Dahrendorf, Ralf Gustav 

Geburtsdatum/-ort: 01.05.1929; Hamburg
Sterbedatum/-ort: 17.06.2009; Köln
Beruf/Funktion:
  • Soziologe, Sozialphilosoph, Politiker, Journalist
Kurzbiografie: 1935–1947 Grundschule u. Gymnasium in Berlin u. Buckow;
1944 kurzzeit. Internierung im Lager Schwetig wegen Verfassens von Flugblättern gegen die Nationalsozialisten
1947–1952 Studium d. Philosophie u. d. klass. Philologie an d. Univ. Hamburg mit Abschluss Promotion zum Dr. phil: „Begriff des Gerechten im Denken von Karl Marx“, anschließend bis 1954 Soziologiestudien an d. London School of Economics mit Abschluss Ph. D.: „Unskilled Labour in British Industry“
1954–1956 Assistent an d. Univ. des Saarlandes in Saarbrücken; 1956 Habilitation: „Soziale Klassen u. Klassenkonflikt in d. industriellen Gesellschaft“
1957–1958 Center of advanced Study and Behavioral Sciences an d. Stanford-Universität, Palo Alto, USA
1958–1960 Professor d. Soziologie in Hamburg
1960–1966 Gastprofessor in den USA, Professor d. Soziologie in Tübingen
1966–1969 Professor d. Soziologie in Konstanz
1967–1988 Mitglied d. FDP, 1968 im Bundesvorstand;1968 bis 1969 MdL Baden-Württemberg, 1969 bis 1970 MdB, Parlamentar. Staatssekretär im Auswärtigen Amt; dann bis 1974 Mitglied d. Europ. Kommission in Brüssel; 1982 bis 1987 Vorstandsvorsitzender d. Friedrich-Naumann-Stiftung
1967–1970 Vorsitzender d. dt Gesellschaft für Soziologie
1974–1984 Rektor d. London School of Economics
1984–1986 Professor für Soziologie in Konstanz
1987–1997 Rekord des St. Antony’s College u. Prorektor d. Univ. Oxford
1988 Eintritt bei den Liberal Democrats in Großbritannien; 1998 Annahme d. brit. Staatsbürgerschaft neben der deutschen; 1993 Mitglied des House of Lords des britischen Parlaments
2005–2009 Forschungsprofessur am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung
2008–2009 Vorsitzender d. Zukunftskommission d. Landesregierung Nordrhein-Westfalen
Weitere Angaben zur Person: Religion: konfessionslos
Auszeichnungen: Ehrungen (Auszug): Mehr als 25 internationale Ehrendoktorwürden; Knight Commander of the Order of the British Empire (1982); Großes Bundesverdienstkreuz mit Stern und Schulterband der Bundesrepublik Deutschland (1989); Siegmund Freud Preis für wissenschaftl. Prosa (1989); Baron of Clare Market in the City of Westminister (1993); Theodor-Heuss-Preis für sein Lebenswerk (1997); Verdienstmedaille des Landes Baden-Württemberg (1999); Ehrensenator d. Univ. Hamburg (1999); Großkreuz des Verdienstordens der Italienischen Republik (2002); Orden Pour le Mérite (2003);Walter-Hallstein-Preis u. Prinzvon-Asturien-Preis für Sozialwissenschaften (2007); Schader-Preis für Gesellschaftswissenschaftler (2009).
