Lettré, Hans Heinrich 

Geburtsdatum/-ort: 29.11.1908; Wuppertal
Sterbedatum/-ort: 27.07.1971;  Heidelberg
Beruf/Funktion:
  • Chemiker, Krebsforscher
Kurzbiografie: 1918-1927 Realgymnasium Wuppertal-Elberfeld
1927 Sommersemester Studium der Mathematik und Naturwissenschaften an der Universität München
1927-1932 Studium der Chemie an der Universität Göttingen
1932 24. Mai Promotion bei A. Windaus: „Über Additionsverbindungen und Mischkristalle in der Sterinreihe“
1931 Okt.-1938 Dez. Assistent am Chemischen Institut der Universität Göttingen
1937 Okt. Habilitation: „Die Stereochemie der Sterine und verwandter Naturstoffe“
1939 Jan.-1942 Aug. Leiter der chemischen Abteilung des Instituts gegen die Geschwulstkrankenheiten am Rudolf-Virchow-Krankenhaus, Berlin
1942 Sep.-1948 Okt. Planmäßiger außerordentlicher Professor für organische Chemie und organische Technologie an der Universität Göttingen
1948 Nov.-1962 Feb. Planmäßiger außerordentlicher Professor und Direktor des Instituts für experimentelle Krebsforschung an der Universität Heidelberg; Antrittsvorlesung 3.12.1948: „Zur Biochemie der Tumoren“
1962 Mär.-1971 Jul. ordentlicher Professor nach der Einrichtung des Lehrstuhls für experimentelle Krebsforschung
1971 Vorbereitung und Leitung der Tagung von UICC, Internationale Union gegen Krebs, in Heidelberg, 4. Internationales Symposium über die biologische Charakteristik menschlicher Tumoren
2000 Stiftung des „Renate und Hans Lettré Forschungspreises“ der Deutschen Gesellschaft für Zell- und Gewebezüchtung
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev.-ref.
Auszeichnungen: Carl-Duisberg-Gedächtnispreis des Vereins Deutscher Chemiker (1943); Nationalpreis der DDR (1949); Scheele-Medaille der Biochemischen Gesellschaft Stockholm (1954); Mitglied der New York Academy of Sciences (1961); Mitglied der American Association for Cancer Research (1962); Wilhelm-Warner-Preis für Krebsforschung (1966); Orden Legione d'Oro (1968)
Verheiratet: 1942 (Berlin) Renate Alice, geb. Harttung (1899-1983), Dr. med. (1944), Prof. in Heidelberg (1968)
Eltern: Vater: Ludwig Christian (1869-1953), Ingenieur
Mutter: Luise Justine Marie, geb. Vitt
Geschwister: Johanna (Hanna), verheiratete Ockermann (1906-1978)
Kinder: keine
GND-ID: GND/125524439

Biografie: Alexander Kipnis (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 4 (2007), 207-210

Lettré, Sohn eines Ingenieurs, zeigte schon als Gymnasiast Neigung zur Naturwissenschaft. Im Bericht des Realgymnasiums Eberfeld vom Ostern 1927 steht, dass Lettré Physik studieren wolle. Nach einem Semester in München wechselte er nach Göttingen, damals ein Weltzentrum der Mathematik und Naturwissenschaften. Hier war sein Lehrer Adolf Windaus (1876-1959), der große Organiker, dem 1928 der Nobelpreis für Chemie verliehen worden war und der seinen Schülern zusammen mit der Wissenschaft hohe ethische Standards einprägen konnte. Später schrieb Lettré, dass Windaus ihm immer „Vorbild“ bleibe. Der begabte Student zog bald die Aufmerksamkeit des Lehrers an sich. Bereits 1930 publizierte Lettré seinen ersten Artikel: Mit physikalischen Mitteln löste er eine Fragestellung aus dem von Windaus bearbeiteten Gebiet der Naturstoffchemie. Windaus nahm ihn als „Lektionassistenten“ – eine Stelle, die Lettré auch nach seiner Promotion im Frühling 1932 jahrelang innehatte. Sein Kommilitone Arthur Lüttringhaus (1906-1992), später Professor für Organische Chemie in Freiburg, erinnerte an Lettré als an einen Forscher, der damals „schon immer ein oder zwei Ecken weiter dachte als andere“. Lettrés rein chemische Forschungen in Windaus’ Institut wurden 1936 mit einem zusammenfassenden Buch über Sterine gekrönt, das zum Standardwerk wurde. Lettré habilitierte sich auch über Sterine.
