Weigend-Abendroth, Friedrich 

Geburtsdatum/-ort: 23.07.1921; Teplitz-Schönau (Tschechoslowakei)
Sterbedatum/-ort: 13.01.1986;  Stuttgart
Beruf/Funktion:
  • Journalist, Schriftsteller
Kurzbiografie: 1931-1940 Humanistisches Gymnasium in Teplitz-Schönau, 1940 Abitur, während der Schule Lehre im väterlichen Druckerei- und Zeitungsbetrieb
1940 IV-IX Reichsarbeitsdienst, anschließend Studium der Theaterwissenschaft, Philosophie und Germanistik an der Deutschen Karls-Universität Prag
1941-1940 Soldat an der Ostfront, dreimal verwundet; 1943-1944 Studienurlaub, Hochschule für darstellende Kunst in Prag, Diplom als Schauspieler und Regisseur
1945 V-VII Amerikanische Kriegsgefangenschaft in Calbe an der Mulde, vor Übergabe des Lagers an die sowjetischen Truppen Flucht nach Teplitz-Schönau, dort nach drei Tagen Ausweisung
1945-1950 Kurzzeitig Schauspieler in Dresden, anschließend freier Journalist und Kritiker in Dresden, Dramaturg und Werbeleiter der Sächsischen Staatsoperette
1950 Übersiedlung nach Österreich, 1951 Leiter der Pressestelle der Erzdiözese Salzburg, 1952-1954 Chefredakteur der Salzkammergut-Zeitung (Gmunden), 1954-1960 Chefredakteur der Österreichischen Monatshefte, freier Mitarbeiter bei mehreren Rundfunkanstalten und Zeitschriften, 1955 österreichischer Staatsbürger; 1960-1962 Redakteur der Wochenzeitung „Die Furche“ in Wien
ca. 1956-1960 Nebenberuflich Studium der Philosophie, Soziologie und der mittleren und neueren Geistesgeschichte an der Universität Wien, 1960 Dr. phil. (Dissertation „Max Adlers transzendentale Grundlegung des Sozialismus“) bei August Knoll
1962-1968 Stellvertretender Chefredakteur und Leiter des Kulturressorts der Wochenzeitung „Echo der Zeit“ in Recklinghausen
1968-1986 Chef des Feuilletons der Stuttgarter Zeitung, 1970 Leiter des Ressorts „Geisteswissenschaften“
1983 Ritter des päpstlichen Silvesterordens
Weitere Angaben zur Person: Religion: römisch-katholisch
Verheiratet: 1946 Dresden, Trude, geb. Eger
Eltern: Friedrich, Druckereibesitzer, Zeitungsherausgeber
Margarete, geb. Gutmann, Opernsängerin
Geschwister: 1
Kinder: 1
GND-ID: GND/1012389405

Biografie: Horst Ferdinand (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 3 (2002), 439-441

Im Jahre 1810 starb in Teplitz-Schönau der seinerzeit berühmte Reiseschriftsteller Johann Gottfried Seume (geb. 1763), und 111 Jahre später wurde am gleichen Ort, dem ältesten böhmischen Kurbad, Weigend-Abendroth geboren. Es scheint, daß die beiden Skribenten nur durch die Einträge im Kirchenbuch desselben Ortes verbunden sind, aber bei näherem Zusehen ergeben sich überraschende Parallelen zwischen ihnen. Wie ein ganz summarischer Vergleich der beiderseitigen Lebensbahnen zeigt, war Seume so etwas wie ein spiritueller Vorvater Weigend-Abendroths. An erster Stelle ist die beiden eigene Lauterkeit des Charakters zu nennen, der Freisinn, mit dem sie zeit ihres Lebens ihre Umwelt schilderten, und der Mut, mit dem sie gegen die Ungerechtigkeiten dieser Welt anschrieben. Das Unrecht begegnet ihnen in frühen Jahren, als sie zum ungeliebten Waffendienst in ungerechten Kriegen gepreßt wurden: der eine, Seume, wurde von hessischen Werbern nach Amerika verschleppt (Näheres bei Friedrich Schiller, Kabale und Liebe) und mußte dort gegen die aufständischen Amerikaner kämpfen, später in russischem Dienst gegen die aufständischen Polen in Warschau; der andere wurde 1941, ob er wollte oder nicht, an die Ostfront transportiert und mehrfach verwundet – beide überlebten. Die bei Weigend-Abendroth nicht nur latente Unlust am Waffenhandwerk kam dadurch zum Ausdruck, daß er sich in seiner vierjährigen soldatischen Karriere mit dem Spitzendienstgrad des böhmischen Obergefreiten begnügte. Im Zuge der kriegerischen Ereignisse, in die beide gegen ihren Willen verwickelt wurden, haben sie mehrfach die Flucht ergriffen: der erstere, als er von Amerika zurückkommend in Bremen seinen Bewachern entwich, der andere, als er in Calbe an der Mulde als amerikanischer Kriegsgefangener das Kriegsende erlebte und vor der befürchteten Übergabe an die Rote Armee einem Diktum Seumes aus dessen berühmtestem Gedicht folgte: „Er schlug sich seitwärts in die Büsche.“ Daß er dann, wie wenn nichts geschehen wäre, in einer dem braven Soldaten Schweijk vergleichbaren Tenure nach Teplitz-Schönau marschierte, mutet heutzutage etwas naiv an; aber von den späteren Beschlüssen der Potsdamer Konferenz über die „humane Aussiedlung“ der Deutschen aus der Tschechoslowakei konnte er ja noch nichts wissen. Diese Wissenschaft wurde ihm nach dreitägigem Aufenthalt in der angestammten Heimat in Form eines Fußtritts in den Hintern verabreicht, worauf er schleunigst ins nicht allzu weite Dresden retirierte und sich dort kurze Zeit als Schauspieler dem Theater widmete, u. a. mit Erich Ponto auf der Bühne stand. Auch Seume befaßte sich nach seiner Flucht mit theatralischen Plänen, indem er einige längst vergessene Schauspiele schrieb, aber all dies blieb bei beiden Episode.