Verheiratet: I. 1954 Vera, geb. Bannister (1930–1981);
II. 1980 Ellen, geb. Krug (geboren 1938); Dr phil., jüd., Historikerin u. Übersetzerin;
III. 2004 Christiane, geb. Klebs (geboren 1952), Dr. med., Fachärztin für psychoanalyt. Medizin in Köln
Eltern: Vater: Gustav (1901–1954) Kaufmann, Journalist, MdR-SPD
Mutter: Lina (1902–1980), geb. Witt, Sekretärin
Geschwister: Frank Herbert (1934–2013) Rechtsanwalt u. SPD-.Politiker, Innensenator in Berlin, Justizsenator in Hamburg
Kinder: 3 aus I.; Nicola (geboren 1959), Alexandra (geboren 1964) u. Daphne (geboren 1970)
GND-ID: GND/118678612

Biografie: Thomas Hauser (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 6 (2016), 62-67

Kann man einen Weltbürger für ein Bundesland reklamieren? Wenn man teilen kann und zufrieden damit ist, dass es ihm Bühne, Kulisse und Rückzugsort über Jahrzehnte gewesen ist. Denn Dahrendorf sprengte alle Grenzen. Er, der wie kaum ein anderer die Dinge auf den Punkt zu bringen wusste, entzieht sich jeder Einordnung. Der Begriff Weltbürger würde noch am ehesten passen. Aber auch diese Bezeichnung wäre auf seinen Widerspruch gestoßen, setzte er doch voraus, dass es so etwas wie eine Weltgemeinschaft gäbe. Die aber konnte der Sozialwissenschaftler Dahrendorf bei seiner Beobachtung der Wirklichkeit nicht erkennen, auch wenn der Sozialphilosoph in ihm allgemeine Werte und Regeln durchaus für erstrebenswert hielt, vor allem dann, wenn es die Werte der Freiheit sind. Denn ein Liberaler war Dahrendorf gewiss, auch wenn er mit der FDP als Partei der organisierten Liberalität am Ende seines Lebens lediglich noch über die Friedrich-Naumann-Stiftung verbunden war, der er vorstand.
Wer Dahrendorf auf die Spur kommen will, muss sich auf seine Lebenserinnerungen einlassen. Programmatisch ist da nicht nur der Titel „Über Grenzen“. Wichtiger fast noch ist der erste Satz: „Manchmal kommt es mir vor, als ob jeder von uns ein bestimmtes Alter zeitlebens mit sich herumträgt.“ (ebd. S. 11) Dahrendorf wurde 80. Jahre alt. In Wahrheit, so vertraute er uns an, sei er immer 28 gewesen. Als Erklärung dafür zitierte er Ingeborg Bachmann: „Denn bisher hatte er einfach von einem Tag zum anderen gelebt, hat jeden Tag etwas anderes versucht und ist ohne Arg gewesen. Er hat so viele Möglichkeiten für sich gesehen und er hat, zum Beispiel, daran gedacht, dass er alles Mögliche werden könne“ (ebd S. 11f.).
Dahrendorf ist alles Mögliche geworden. Wissenschaftler, Politiker, Journalist, Berater. Seine liebste Rolle fand er bei Goethe beschrieben: „Prophete rechts, Prophete links, das Weltkind in der Mitten“ (ebd. S 188).
Am Anfang dieser beispiellosen Biografie spielt Baden-Württemberg noch keine Rolle. Geboren wurde er in Hamburg als ältester Sohn des Kaufmanns Gustav Dahrendorf, der zehn Jahre zuvor aus politischen Gründen seinen Arbeitsplatz verloren hatte und danach in der SPD Karriere machte, erst in Hamburg, dann, von 1932 an, als Reichstagsabgeordneter in Berlin. Nach der Ablehnung des Ermächtigungsgesetzes durch die SPD wurde auch Gustav Dahrendorf kurzzeitig inhaftiert und verließ danach mit seiner Familie Hamburg Richtung Berlin.
Dahrendorf wurde also von klein auf politisch sozialisiert. Seine anglophile Neigung dürfte er früh von seiner Mutter aufgesogen haben, die als Sekretärin im Stinnes-Imperium arbeitete, bevor sie sich der Erziehung ihrer Kinder widmete. Im Hause Dahrendorf in Berlin, wo sich der Vater während der NS-Zeit als Kohlenhändler über Wasser hielt, gingen führende Sozialdemokraten aus und ein, wurde auch viel über den Sturz des Regimes diskutiert. Er war insbesondere mit dem Widerstandskämpfer Julius Leber (1891–1945) befreundet. Nach dem Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 geriet auch Gustav Dahrendorf ins Visier der Gestapo, wurde verhaftet und zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilt. Auch der inzwischen 15-jährige Sohn wurde im November 1944 ins Lager Schwetig/Swieko an der Oder gesteckt, aus dem er Ende Januar 1945 entlassen wurde, kurz vor dem Anrücken der Russen.
