Abgeordnetenkammer
1899 Notar in Stuttgart
1912 Fraktionsvorsitzender der Fortschrittlichen Volkspartei im Reichstag
1917 Vorsitzender des Interfraktionellen Ausschusses des Reichstags
1917/1918 Reichsvizekanzler
1919 Mitglied der Weimarer Nationalversammlung, Fraktionsvorsitzender der DDP
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev.
Auszeichnungen: Ehrungen: Komturkreuz II. Kl. des württ. Friedrichsordens (25.2.1901); Komturkreuz der Württ. Krone (mit Personaladel) (25.2.1906); Komturkreuz I. Kl. des württ. Friedrichsordens (25.2.1910); Charlottenkreuz (25.2.1916); Ehrenbürger von Reutlingen (9.12.1912)
Verheiratet: 13.9.1876 Alwine Louise Katharina, geb. Schöninger (7.8.1854–10.5.1936)
Eltern: Vater: Caspar Ludwig Payer (10.6.1812–17.7.1861), Oberpedell der Univ. Tübingen
Mutter: Nanette Louise, geb. Reinhard (1.9.1813–26.1.1902)
Geschwister: 4
Kinder: 2: Friedrich Adolf (19.5.1877–14.4.1961); Ella (13.10.1879–5.7.1957)
GND-ID: GND/118592300

Biografie: Hans Otto Binder (Autor)
Aus: Württembergische Biographien 2 (2011), 204-207

Friedrich Payer entstammt einer alteingesessenen Tübinger Handwerkerfamilie. 1738 wurde Johann Friedrich Payer Buchbinder und Universitätsbürger. Seither stellte die Familie ununterbrochen Buchbinder, Akziser und Pedellen der Universität. Auch der Großvater und Vater waren Universitätspedell und so ist Payer in der Universität aufgewachsen. Da lag der Wunsch nach einer akademischen Ausbildung für ihn nahe. Von den Eltern wurde das Theologiestudium erwünscht, dazu besuchte er nach bestandenem Landexamen das Evangelisch-Theologische Seminar in Blaubeuren, sein Berufsziel war aber Rechtsanwalt und so studierte er in Tübingen Jura. Sein frühes Interesse für Politik war ein Grund für diese Berufswahl. In seiner Kindheit hatte er den ihn beeindruckenden Ludwig Uhland erlebt und im Blaubeurer Seminar interessierte er sich für Politik, las den „Beobachter“ und begeisterte sich für liberale Gedanken. Als Student trat er in die Verbindung Roigel ein und engagierte sich für die Demokratische Partei Württembergs. Da diese nach dem Krieg mit Frankreich und der Reichsgründung einen verheerenden Niedergang erlitten hatte, war ein mühevoller Neuaufbau der Partei nötig, an dem sich Payer beteiligte. Er hatte sich nach seinen Examina als Rechtsanwalt in Stuttgart niedergelassen und arbeitete gleichzeitig als Redakteur für den „Beobachter“. Bei seiner ersten vergeblichen Kandidatur für den Reichstag im Wahlkreis Reutlingen-Rottenburg-Tübingen errang er 1874 einen Achtungserfolg, wobei er wegen seines Eintretens gegen ein Ausnahmegesetz vor allem bei katholischen Wählern und bei Arbeitern erfolgreich war; im katholischen Rottenburg erhielt er beinahe alle Stimmen. 1877 gelang es ihm dann, diesen Wahlkreis zu erobern und mit der Ausnahme von 1878 bis 1880 und 1887 bis 1890 auch bis zum Ende des Kaiserreichs zu verteidigen. Da der Reichstag im Kaiserreich über wenig politische Einflussmöglichkeit verfügte und die Mehrheit dies auch nicht ändern wollte, war er durch diese Tätigkeit nicht ausgelastet und so widmete er sich weiterhin auch den württembergischen Angelegenheiten. 1892 wurde er Mitglied des Gemeinderats in Stuttgart und 1893 wurde er in Reutlingen in die Abgeordnetenkammer gewählt. Zusammen mit den Brüdern Conrad und Friedrich Haussmann war er wesentlich am Wiedererstarken der Volkspartei beteiligt. Den Wahlkampf führte diese mit den drei Forderungen nach Abschaffung der Lebenslänglichkeit der Ortsvorsteher, einer Abgeordnetenkammer ohne Privilegierte und Einführung einer Einkommensteuer. Nach ihrem großen Wahlerfolg wurde er 1895 zum Präsident der Abgeordnetenkammer gewählt. In dieser Funktion hatte er großen Anteil am Zustandekommen der Verfassungsreform von 1906 bei der die reine Volkskammer ohne Privilegierte hergestellt wurde. Württemberg näherte sich damit dem parlamentarischen Regierungssystem, in dem die staatliche Politik vom Mehrheitswillen des Parlaments abhängig wurde, allerdings ohne dass die Parlamentsmehrheit die Regierung stellte. Payer war jedoch mit diesem Ergebnis sehr zufrieden, das seiner Meinung nach den Traditionen des Landes entsprach. Hier zeigte sich eine gewisse Grenze seines demokratischen Denkens. Auch im Reich vollzog sich um die Jahrhundertwende ein politischer Wandel, der Payer in eine führende Position und verantwortungsvolle Aufgaben brachte. 