Koenigsberger, Leo 

Geburtsdatum/-ort: 15.10.1837; Posen
Sterbedatum/-ort: 15.12.1921;  Heidelberg
Beruf/Funktion:
  • Mathematiker, Mitbegründer der Heidelberger Akademie der Wissenschaften
Kurzbiografie: 1846-1857 Friedrich-Wilhelm-Gymnasium Posen
1857 Apr.-1860 Mai Mathematikstudium an der Universität Berlin; Promotion zum Dr. phil. (magna cum laude) „De motu puncti versus duo fixa centra attracti“ bei K. Weierstraß
1861 Apr.-1864 Mär. Mathematik- und Physiklehrer am Kadettencorps zu Berlin
1864 Sommersemester außerordentlicher, ab Mai 1866 ordentlicher Professor der Mathematik an der Universität Greifswald
1869 Apr.-1875 Mär. ordentlicher Professor der Mathematik an der Universität Heidelberg
1875 Apr.-1877 Mär. ordentlicher Professor der Mathematik am Polytechnikum Dresden
1877 Apr.-1884 Apr. ordentlicher Professor der Mathematik an der Universität Wien
1880 Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften
1884 Apr.-1914 Apr. ordentlicher Professor der Mathematik an der Universität Heidelberg, dann ordentlicher Honorarprofessor und wirklicher Geheimrat
1893 Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften
1895/1896 Prorektor
1909 Jun.-1915 Apr. Sekretär der Heidelberger Akademie der Wissenschaften
1918 Mär. Ende der Lehrtätigkeit
Weitere Angaben zur Person: Religion: isr., ab 1860 oder 1861 ev.
Verheiratet: 1873 (Baden-Baden) Sophie, geb. Kappel (1848-1938)
Eltern: Vater: Jakob (1807-1881), Kaufmann
Mutter: Henriette, geb. Kantorowicz (1816-1900)
Geschwister: 11 jüngere Geschwister, von denen vier in frühem Alter starben
Kinder: 2:
Johann Georg (1874-1946), Physikprofessor
Ani (geb. 1876), verheiratete Pfister
GND-ID: GND/116293802

Biografie: Alexander Kipnis (Autor)
Aus: Badische Biographien NF 5 (2005), 151-153

Koenigsberger wurde als ältestes von zwölf Kindern eines Posener Kaufmanns geboren. Sein Vater gründete und leitete ein für damalige Verhältnisse großes Leinwandgeschäft. Nach zwei Jahren Elementarschule trat Koenigsberger in die Septima des Posener Friedrich-Wilhelm-Gymnasiums ein, verlor aber nach ersten Erfolgen seine Lust am Lernen. Jahrelang gehörte er zu den Schlechtesten seiner Klasse, blieb in der Quinta hängen und wurde aus der Oberquarta gar zurückversetzt in die Unterquarta. Später begegnete ihm jedoch das Glück in der Person des Lazarus Fuchs (1833-1902), der dieses Gymnasium ausgezeichnet abgeschlossen hatte und als Hauslehrer bei Koenigsberger wirkte. Binnen eines Jahres konnte Fuchs aus dem lernunlustigen Knaben einen vorzüglichen wissensdurstigen Schüler machen. Fuchs, selbst später ein bedeutender Mathematiker, erweckte in Koenigsberger besonders das Interesse für die Mathematik. Die beiden blieben engste Freunde bis zum Tod von Fuchs.
Ostern 1857 beendete Koenigsberger das Gymnasium „mit recht gutem Abiturientenzeugnis“ und begann, Mathematik an der Universität Berlin zu studieren. Er hörte E. Kummer, G. Magnus, besonders aber K. Weierstraß, der kürzlich als Extraordinarius nach Berlin gekommen war. Weierstraß stellte Koenigsberger auch das Problem für seine Doktorarbeit: Die Zurückführung der Lagrangeschen Bewegungsausdrücke eines von zwei festen Zentren nach dem Newtonischen Gesetz angezogenen Punktes auf Tetafunktionen. Im Mai 1860 promovierte Koenigsberger mit einer lateinischen Dissertation „Über die Bewegung eines Punktes gegen zwei Zentren der Anziehung hin“. Im Keime schloss sie bereits die Hauptthemen seiner späteren Werke ein: Funktionstheorie, Analysis, Mechanik.