Schier unbegrenzten Wissensdurst, einen Wandertrieb sondersgleichen und die Fähigkeit, schreibend zu lernen und lernend zu schreiben, entfalteten beide in ihren mittleren Jahren. Seume spazierte nicht nur nach Syrakus – der Titel seines berühmtesten Buches –, sondern nach Paris und St. Petersburg, nach Finnland und Schweden, während Weigend-Abendroth im Lauf seiner Wanderjahre im innereuropäischen Bereich verblieb: Prag, Dresden, Salzburg, Gmunden, Wien, Recklinghausen und schließlich Stuttgart waren die Stationen seines journalistischen und schriftstellerischen Werdegangs. Der Wissensdurst Seumes ist in einer zwölfbändigen Gesamtausgabe seiner Werke dokumentiert, während sich Weigend-Abendroth bei seinen Touren durch den österreichischen und deutschen Blätterwald – von immer ersten Adressen ließ er sich leiten: „Forum“, „Rheinischer Merkur“, „Hochland“, „Die Furche“, „Echo der Zeit“ – den Ruf eines Journalisten erwarb, „dessen Wissen und Erinnern ohne Grenzen schienen“ (Th. Löffelholz) und der sich stets um die Systematisierung und Vertiefung seiner enzyklopädischen Bildung bemühte. So setzte er sich, in reiferen Jahren, viele Semester auf die Schulbank – nebenberuflich – und studierte die ihn von jeher besonders interessierenden Fächer, Philosophie, Soziologie und mittlere und neuere Geistesgeschichte; 39jährig wurde er mit einer Dissertation über einen der Protagonisten des sogenannten Austromarxismus, Max Adler (1873-1937), promoviert. Das Thema der „Transzendentalen Grundlegung des Sozialismus“ stellte an den Bearbeiter keine geringen Anforderungen, ging es doch um nicht mehr oder weniger als um eine Analyse des Versuchs der Austromarxisten, auf dem Hintergrund der Kantschen Kritiken der marxistischen Diktatur des Proletariats durch die Einführung der demokratisch-parlamentarischen Komponente ein „menschliches Gesicht“, wie man später sagte, zu verleihen. Die Wiener Kammer für Arbeiter und Angestellte zeichnete ihn dafür aus.
Das 47. Lebensjahr war für Seume und Weigend-Abendroth das Schicksalsjahr: der erstere starb, arm und krank, in Teplitz-Schönau – gerade vor 100 Jahren setzte man ihm dort ein Denkmal –, und der letztere begegnete einem gleichgestimmten Verleger, Josef Eberle, der dem „belesensten und kenntnisreichsten Journalisten des deutschen Sprachraums“, wie es in einem Nachruf hieß, das eigens für ihn gezimmerte Ressort „Geisteswissenschaften“ in der „Stuttgarter Zeitung“ übertrug. Die folgenden 17 Jahre wurden zur reichen Erntezeit in der wechselreichen Lebensbahn Weigend-Abendroths. Er publizierte und redigierte in einer der großen überregionalen Zeitungen der Bundesrepublik unzählige Beiträge mit Themen aus den disparatesten Gebieten und prägte so auf seine unverwechselbare Weise das geistige Klima der Landeshauptstadt: er war in den esoterischen Gefilden der Philosophie so gut zuhause wie in den ihm von frühester Jugend an vertrauten Bereichen des Theaters, der Oper und der Operette. Seinen Redaktionskollegen mag dies mehr als einmal unheimlich vorgekommen sein, denn der im uralten böhmischen Kulturboden wurzelnde „Kosmopolit“ Weigend-Abendroth beherrschte im Gegensatz zu den sich nur in ihren ressortmäßigen Teilbereichen Tummelnden das „Ganze“. Dazu kam, daß er im väterlichen Druckereibetrieb die „schwarze Kunst“ von der Pike auf erlernt hatte. Sein Kollege Wolfgang Igneé (Lit.) berichtet, „daß wir von ihm gelesen und respektiert, gefördert oder auch getadelt wurden, daß er uns belehrte, verbesserte, (einige von uns) sogar liebte und uns, wenn wir ihn kritisierten, verzieh“. Besonders war es ihm um die Betreuung des journalistischen Nachwuchses in der Redaktion zu tun.