1910 vereinigten sich die Freisinnige Volkspartei, die Freisinnige Vereinigung und die Deutsche Volkspartei zur Fortschrittlichen Volkspartei. Vor der Wahl von 1912 schloss sie mit den Sozialdemokraten ein Stichwahlabkommen, das sich für beide Parteien auszahlte, die SPD wurde stärkste Fraktion und die Fortschrittliche Volkspartei erhielt 42 Mandate. Payer, der maßgeblichen Anteil an dieser Entwicklung hatte, wurde Fraktionsvorsitzender der vereinigten Partei. Erstmals hatte der Reichstag eine linke Mehrheit bekommen. Bei Beginn des Ersten Weltkrieges verzichtete der Reichstag aber weitgehend auf seine politische Einflussmöglichkeit, bis sich die SPD, das Zentrum, die Fortschrittliche Volkspartei und halbherzig die Nationalliberalen im Sommer 1917 zum Interfraktionellen Ausschuss zusammenschlossen. Payer wurde der Sprecher dieses Ausschusses und führte die Verhandlungen mit der Regierung. Nach dem Kriegseintritt der USA und dem Scheitern des U-Bootkrieges hatte sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass der Krieg nicht mehr zu gewinnen war. Der Interfraktionelle Ausschuss wollte deshalb einen entschiedenen Schritt zur Anbahnung eines Verständigungsfriedens herbeiführen. Die Friedensresolution des Reichstags, die am 19. Juli 1917 von der Mehrheit aus Sozialdemokraten, Zentrum und Fortschrittlicher Volkspartei beschlossen wurde, forderte einen Frieden auf der Grundlage eines vollständigen Verzichts auf Gebietsabtretungen. Die Reichstagsmehrheit erwies sich als kohärent, dennoch verzichtete sie auf eine grundlegende Veränderung der Machtverhältnisse und Regierungsbeteiligung. Erst nach dem Scheitern des völlig ungeeigneten Reichskanzlers Michaelis wurden mit Graf Hertling als Kanzler und Friedrich Payer als Vizekanzler zwei Reichstagsvertreter in die Regierungsverantwortung einbezogen, die aber die dringend notwendigen Reformen wie die des preußischen Wahlrechts nicht durchsetzen konnten. Ohne eigenen Geschäftsbereich hatte Payer wenig Gestaltungsmöglichkeit und wurde von Hertling an den Rand gedrängt. Erst nach dem „schwarzen Tag des deutschen Heeres“ am 8. August 1918 mit dem Beinahe-Durchbruch der Engländer bei Amiens forderten Hindenburg und Ludendorff ein sofortiges Waffenstillstandsangebot an Präsident Wilson. Dieser verlangte jedoch eine Demokratisierung der Reichsleitung und so kam es zur Bildung der Regierung des Prinzen Max von Baden, der als liberal galt. Payer, der Vizekanzler blieb und Max von Baden schätzte, hatte an dieser Lösung großen Anteil, ein liberaler Prinz aus dem Süden sollte den Systemwechsel den Anhängern der Monarchie erleichtern. Mit der Aufnahme von weiteren Vertretern aus den Fraktionen in die Regierung wollte man die Forderung des amerikanischen Präsidenten erfüllen. Die Parlamentarisierung des Reichs war aber zu spät gekommen, seit dem 28. Oktober meuterten die Matrosen der Hochseeflotte und am 9. November rief Philipp Scheidemann die Republik aus. Friedrich Payer hätte einen Reformprozess wie in Württemberg unter Beibehaltung der Monarchie vorgezogen, und er hat sich für diesen Weg auch tatkräftig eingesetzt. Nach dem Zusammenbruch war er noch als Fraktionsführer der DDP in der Weimarer Nationalversammlung tätig, anschließend zog er sich weitgehend aus der Politik zurück und stellte sich auch nicht mehr als Ministerpräsident in Württemberg zur Verfügung. 1930 trat er sogar aus Verärgerung über den Eintritt Reinhold Maiers in das Kabinett Bolz-Bazille aus der württembergischen Organisation der DDP aus, weil er in der Art des Vorgehens eine undemokratische Überrumpelung sah.