Einige Zeit nach der Promotion fungierte Koenigsberger als Lehrer am Friedrich-Wilhelm-Gymnasium in Berlin. Um eine dienstliche und wissenschaftliche Laufbahn möglich zu machen, konvertierte Koenigsberger zum Christentum und konnte so ab Ostern 1861 eine nicht etatmäßige Stelle als Lehrer der Mathematik und Physik am Berliner Kadettenkorps antreten. Mit seinen täglichen Unterrichtspflichten hatte Koenigsberger nur die Abend- und Nachtstunden für seinen mathematischen Studien. Er blieb aber in Verbindung mit Weierstraß, der für die Arbeit seines Schülers großes Interesse zeigte. Die Unterstützung von Weierstraß erwirkte die Berufung Koenigsbergers als außerordentlicher Professor der Mathematik an die Universität Greifswald.
Koenigsberger zeigte sich als hervorragender Dozent, der, so einer seiner Schüler, „selbst begeistert, die Zuhörer zu begeistern wusste“. Nach zwei Jahren wurde er zum ordentlichen Professor befördert. Als sein erstes Buch erschien, bekam Koenigsberger als Nachfolger von O. Hesse den Ruf nach Heidelberg. Koenigsberger hatte enge Kontakte mit den dort lehrenden Großen dieser Zeit: Bunsen wurde ihm väterlicher Freund, Helmholtz übte bedeutenden Einfluss auf seine allgemeine wissenschaftliche Entwicklung aus, Kirchhoff bearbeitete Koenigsbergers mathematische Aspekte der Mechanik. Später schrieb Koenigsberger an Bunsen: „Für mich war jene Zeit entscheidend für mein ganzes Leben“. Leider zerfiel bald die Professorenschaft in zwei zerstrittene Lager, das kollegiale Leben der Universität wurde vergiftet. Viele, auch Helmholtz, Kirchhoff und Koenigsberger verließen Heidelberg. Für Koenigsberger war sein Wechsel zum Polytechnikum Dresden auch finanziell bedingt, er hatte seine Familie gegründet.
Dort blieb Koenigsberger allerdings nicht lange. Er folgte einer verlockenden Einladung nach Wien. Trotz Schwierigkeiten bei der Anpassung an das österreichische Leben konnte er auch hier eine erfolgreiche Lehrtätigkeit entfalten und bedeutende wissenschaftliche Arbeit auf dem Gebiet der Differentialgleichungen leisten. Nach sieben Jahren kehrte der Gelehrte nach Heidelberg zurück, als dort der Lehrstuhl für Mathematik vakant wurde, diesmal, um bis zum Lebensende zu bleiben. Er wirkte fortan nicht nur als Dozent, sondern auch organisatorisch – als Dekan (1889/90, 1896/97, 1903/04) und als Prorektor (1895/96) und war stets sachkundiger und unparteiischer Berater in den allgemeinen Angelegenheiten von Universität und Fakultät.
Koenigsberger wurde einer der Gründer der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Unter seinem Vorsitz als Sekretär der Akademie fanden deren konstituierende Sitzung (25. Juni 1909) und die feierliche Eröffnung (3. Juli 1909) statt. In seiner Eröffnungsrede zeichnete Koenigsberger seine Vision von der Akademie als Einheit aus der Vielfalt der Einzelwissenschaften: Sie „soll humanistische und realistische Bestrebungen nicht mehr voneinander trennen, sondern sie als Kräfte betrachten, welche ... nur eine Resultierende haben“. Sechs Jahre lang leitete Koenigsberger die Mathematisch-naturwissenschaftliche Klasse und alle zwei Jahre (1909/10, 1911/12, 1913/14) fungierte er außerdem als geschäftsführender Sekretär der Akademie (abwechselnd mit dem Sekretär der Philosophisch-historischen Klasse, W. Windelband). In dieser Eigenschaft bemühte er sich darum, dass die Akademie die Verbindung der Hochschulen Badens und den Zusammenschluss der Gelehrten des Landes förderte. Unermüdlich war er bestrebt, die Akademie auch in überregionale Beziehungen einzubinden. Ab 1909 publizierte er alle seine Arbeiten ausschließlich in den Sitzungsberichten der Akademie.