Als Privatdozent sollte Lettré für alle Fakultäten über „Die chemischen Kampfstoffe“ lesen, fühlte sich aber sehr unzufrieden. Als an Windaus eine Anfrage wegen eines Leiters der chemischen Abteilung des Krebsinstituts in Berlin kam, konnte er Lettré empfehlen. So wurde Lettré beurlaubt und begann Anfang 1939 seine neue Tätigkeit in Berlin. Hier lernte er die Methode der Gewebezüchtung kennen, d. h. der Züchtung tierischer und menschlicher Zellen außerhalb des Organismus, und wandte sie als erster systematisch für das Studium der Beeinflussung chemischer Faktoren auf das Zellwachstum an. Dabei entwickelte er auch einen einfachen Test mit dem Mäuse-Ascites-Tumor: Er wurde zum Standardindikator zur Prüfung von Substanzen hinsichtlich ihrer Wirkung auf die Krebszelle. Ab 1941 fungierte Lettré auch als Privatdozent an der Universität Berlin. Er las über „Wege chemischer Krebsforschung“, „Wirkstoffe des Wachstums“ und „Immunochemie“. Hier traf er die begabte und zielstrebige Medizinstudentin Renate Harttung, die im Gebiet der Tumormedizin promovieren wollte und die seine Lebensgefährtin und Mitarbeiterin wurde. Mit ihr publizierte Lettré etwa 25 Aufsätze, den ersten noch vor der Eheschließung 1941.
Ende 1942 wurde Lettré als außerordentlicher Professor nach Göttingen zurückberufen, um zur Entlastung für Windaus die Vorlesungen über „Organische Chemie“ zu übernehmen. Er las auch über „Organische Technologie“ und „Biochemie der Tumoren“. Gleichzeitig setzte er seine Forschungen zur Entwicklung der Grundidee über die Hemmung der Zellteilung (Mitose) durch die „Mitosegifte“ fort. Der Physiologieprofessor Hermann Rein (1898-1953) stellte ihm in seinem Institut Räume für die Gewebezüchtung zur Verfügung. Lettré konnte bis zum Kriegsende arbeiten, weil Göttingen von der Zerstörung durch Luftangriffe verschont blieb. Nach dem Zusammenbruch durfte Lettré sofort mit der Neueröffnung der Universität zu seiner Lehr- und Forschungstätigkeit zurückkehren. Politisch waren er und seine Frau unbelastet.
1946 begann der erste Heidelberger Nachkriegsrektor, Chirurg und Krebsforscher Karl Heinrich Bauer, eine Neugründung des 1906 errichteten und 1935 geschlossenen Krebsforschungsinstituts voranzutreiben. In demselben Jahr traf Bauer auf Lettré und bemühte sich, wie er schrieb, „einen hervorragenden Forscher ..., der die Heidelberger Tradition der Krebsforschung neu zu begründen in der Lage wäre“, als Direktor zu berufen. Die zähen Verhandlungen der Universität mit den Behörden dauerten bis Herbst 1948, um eine Finanzierung des Instituts und seiner Stellen zu regeln; im November 1948 kam Lettré mit seinen engsten Mitarbeitern nach Heidelberg. Am Anfang gab es nur vier Räume, in denen anfangs, so Lettré, „kein Stuhl, keine Glühbirne, kein Reagenzglas mehr war“. Die Räume wurden flexibel, je nach Bedarf, für Gewebezüchtung, Kükenzucht, Histologie, Mikrokinematographie, Tierversuche oder als Spülküche genutzt.
Ebenso flexibel versahen die Mitarbeiter alle Funktionen des Instituts von der Forschung bis zur Gebäudereinigung – die Gewebekulturen sollten ja steril bleiben! Dank des gedeihlichen Zusammenarbeitens und Lettrés ständiger Bemühungen um Erweiterung wurde die anfängliche Kargheit allmählich überwunden: Lettré wohnte im Institut, war immer ansprechbar. Er verließ sein Arbeitszimmer selten vor 23 Uhr. Seine Mitarbeiter schätzten seine durch Weitblick geprägten Anregungen, seine Hilfsbereitschaft und Großzügigkeit. Im Institut herrschte „die faszinierende Atmosphäre aus naturwissenschaftlicher Neugierde, tiefster menschlicher Verantwortung und akademischer Freizügigkeit“, bezeugte Heinrich Wrba (1922-2001), ein langjähriger Mitarbeiter Lettrés. Dessen Leitung förderte die erfolgreiche Entwicklung des Instituts: Schon Anfang der 1950er Jahre hatte das Institut internationales Ansehen erreicht. Während des Direktorats von Lettré entstanden dort 534 Publikationen und 394 Dissertationen, dazu 13 Habilitationsschriften. Er verstand wie nur wenige die Notwendigkeit des interdisziplinären Zusammenwirkens und der „Verständigung untereinander“, um das Krebsproblem lösbar zu machen; deswegen trug sein Institut auch nie eine einschränkende nähere Bezeichnung seiner Arbeitsrichtung. Gäste aus dem Ausland arbeiteten regelmäßig dort. 1966 wurde das Institut in das 1964 neugegründete Deutsche Krebsforschungszentrum (DKFZ) übernommen.