Payer war konsequent für die Demokratie und besonders die Durchsetzung des Parlamentarismus eingetreten. Das geschah zunächst aus der Opposition, als sich aber die Möglichkeit zur politischen Gestaltung bot, betrat er den Weg der pragmatischen Politik. Seine Offenheit gegenüber der sozialen Frage und sein geselliges Wesen ermöglichten ihm die Zusammenarbeit mit SPD und Zentrum. Als Parlamentspräsident in Stuttgart hatte er maßgeblichen Anteil bei der Bildung einer tragfähigen Mehrheit. Dies gelang ihm auch in seiner Funktion als Vorsitzender des Interfraktionellen Ausschusses im Reichstag. Bei der Durchführung des von ihm als notwendig Erachteten fehlte es ihm gelegentlich an der letzten Konsequenz, wie dies auch sein Freund Conrad Haussmann kritisierte. Es fehlte ihm dazu aber auch die breite Basis, die ihm die Fortschrittliche Volkspartei nicht geben konnte.
Quellen: TeilNL 1 im BA Koblenz: Lebenserinnerungen; tagebuchartige Notizen 1918; Süddeutsche demokratische Deutsche Volkspartei 1868–1910; Deutsche Politik während und nach dem Ersten Weltkrieg; politischer Schriftwechsel 1883–1903, 1914–1926, angereichert durch Briefe von Payer an seine Frau über seine parlamentarische Tätigkeit, TeilNL 2 im HSTAS: Briefe aus der Jugend- und Studienzeit; Unterlagen der Vorfahren, persönliche Papiere, familiäre und geschäftliche Korrespondenz, politische Unterlagen (u. a. Flugblätter, Reden, Zeitungsartikel von Friedrich Payer), autobiographische Aufzeichnungen, Ehrenurkunden, Fotos WLB Stuttgart; Friedrich Payer, Mein Lebenslauf, 1932, Typoskript.
Werke: Neues Recht in Württemberg, 1874; Die Deutsche Volkspartei und die Bismarck’sche Politik, in: Patria 1908; Vor 50 Jahren. Aus der Entstehungsgeschichte der Württ. Volkspartei, 1914; Deutsch-Oesterreich und wir (= Der Aufbau 2. H.) 1919; Von Bethmann Hollweg bis Ebert. Erinnerungen und Bilder, 1923; Mein Lebenslauf, in: Der eiserne Steg 1924, 55–60 Conrad Haussmann, in: ebda. 1925, 17–28; Die Reichskanzlerschaft des Prinzen Max von Baden, in: Friedrich Ebert und seine Zeit, 1925, 87–125; Autobiographische Aufzeichnungen und Dokumente, bearb. von Günther Bradler, 1974.

Literatur: Conrad Haussmann, Schlaglichter, Reichstagsbriefe und Aufzeichnungen. hg. von Ulrich Zeller, 1924; Max von Baden, Erinnerungen und Dokumente, 1927; Theodor Heuss, Politische Unterhaltungen Friedrich Payers mit Theodor Heuss, mitgeteilt von Günther Bradler, in: ZWLG 32 (1973), 161–193; Der Interfraktionelle Ausschuss 1917/18, bearb. von Erich Matthias und Rudolf Morsey, 1959 (Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien Reihe 1 Bd. 1); Die Regierung des Prinzen Max von Baden (1918), bearb. von Erich Matthias und Rudolf Morsey, 1962 (Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien Reihe 1 Bd. 2); Rosemarie Menzinger, Verfassungsrevision und Demokratisierungsprozess im Königreich Württemberg. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte des Parlamentarischen Regierungssystems in Deutschland, (VKgLBW Reihe B Bd. 56), 1969; Hans-Georg Müller-Payer, Friedrich Payer, in: Lebensbilder aus Schwaben und Franken Bd. 11, 1969, 344–367; Klaus Simon, Die württ. Demokraten. Ihre Stellung und Arbeit im Verfassungssystem in Württemberg und im Deutschen Reich 1890–1920 (VKgLBW Reihe B Bd. 52) 1969; Udo Bermbach, Vorformen parlamentarischer Kabinettsbildung in Deutschland. Der Interfraktionelle Ausschuss 1917/18 und die Parlamentarisierung der Reichsregierung, 1967; Helmut Franz, Das Problem der konstitutionellen Parlamentarisierung bei Conrad Haussmann und Friedrich von Payer, 1976; Manfred Rauh, Die Parlamentarisierung des Deutschen Reiches (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien Bd. 60) 1977.
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