Als er 28 Jahre alt war, war der Krieg schon einige Jahre zu Ende und Dahrendorf hatte nach der Befreiung in seiner Geburtsstadt Hamburg Philosophie und Altphilologie studiert, mit 23 seinen ersten Doktortitel erarbeitet und danach an der London School of Economics and Political Science einen PhD in Soziologie angeschlossen. 1957 wurde er an der Universität des damals selbstständigen Saarlandes habilitiert und forschte wenig später im kalifornischen Palo Alto zusammen mit einer ganzen Reihe akademischer Himmelsstürmer wie Milton Friedmann, Georg Stigler, Kenneth Arrow, Robert Solow und Fritz Stern.
An der Grenze zwischen Deutschland und Frankreich wie in den USA stand dem jungen Soziologen die Welt offen, privat und beruflich. Seine Habilitationsschrift „Soziale Klassen und Klassenkonflikt in der industriellen Gesellschaft“ wurde bald zum Klassiker. Und vor der Fakultät in Saarbrücken hielt er einen Vortrag darüber, wie es gelingen könne, die wertfreie Sozialwissenschaft mit praktischer, auf Werturteile gestützter Politik zu verbinden ohne die Unterschiede zu verwischen. Was da sehr akademisch klingt, war die Handlungsanleitung zu Dahrendorfs Lebensthema: Er zeigte, dass es möglich ist, zwischen Theorie und Praxis zu wechseln und auch wieder zurück, ohne die Unterschiede zu verwischen, und dass man auch rittlings auf der Grenze von Sozialwissenschaft und Werturteil sitzen kann, zum Beispiel als politischer Berater. Diesem Thema widmete er sich auch in seiner wahrscheinlich letzten öffentlichen Rede anlässlich der Verleihung des Schader-Preises wenige Tage vor seinem Tod.
Dahrendorf hat von dieser Erkenntnis ausgiebig Gebrauch gemacht, obschon er zunächst an seiner Karriere als Wissenschaftler feilte. In den USA hat er nicht nur den „Homo sociologicus“ geschrieben, eine Pflichtlektüre für angehende Sozialwissenschaftler in Sachen Rollentheorie, sondern mit dem Historiker Fritz Stern auch einen seiner besten Freunde kennengelernt. Danach lehrte und forschte er als Professor an der Hochschule für Gemeinwirtschaft in Hamburg.
Erste Kontakte zu Baden-Württemberg hatte es auch schon gegeben. Zum Beispiel über eine Tübinger Freundin 1950, beim Besuch von Kloster Beuron, wo er, wie er später schwärmte, bei Pater Bonifatius (Fischer), einem Vulgata-Übersetzer, sein Wunschbild eines akademischen Arbeitsplatzes besichtigte. Er arbeitete an sechs Schreibtischen: Auf dem einen lagen die lateinischen Ausgangstexte, auf dem zweiten seine Übersetzung, andere waren für die Sekundärliteratur, die persönliche Bibellektüre und Nebenbeschäftigungen gedacht. Auf sein Klingelzeichen hin kam Bruder Drucker herein, der sich gleich an den Satz der eben fertiggestellten Seite machte und später mit den Korrekturfahnen zurückkam. Diesen Arbeitsplatz habe er seitdem wenigstens annähernd zu kopieren versucht, erinnert sich Dahrendorf in seinem Rückblick „Über Grenzen“, allerdings ohne den dienstfertigen Bruder Drucker nebenan. In Heidelberg war er beim Deutschen Soziologentag 1954, wo er unter anderen auch den späteren Freiburger Soziologen Heinrich Popitz (1925–2002) traf. Interessant dort, dass fast alle, die nach 1945 die deutsche Soziologie prägten, dieses Fach nicht explizit studiert hatten.
