Martin, Ernst Eduard 

Geburtsdatum/-ort: 05.05.1841; Jena
Sterbedatum/-ort: 13.08.1910; Straßburg
Beruf/Funktion:
  • Germanist
Kurzbiografie: 1849-1855 Privatunterricht im Internat des Onkels in Sötern
1855-1858 Gymnasium in Eisenach bis Abitur
1858-1862 Studium der Klassischen und Germanischen Philologie, der Geschichte und der Philosophie in Jena, Berlin und Bonn
1862 Promotion in Berlin bei August Boeckh (De responsionibus diverbii apud Aeschylum); Staatsexamen in Berlin
1862-1863 Probekandidat am Joachimsthalschen Gymnasium in Berlin
1863-1865 Lehrer am Friedrich-Werderschen Gymnasium in Berlin
1866 Habilitation für Germanische Philologie in Heidelberg bei Adolf Holtzmann
1866-1868 Privatdozent für Deutsche Sprache und Literatur in Heidelberg
1868 außerordentliche Professor für Deutsche Sprache und Literatur an der Universität Freiburg i. Br.
1872-1874 ordentlicher Professor in Freiburg i. Br., teilweise Mitvertretung von Romanistik und Anglistik
1874-1877 ordentlicher Professor für Germanische Philologie in Prag
1877 Berufung als ordentlicher Professor für Deutsche Philologie an die Universität Straßburg
1910 Emeritierung
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev.
Verheiratet: 1874 (Freiburg) Emma, geb. Bucherer (gest. 1832)
Eltern: Vater: Eduard Arnold (1809-1875), Prof. für Gynäkologie, Geheimer Medizinalrat, zuletzt in Berlin
Mutter: Marie, geb. Schmid (1818-1872)
Geschwister: 8: 4 Brüder, 4 Schwestern, darunter Karl Eduard, Dr. med.; August Eduard, Dr. med., Gynäkologe
Kinder: 5
GND-ID: GND/116803517

Biografie: Gerhard W. Baur (Autor)
Aus: Badische Biographien NF 5 (2005), 199-201

Martin hatte als Student einige berühmte Lehrer, so Johann Gustav Droysen, Kuno Fischer und August Schleicher in Jena, August Boeckh und wiederum Droysen sowie die Germanisten Moriz Haupt und Karl Müllenhoff in Berlin und in Bonn die miteinander verfeindeten Otto Jahn und Friedrich Wilhelm Ritschl. Bis kurz vor seinem Studienabschluss hatte sein Hauptinteresse der klassischen Philologie gegolten. Doch schon in der letzten Promotionsthese seiner 1862 bei dem bedeutenden Gräzisten Aug. Boeckh geschriebenen Dissertation (De responsionibus diverbii apud Aeschylum) hatte er mit Nachdruck den altdeutschen Unterricht auf dem Gymnasium empfohlen. In diesem Jahr hatte er sich von Karl Müllenhoff, der mit einem Kreis junger Germanisten die Herausgabe des „Deutschen Heldenbuchs“ vorbereitete, für altgermanistische Themen interessieren lassen. Eine Frucht dieser Zusammenarbeit war dann der 1866 von Martin herausgegebene 2. Band des „Heldenbuchs“ (Alpharts Tod. Dietrichs Flucht. Rabenschlacht).
Aus seiner Tätigkeit an der Schule erwuchs die „Mittelhochdeutsche Grammatik und Glossar zu der Nibelunge Nôt“, später erweitert um den Wortschatz Walthers von der Vogelweide. Das beliebte kleine Buch erlebte bis 1906 13 Auflagen. Die mittelhochdeutsche Sprache und Literatur wurde nun zum Interessenschwerpunkt von Martin; ein erstes Zeugnis dafür waren die „Bemerkungen zur Kudrun“ (1867), welchen die Editionen des Kudrunepos 1872 und 1883 folgten. Martin blieb der Schule auch noch als Universitätslehrer verbunden; denn bis zu seinem Weggehen aus Freiburg unterrichtete er dort nebenbei an einem Mädcheninstitut. Im Kreis seiner Schülerinnen fand er seine zukünftige Frau. Seine Schul- und Hochschulerfahrungen gingen auch in seine Denkschrift über „Das historische Studium der neueren Sprachen und seine Bedeutung für den Schulunterricht zunächst in Baden“ von 1872 ein. Da Martin in Freiburg – wie später in Prag – neben Germanistik noch teilweise Romanistik und Anglistik mit vertreten hatte, galt sein Wort etwas, auch wenn es noch zwei Jahre dauerte, bis das von ihm 1872 beantragte Seminar für neuere Sprachen an der Universität Freiburg gegründet wurde. Im ebenfalls 1874 neu gegründeten Germanistischen Seminar an der Universität Prag machte Martin mit Unterstützung seines Mitdirektors Joh. Kelle kurz nach seinem Zuzug die Anglistik heimisch. Diese Aktivitäten im Lehrbereich, noch mehr aber seine Forschungen und Editionen zeigen die enorme Breite seiner Interessen: Über den in der Lehre hauptsächlich geforderten Bereich des Mittel- und Althochdeutschen hinaus edierte Martin 1869 und 1872 zwei altfranzösische Romane, beschäftigte sich mit den altfranzösischen und mittelniederländischen Textzeugen der Tiersage von Reinhard dem Fuchs, welche er kritisch untersuchte und – nach ausgedehnten Handschriftenstudien in London und Paris, in Italien und Holland – zwischen 1872 und 1889 in zum Teil mehrbändigen Ausgaben veröffentlichte. Gewichtige Anregungen für viele seiner wissenschaftlichen Forschungen gaben Martin die Orte und Landschaften