Nach 100 Semestern Professorentätigkeit emeritierte Koenigsberger feierlich im April 1914, musste aber bald wieder Vorlesungen aufnehmen, weil seine Fachkollegen zum Heeresdienst einberufen wurden. Erst 1918 und nach wiederholten Augenoperationen beendete Koenigsberger seine Lehrtätigkeit. Koenigsberger war ein unermüdlicher, temperamentvoller Arbeiter. Trotz seiner fortschreitenden Sehschwäche – im Alter sah er sich gezwungen, seine Formeln mit weißer Tinte auf schwarzes Papier zu schreiben – gönnte er seiner Feder keine Ruhe; seine letzte Abhandlung verfasste er vierzehn Tage vor seinem Tod. Zeitlebens pflegte er intensiven Briefwechsel mit vielen Mathematikern des In- und Auslands, aber auch mit Freunden. Wie seine Autobiographie zeigt, war er ein recht geselliger Mensch. Er publizierte insgesamt knapp 160 Arbeiten, darunter 14 Bücher und Broschüren, von denen einige sehr umfangreich sind. Seine Hauptgebiete waren die Funktionentheorie, besonders elliptische Funktionen und Abelsche Funktionen, und die Analysis, dabei insbesondere Differentialgleichungen: Koenigsberger bearbeitete als erster Systeme von Differentialgleichungen mit komplexen Variablen. In seinen größeren Abhandlungen tritt er als schöpferischer Systematiker des mathematischen Wissens an, der die Gegenstände im Zusammenhang darzustellen weiß. Außerdem arbeitete Koenigsberger auch über Mechanik vom Standpunkt der Mathematik aus und verallgemeinerte den Newtonschen Kraftbegriff. Sein Buch „Prinzipien der Mechanik“ ist dem Andenken Helmholtz’ gewidmet. Auch die allgemeinen Überlegungen Koenigsbergers über die Mathematik sind von wissenschaftlichem Interesse. So stellte er z. B. die These auf: dass „die Mathematik selbst die Wissenschaft von der Natur der Dinge in und um uns [ist], soweit sie menschlicher Erkenntnis überhaupt sich offenbaren“. Deswegen – denn auch die Geisteswissenschaften „können nicht ganz der Erfahrung entbehren“ – sollte die Mathematik „als gleich berechtigtes Glied im großen Reiche der Geisteswissenschaften“ sich betätigen. Koenigsberger meinte damit, dass „eine Trennung in Geistes- und Naturwissenschaften wie eine Sonderung von Geist und Natur überhaupt, immer mehr verschwinden ... werden“. Über sein umfangreiches Werk hinaus weithin bekannt wurde Koenigsberger dank seiner Werke über die Geschichte der Wissenschaft, besonders aber dank seiner dreibändigen Helmholtz-Biographie, die ihre Bedeutung bis heute bewahrt hat.
Quellen: UA Heidelberg PA 1865; Rep. 27, Nr. 596; RA 6508; HAW Nr. 258; UB Heidelberg Hs. 2741, III; Hs. 3695; Hs. 2615; StA Heidelberg (Auskunft); StA Freiburg, Auskunft von Frau Hefele vom 17. 2. 2004.
Werke: Über die Transformation d. Abelschen Functionen erster Ordnung. Journ. Math. 64, 1865, 17-42 u. 65, 1866, 335-338; Die Transformation, die Multiplication u. die Modulargleichungen d. elliptischen Functionen, 1868; Vorlesungen über die Theorie d. elliptischen Functionen nebst einer Einleitung in die allgemeine Functionenlehre, 2 Bde., 1874; Zur Geschichte d. Theorie d. elliptischen Transcendenten in den Jahren 1826-29, 1879; Allgemeine Untersuchungen aus d. Theorie d. Differentialgleichungen, 1882; Lehrbuch d. Theorie d. Differentialgleichungen mit einer unabhängigen Variabeln, 1889; Die Principien d. Mechanik. Mathemat. Untersuchungen, 1901; Hermann von Helmholtz, 3 Bde. 1902-1903; Carl Gustav Jacob Jacobi. FS, 1904; Eröffnungsrede an d. Heidelberger Akad. d. Wiss. (3. 7. 1909), Jahresh. d. Heidelberger Akad. d. Wiss. 1909/1910, IX-XVI; Die Mathematik, eine Geistes- oder Naturwissenschaft? 1913; Mein Leben, 1919.
Nachweis: Bildnachweise: UB Heidelberg, Bildersammlung; Bopp (vgl. Lit.).

Literatur: Poggensdorffs Biogr.-literar. Handwörterbuch, III, 1898, 735 f., IV, 1904, 780 f., V, 1926, 654 f.; A. Pringsheim. L. Koenigsberger †, Jahrb d. Bayer. Akad. d. Wiss. für 1921, 45-49; K. Bopp. L. Koenigsberger als Historiker d. mathemat. Wissenschaften. Jahresber. d. dt. Mathematiker-Vgg. 33, 1925, 104-112 (mit Bild); E. Knobloch. Koenigsberger, in: NDB 1980, 12, 355 f.; W. Burau. Koenigsberger, in: Dictionary of Scientific Biography, vol. 7, 1973, 459 f.; D. Drüll, Heidelberger Gelehrtenlexikon, 1803-1932, 1986, 145.
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