Dass Dahrendorf von 1960 an für fast ein Jahrzehnt seinen Lebensmittelpunkt ins Land verlegte, hatte viel mit Ernst Zinn (1910–1990) zu tun, bei dem er in Hamburg studierte hatte und den er, neben dem Philosophen Josef König (1893–1974), seinen akademischen Lehrer nannte. Zinn lehrte inzwischen in Tübingen. Er hatte Dahrendorf schon zuvor zu einer Assistentenstelle in Saarbrücken verholfen, nachdem dieser 1954 Hals über Kopf das Frankfurter Institut für Sozialforschung verlassen hatte, wo er gar nicht zurechtkam. Als an der Eberhard-Karls-Universität in Tübingen 1960 eine Professur für Soziologie geschaffen wurde, nahm Dahrendorf den Ruf an. Dort entstand auch das „Dahrendorf-Häuschen“, mit dem der Soziologe sein Schichtenmodell für Deutschland erklärte und das er 1965 in seinem Buch „Gesellschaft und Demokratie in Deutschland“ vorstellte.
Einen Einblick über das Leben des jungen Professors in der kleinen Stadt am Neckar gibt Dahrendorf in seiner Rede beim Symposium des Stuttgarter Wissenschaftsministeriums am 3. Februar 2009, wenn er erzählt, wie er der „sagenumwobenen“ Hochschulreferentin, Regierungsdirektorin Hofmann, ein Sofa für sein Arbeitszimmer abschwätzte. Es sei notwendig gewesen, weil der Tübinger Professor in „jenen Muße-reicheren Zeiten“ mit seinen Assistenten noch mittags in die „Neckarmüllerei“ gegangen sei und es dort nicht immer beim ersten Viertele blieb. Dass er wenig später im Stuttgarter Ministerium ein und aus ging, hatte freilich weniger mit Beschaffungswünschen zu tun, als mit der Bildungspolitik, die ihm Zeit seines Lebens ein Anliegen war. Hierüber fand er auch seine Anknüpfungspunkte an die Politik. Schon kurz nach dem Krieg engagierte sich Dahrendorf im Hamburger SDS dafür, mehr Arbeiterkinder – auch ohne Abitur – an die Universitäten zu lassen. Seine zweite, englische, Dissertation befasste sich mit der Entwicklung ungelernter Industriearbeiter und seine Schrift „Bürgerrecht auf Bildung“ stand dann in den 1960er-Jahren gegen Georg Pichts „Bildungskatastrophe“, die aus ökonomischen Gründen verstärkte Investitionen in die Hochschulen forderte.
Dahrendorf aber ging es um Chancengerechtigkeit. Im Frühjahr 1964 hielt er in Tübingen eine Immatrikulationsrede über Arbeiterkinder an deutschen Universitäten mit der Hauptthese, dass ihr geringer Anteil auf etwas beruhe, was man heute Bildungsferne nennt. Benachteiligt seien insbesondere auch Jungen und Mädchen vom Land. Am Ende seines Lebens fand er dann noch einmal zu diesem Thema zurück. In der kurz vor seinem Tode erschienenen Zukunftsstudie für Nordrhein-Westfalen mahnte er die Bildungschancen von Migranten oder Kindern aus bildungsfernen Milieus an.
Der damalige Ministerpräsident Kurt Georg Kiesinger reagierte auf Dahrendorfs Tübinger Vortrag in seiner Regierungserklärung am 25. Juni 1964 mit einem Aktionsplan. Junge Leute organisierten die Initiative „Student auf’s Land“, die Bildungswerbung betrieb. Im Kultusministerium wurden von Minister Wilhelm Hahn und dem, so Dahrendorf, unermüdlichen Spitzenbeamten Piazolo (1926–2000) ein Beirat eingerichtet und eine effektive Planungsabteilung. Dahrendorf selbst zog eine Zeitlang ins Ministerium, um am Gesamtplan für die Hochschulen des Landes zu arbeiten.
Später erarbeitete er als stellvertretender Vorsitzender des Gründungsausschusses auch wesentliche Teile des Gründungsberichts der Reformuniversität Konstanz, die 1966 als „Klein-Harvard am Bodensee“ in einem Trakt des heutigen Inselhotels ihren Betrieb aufnahm. Der heutige Campus der Reformuniversität entstand von 1967 an. Dahrendorf gehörte zu den Gründungsprofessoren. Dass die Hochschullandschaft damals wie heute in einem unauflösbaren Dilemma steht zwischen Entlastungsuniversität für die Massengesellschaft und Forschungsuniversität für die Elite, hat er hingenommen. Später, von 1984 bis 1986, lehrte Dahrendorf dann noch einmal an der Konstanzer Universität.