seines Wirkens. So veröffentlichte er in seiner Freiburger Zeit in der „Zeitschrift der Gesellschaft für Beförderung der Geschichts-, Alterthums- und Volkskunde von Freiburg, dem Breisgau und den angrenzenden Landschaften“ eine ganze Reihe von zum Teil umfangreichen Untersuchungen literarischer und historischer Art, so z. B. über Erzherzogin Mechthild, Gemahlin Albrechts VI. von Österreich (1871) und damit zusammenhängend eine Textausgabe des an ihrem Hof wirkenden Hermann von Sachsenheim (1878) über „Die Zerstörung Breisachs durch die Franzosen 1793“ (1874), er edierte „Freiburger Passionsspiele des XVI. Jahrhunderts“ (1874) sowie im gleichen Jahr „Ungedruckte Briefe von und an Johann Georg Jacobi“, einen frühen Vorgänger als Freiburger Literaturprofessor. In Prag begründete er den Verein für die Geschichte der Deutschen in Böhmen und gab der Erforschung des landschaftlichen älteren Schrifttums durch die Schaffung der „Bibliothek der mittelhochdeutschen Literatur in Böhmen“ eine Heimat für eigene und Schülerarbeiten. Noch stärker zeigte sich dann die Einwurzelung in seine neue Heimat an den Themen seiner Straßburger Zeit. Mit „Goethe in Straßburg“ hatte schon vorausschauend ein ihm wichtiger Vortrag von 1871 angedeutet, was ihm an dieser speziellen Verbindung bedeutsam war. Die Edition von Goethes „Ephemerides und Volkslieder“ (1883) und besonders Martins Erinnerungsaktionen zum Gedenken Goethes, Friederike Brions, Herders und an dessen elsässische Frau Karoline Flachsland aus Reichenweier sind weitere Zeugnisse seines starken Interesses an den Verknüpfungen zwischen dem Elsaß und den Hauptvertretern der deutschen Klassik. Womöglich noch wichtiger wurde ihm die Erforschung der Geschichte des elsässischen Geisteslebens. Zwischen 1878 und 1888 brachte er, zusammen mit Erich Schmidt, „Elsässische Literaturdenkmäler aus dem XIV. bis XVII. Jahrhundert“ heraus, deren 4. Band die von ihm selbst besorgte Ausgabe „Ausgewählte Dichtungen“ (1887) von Wolfhart Spangenberg beinhaltete. Weitere Textausgaben galten Thomas Murners „Badenfahrt“ (1887), J. Georg Daniel Arnolds Mundartlustspiel „Der Pfingstmontag“ (1891) und seiner eigenen Übersetzung von Jacob Wimpfelings „Germania“ von 1501 mit Briefen von Geiler und Wimpfeling (1885).
Die von ihm initiierten Zeitschriftengründungen der „Straßburger Studien“ (1883-1888) und ihrer Fortsetzung, den „Alsatische[n] Studien“ (1891-1894), sollten kundigen Interessierten und seinen Schülern die Möglichkeit bieten, Forschungsergebnisse und bisher nicht edierte Texte vorzustellen. Breitere Wirkung erreichte Martin jedoch durch die 1884 vollzogene Gründung des Historisch-literarischen Zweigvereins des Vogesenklubs, welcher durch Vorträge und die Herausgabe des „Jahrbuchs für Geschichte, Sprache und Literatur Elsaß-Lothringens“ die Kenntnis hierüber fördern sollte. In den 26 von ihm zwischen 1884 und 1910 allein redigierten Bänden finden sich zahlreiche eigene Beiträge. Darunter gibt es z. B. Untersuchungen über elsässische Literatur zur Zeit Gottscheds, über Herder und Goethe in Straßburg, über Goethe als Lyriker, über Daniel Hirtz und Johann Friedrich Oberlin. Die Lebensbilder und Nachrufe für bedeutende elsässische Zeitgenossen (z. B. die Brüder August und Adolf Stöber, Karl August Barack, den früheren Donaueschinger und späteren Straßburger Bibliotheksdirektor) ergänzen die von ihm in der ADB veröffentlichten Würdigungen (z. B. von Otfrid, Thomas Murner, den Brüdern Pfeffel, von Ehrenfried Stöber und dessen beiden Söhnen). Die Beschäftigung mit elsässischer Literatur, auch mit Dialektliteratur, musste Martin folgerichtig zur Erforschung der elsässischen Mundarten führen. 1887 fasste er, zusammen mit seinem ehemaligen Schüler Hans Lienhart, den Plan, gemeinsam ein Elsässisches Wörterbuch zu erarbeiten. Der 1890 veröffentlichte Aufruf zur Mitarbeit mit einer „Anleitung zum Stoffsammeln für ein elsässisches Idiotikon“ fand ein starkes Echo und erbrachte in kurzer Zeit genügend Material für eine Ausarbeitung in knapper Form. Bereits 1899 und 1907 konnten die beiden Bearbeiter das „Wörterbuch der elsässischen Mundarten“ in zwei Bänden vorlegen. Das Werk ist nicht nur für das Elsaß selbst, sondern auch für die alemannischen und fränkischen Nachbarlandschaften von Bedeutung. Manche schwer erklärbaren Wörter wären im Badischen, Schweizerdeutschen oder Pfälzischen Wörterbuch ohne die Möglichkeit einer Referenz zum Elsässischen Wörterbuch nur mit Mühe deutbar. Das gilt besonders für manche aus dem Französischen stammenden Wörter und Wendungen. Gewissermaßen ein Nebenprodukt der Wörterbucharbeit stellt Martins dialektgeographischer Überblick über die Sprachverhältnisse im Elsaß dar.