Lettré entwickelte aus älteren Interessengebieten folgende prinzipielle Frage: „Warum wachsen Tumorzellen unter Bedingungen, unter denen die normalen Zellen nicht wachsen?“ Die endgültige Antwort ist bis heute nicht gefunden. Im Verlauf der Forschungen wurden aber interessante Hypothesen zum Mechanismus der Mitose entwickelt und das Problem der Wirt-Tumor-Beziehung begriffen, ebenso die Erscheinung der Resistenz von Tumorzellen gegen Chemotherapeutica, welche die Suche nach deren Überwindung vorantrieb. Lettré erkannte sehr früh die Bedeutung der modernen physikalischen Forschungsmethoden und bemühte sich, sie in seinem Institut im Sinne der Krebsforschung zu entwickeln. Besonders erfolgreich war er mit der elektronenmikroskopischen Autoradiographie. Die Arbeit darüber wurde außerordentlich oft in der Fachliteratur zitiert. Auf der Suche nach neuen Mitose hemmenden Stoffen – schon gegen 1960 wurden ca. 2 000 Verbindungen bezüglich ihrer Wirkung auf Gewebekulturen normaler und maligner Zellen untersucht – unterließ Lettré es nicht, auch rein chemische Forschungen in seinem Institut durchzuführen. Ihre Ergebnisse wurden teilweise patentiert und meistens an die Bayer AG verkauft. Chemie bedeutete für ihn vor allem, so er selbst, „den festen Boden“, von dem aus er „immer wieder den Vorstoß in das Unbekannte wagen“ konnte.
Lettré besaß eine ausgeprägte literarische Neigung und veröffentlichte nicht nur viele originelle Arbeiten, sondern auch zahlreiche populärwissenschaftliche Aufsätze und Übersichten, insgesamt etwa 360 Publikationen. Nicht selten trat Lettré vor die Presse, da die Finanzierung seines Instituts entscheidend von Behörden und Stiftungen abhing. Er verstand es, in klaren Worten die Größe des Problems vor der Öffentlichkeit darzustellen. Außerdem fungierte er als Mitherausgeber einiger Zeitschriften, insbesondere der „Zeitschrift für Krebsforschung“ (ab 1948), sowie vieler einmaliger Sammlungen.
Als Professor der Medizinischen Fakultät hielt Lettré die Arbeit der Studenten im Labor für das Wichtigste. Er las über „Geordnetes und ungeordnetes Wachstum“, „Cytochemie“, „Cancerogene und mutagene Faktoren“, „Mitose und Mitosegifte“ und über weitere ähnliche Themen, die er erforschte, – jeweils aber nur eine Stunde wöchentlich, selbst als ordentlicher Professor. Ein guter Redner war er nicht. Nicht die Form, sondern der immer originelle Inhalt oder neue Standpunkt seiner Vorlesungen und Vorträge machte ihn sehr gefragt bei vielen Kongressen und Tagungen im In- und Ausland. Lettré unternahm viele Reisen, mehrmals in die USA, nach West- und Osteuropa, in die Tschechoslowakei, nach Rumänien und in die UdSSR (1956), aber auch nach Indien (1960 und 1966), Uruguay und Japan (1965-66). Der anerkannte Krebsforscher wurde auch Mitglied und/oder Berater mehrerer Gremien, so des wissenschaftlichen Beirats für Krebsforschung bei der Weltgesundheitsorganisation (1959-1964), des ständigen beratenden Ausschusses für Biologie der Europäischen Atomgemeinschaft, EURATOM, und des Vorstands der Internationalen Gesellschaft für Chemotherapie, beide ab 1961.
Die permanente übermäßige Anstrengung endete schließlich tragisch: Lettré starb unerwartet an einem Lungeninfarkt im Alter von nur 62 Jahren. Er gilt als einer der bedeutendsten Krebsforscher Deutschlands. Die von ihm entwickelten Testmethoden bildeten weltweit die Grundlage für die Suche nach der chemotherapeutischen Behandlung maligner Tumoren. Seine bahnbrechenden Arbeiten lieferten neue Ansatzpunkte und Erkenntnisse über das bis heute ungelöste Krebsproblem: „Die Welt ist bunt, und warum soll das Krebsproblem nicht auch bunt sein?“, hatte Lettré einmal bemerkt.