Für den treuen Sohn seiner katholischen Kirche und wortmächtigen Prediger existierten keine konfessionellen Grenzen; er wußte sich seinen evangelischen Mitbrüdern im gemeinsamen ökumenischen Bekenntnis des Glaubens ebenso verbunden wie seinen unmittelbaren Glaubensgenossen. Brücken zu schlagen war ihm auch hier wie in allen anderen Bereichen seiner Domäne „Geisteswissenschaften“ selbstverständlich, Brücken, die auf Wissen und damit auf Verstehen basierten. Seine Kenntnis der Theologie im allgemeinen und der Kirchengeschichte im besonderen zeigt sich vielleicht am eindrucksvollsten in jenem – bei einem anderen arrogant wirkenden – Angebot, aus dem Stegreif Szenen aus dem Leben dreier Päpste, vom Gesprächspartner aus der langen Reihe der römischen Bischöfe beliebig auszuwählen, zu spielen – er hatte einfach alles griffbereit. Im weiten Feld der Literatur war der Goethekenner genauso bewandert wie in den abseitigsten Details der Historie. Der Idee des mittelalterlichen „Reiches“ gehörte seine Leidenschaft, und es nimmt nicht wunder, daß er, seit vielen Jahren im Kernland der Staufer heimisch, ein Buch über das „Nachleben der Staufer“ schrieb und den „Reichsverräter am Rhein“, den Fürstprimas des Rheinbundes und Napoleonbewunderer Carl von Dalberg, porträtierte. Zwei Bücher nur – wieviel wäre gerade auf diesem Gebiet noch von ihm zu erwarten gewesen! Aber am 13. Januar 1986 überquerte er, nach einem arbeitsreichen Tag in der Redaktion in Gedanken versunken, zu Fuß eine Straße in der Nähe des Verlagsgebäudes, da raste ein Auto heran und fuhr ihn um. Er war auf der Stelle tot.
Werke: Keine Ruhe im Kyffhäuser. Das Nachleben der Staufer. Ein Lesebuch zur deutschen Geschichte, 1978; Der Reichsverräter am Rhein: Carl von Dalberg und sein Widerspruch, 1980; sehr viele Artikel, Rezensionen etc. in den im Vorspann genannten Zeitungen und Zeitschriften; Auswahl der in der Stuttgarter Zeitung veröffentlichten Texte, in: Friedrich Weigend-Abendroth, Texte aus der Stuttgarter Zeitung 1968-1986, hg. von der Stuttgarter Zeitung-Verlagsgesellschaft Eberle GmbH&Co., Redaktion: Wolfgang Igneé, Andreas Braun, 1986
Nachweis: Bildnachweise: in: B. W.-J., Friedrich Weigend-Abendroth, Katholiken in Stuttgart und ihre Geschichte (Literatur)

Literatur: stz., Friedrich Weigend-Abendroth tödlich verunglückt, in Stuttgarter Zeitung vom 14.01.1986; Wolfgang Igneé, Abschied von einem Unersetzlichen: Die Redlichkeit des Wissens, zum Gedenken an Friedrich Weigend-Abendroth, in: Stuttgarter Zeitung vom 15.01.1986; Otto Kuhn, Der Bücherturm als Heimat: Zum Tode von Friedrich Weigend-Abendroth, in: Stuttgarter Nachrichten vom 15.01.1986; stz., Abschied von Friedrich Weigend-Abendroth, Trauerfeier in Degerloch (Ansprachen von Oberbürgermeister Manfred Rommel, Chefredakteur Thomas Löffelholz, Weihbischof Franz Josef Kuhnle, Oberkirchenrat Karl Arnold), in: Stuttgarter Zeitung vom 18.01.1986; B. W.-J., Friedrich Weigend-Abendroth, in: Katholiken in Stuttgart und ihre Geschichte, hg. von Joachim Köhler, 1990; LbBW 7, 6884, 6885, 6886
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