Dass Martin über aller Beschäftigung mit elsässischer Sprache und Literatur seinen ursprünglichen Einstieg in die Germanistik, die Beschäftigung mit alt- und mittelhochdeutscher Literatur, nicht vergessen hat, zeigen u. a. die zweibändige Ausgabe von Wolfram von Eschenbachs Parzival und Titurel (1900, 1903), die Festrede von 1903 zum Geburtstag des Kaisers, über Wolfram von Eschenbach sowie „Der Versbau des Heliand und der altsächsischen Genesis“ (1907). Es war ihm nicht mehr vergönnt, seine umfangreichen Sammlungen und Vorarbeiten zu einer „Geschichte der deutschen Literatur im Elsaß“ zum Abschluss zu bringen. Schwere Krankheit und sein plötzlicher Tod, kein halbes Jahr nach seiner Emeritierung, verhinderten die Ausführung dieses Plans.
Nahestehende rühmten an ihm seine „Einfachheit, Bescheidenheit, Anspruchslosigkeit, im persönlichen Verkehr eine stets sich gleichbleibende Leutseligkeit und zuvorkommende Liebenswürdigkeit, ... die Lauterkeit und Vornehmheit seiner Gesinnung, ... seine aufrichtige Treue im kleinen wie im großen und seine strenge Wahrheits- und Gerechtigkeitsliebe“ (Hans Lienhart). Und sein befreundeter Kollege Edward Schröder beschreibt ihn als „in seinem innersten Wesen frei von Eigennutz und Eitelkeit“.
Quellen: UA Freiburg, Personalakten (dort irrtüml. geb. 15. statt 13. 4.) GLA Karlsruhe; Teilnachlass im DLA Marbach a. N.
Werke: (Auswahl, soweit nicht oben erwähnt) Examen critique des manuscrits du Roman de Renart, 1872; Reinaert. Willems Gedicht Van den vos Reinaerde, 1874; Das niederländische Volksbuch Reynaert de Vos nach der Antwerpener Ausgabe von 1564, 1876; Wilhelm Wackernagel, Geschichte d. dt. Litteratur. Ein Handbuch. 2. verm. u. verb. Aufl., 2 Bde., 1879 u. 1894; Zur Gralsage, 1880; Die Meistersänger von Strassburg, 1882; Le roman de Renart, 3 Bde., 1882-1887; Neue Fragmente des Gedichts Van den vos Reinaerde u. das Bruchstück Van Bere Wisselauwe, 1889; Sprachverhältnisse u. Mundarten im dt. Sprachgebiet von Elsaß-Lothringen, in: Das Reichsland Elsaß-Lothringen, 1898; Wörterbuch der elsässischen Mundarten, 2 Bde., 1899-1907, Nachdr. 1974; Die dt. Lexikographie im Elsass, in: FS zur 46. Versammlung dt. Philologen u. Schulmänner, 1901.
Nachweis: Bildnachweise: Foto in: Hans Lienhart, 1910 (vgl. Lit.).

Literatur: Hans Lienhart, E. Martin, Ein Gedenkblatt, in: Jb. für Geschichte, Sprache u. Literatur Elsaß-Lothringens 26, 1910, IV-XV; Edward Schröder, Martin, E., in: BJ 15, 1910, 78-83; Wendelin Toischer, E. Martin †, in: Mitt. des Vereins für Gesch. d. Deutschen in Böhmen 49, 1911, 269-277; Emma Spiecker, geb. Martin, Zur Erinnerung an Prof. Dr. E. Martin 1841-1910, in: Nachrichten des J. P. Martinschen Familienverbandes e.V., Mai 1930, (Sonderausg. in UB Freiburg unter C 346); Gerhard W. Baur, Martin, E., in: Internat. Germanistenlexikon 1800-1950, 2003, 1162-64.
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