Quellen: UA Heidelberg Personalakte 1052, 1053, 2837, 4813, 4814, 8259, 9768 u. 9769 [1053, 8259 und 9769 von Renate Lettré], H-III-557/2 u. H-III-640 (Lehrstuhl f. experimentelle Krebsforschung); StadtA Wuppertal, Auskunft vom 24.2.2006.
Werke: Bibliographie in: Poggendorffs Biogr.-literar. Handwörterb. VIIa, T. 3, 1959, 81-83. – Auswahl: Notiz über Isomere des Ergosterins u. des Dihydroergosterins, in: Zs. für physiol. Chemie 189, 1930, 1-3; Über Additionsverbindungen u. Mischkristalle in d. Sterinreihe, in: Annalen d. Chemie 495, 1932, 41-60; (mit H. H. Inhoffen), Über Sterine, Gallensäuren u. verwandte Naturstoffe, 1936, 1954 2. Aufl.; Die Gewebezüchtung als Hilfsmittel chemischer Krebsforschung, in: Angewandte Chemie 53, 1940, 363-368; Beobachtungen über das Wachstum des Mäuse-Ascites-Tumors u. seine Beeinflussung, in: Zs. für physiol. Chem. 268, 1941, 59-76; Adolf Windaus, zu seinem 70. Geburtstag am 25. Dezember 1946, in: Göttinger Universitäts-Ztg. Jg. 2, 1946, Nr. 2, 9 f.; Über Mitosegifte, in: Ergebnisse d. Physiologie, biologischen Chemie u. experimentellen Pharmakologie 46, 1950, 379-452; Zur Chemie u. Biologie d. Mitosegifte, in: Angewandte Chemie 63, 1951, 421-430; Synergists and Antagonists of Mitotic Poisons, in: Annals of New York Academy of Sciences 58, 1954, 1264-1275; Krebsforschung in USA, in: Die Therapiewoche 5, 1954/55, 195-198; Cytotoxic agents of purine and sterol group, in: Progress in Experimental Tumor Research, vol. 1, 1960, 329-359; Zusammenfassung d. experimentellen Arbeiten über antimitotische Chemotherapie, in: Antibiotica et Chemotherapia 8, 1960, 166-193; Experimentelle Krebsforschung, in: Bild d. Wissenschaft 3, 1966, 536-545; Autobiographie, in: Wilh. Ernst Böhm (Hg.), Forscher u. Gelehrte, 1966, 178-180; (mit N. Paweletz), Probleme d. elektronenmikroskopischen Autoradiographie, in: Naturwissenschaften 53, 1966, 268-271; Der Stand d. medikamentösen Behandlung des Karzinoms, in: Universitas 23, 1968, 131-138; (Hg. zus. mit G. Wagner), Heidelberger Symposion: Aktuelle Probleme aus dem Gebiet d. Cancerologie II, 1968, III, 1971; (mit K. H. Doenges u. a.), Synthese neuer Colchicin-Derivate mit hoher antimitotischer Wirksamkeit, in: Liebigs Annalen d. Chemie 758, 1972, 185-189.
Nachweis: Bildnachweise: UA Heidelberg; Journal of Clinical and Experimental Psychopathology 12, 1951, 247; Chronik d. Ärzte Heidelbergs, 1985, 184; Wrba, 1972; Werner, 2000 (vgl. Quellen u. Lit.).

Literatur: Poggendorffs Biogr.-literar. Handwörterb. VIIa, T. 3, 1959, 81-83 (mit Bibliographie); D. Schmähl, Lettré, in: NDB 14,1985, 360; Anonym, H. Lettré, in: Nachrr. aus Chemie u. Technik 16, 1968, 412 (mit Bild); H. Lettré, in: Ruperto Carola 49, 1971, 197; An appreciation of Professor H. Lettré (1908-1971), in: European Journal of Cancer 8, 1972, 273; H. Wrba, Zum Gedenken an H. Lettré (mit Bild), in: Zs. für Krebsforschung 78, 1972, 1-3; Dt. Krebsforschungszentrum Heidelberg. FS zur Einweihung d. Betriebsendstufe am 25. September 1972, 67-76; G. Wagner, in: Krebsforschung in Heidelberg, in: Semper Apertus IV, 1985, 237 f., 248; D. Werner, Von d. Chemie zur Zelle, in: Einblick (Zs. des DKFZ) 14. Jg., Nr. 2-3, 2000, 20-23 (mit Bild).
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