Politisch war Dahrendorf quasi von Kindesbeinen, in den 1960er-Jahren aber wurde der Drang zum Grenzübertritt übermächtig. Er wollte Politik machen, nicht in der SPD, der er nach dem Krieg bis 1952 angehört hatte und die er 1960 aufforderte, sich zu einer großen liberalen Partei zu entwickeln, auch nicht beim SDS, dem er als Student beigetreten war, sondern bei den Liberalen. Er sei, so bekannte er später, Anfang der 1950er-Jahre als Sozialist nach England gegangen und von dort als Liberaler zurückgekehrt. 1955 erwog er, im Saarland eine proeuropäische liberale Partei zu gründen. Eine Kandidatur für den Tübinger Gemeinderat über eine FDP-Liste scheiterte zwar, aber 1967 begann die Zeit der Umbrüche, auch in der FDP. Und Dahrendorf gehörte mit Karl-Hermann Flach (1929–1973) zu jenen, die Erich Mende (1916–1998) und seine Altliberalen aus dem Amt jagten, um die sozialliberale Ära zu begründen, wobei sozial für den Liberalen Dahrendorf weniger Verteilungs- als Chancengerechtigkeit bedeutete. Aber Dahrendorf war ein Mann der Ideen und Worte, nicht der Apparate, auch wenn er wiederholt Bürokratien vorstand. Unvergessen seine Diskussion mit dem Studentenführer Rudi Dutschke (1940–1979) auf dem Freiburger Messplatz 1968 am Rande des Bundesparteitages der Liberalen. Walter Scheel, der damalige Bundesvorsitzende, und andere Spitzenliberale waren dieser Konfrontation aus dem Weg gegangen. Dahrendorf stellte sich.
Seine Tätigkeit als Abgeordneter im Stuttgarter Landtag währte dagegen nur kurz: von 1968 bis 1969. Auch in Bonn hielt es ihn nicht lange, weder im Bundestag noch als Staatssekretär in der ersten Regierung Willy Brandt, wieder zwei Jahre, von 1969 bis 1970. Seine Lust auf aktive Politik endete mit seiner Zeit als Kommissar für Außenbeziehungen und Außenhandel in der Europäischen Union. Dieses Amt hatte er von 1970 bis 1974 inne. Aus dieser Zeit stammte wohl auch seine Abneigung gegen die EU-Bürokratie. Europa ohne Brüssel war für ihn eine gern gehegte Vision. Seinen Frust über die Verhältnisse in Brüssel hat er sich unter dem Pseudonym Wieland Europa in der Wochenzeitung „Die Zeit“ von der Leber geschrieben.
Nicht nur in seiner Abneigung gegenüber der Europäischen Bürokratie war er ganz Brite. Die vielen Jahre als Rektor der London School of Economics, von 1974 bis 1984 und Warden des St. Antonys College in Oxford, 1987 bis 1997, von 1991 bis 1997 war er zudem Prorektor der Universität Oxford, haben aus der ohnehin vorhandenen Anlage das Musterbeispiel eines britischen Gentleman wachsen lassen, klassisch konservativ in Kleidung und Auftreten, liberal im Denken, unerschrocken und mit trockenem Humor. 1988 wurde er auch formal britischer Staatsbürger; die deutsche Staatsbürgerschaft behielt er. Als ihn die Königin 1993 adelte und ihn damit auch zum Mitglied des britischen Oberhauses machte, ließ er sich den Titel Lord of Clare Market in the City of Westminister geben. Clare Market ist ein Platz in der Nähe der London School of Economics. Genutzt wird er vor allem als Parkplatz.
London, wo er seit den 1950er-Jahren immer wieder lebte, war seine Stadt, noch vor Berlin, wo es ihn vor allem gegen Ende seines Lebens verstärkt hinzog und wo er zuletzt eine Forschungsprofessur am Wissenschaftszentrum innehatte. Dazu kam Köln, dort lebte er mit seiner dritten Frau und starb auch. In der britischen Hauptstadt und im dortigen Oberhaus atmete er die Tradition und Weltläufigkeit, die ihn aufblühen ließ. Regelmäßig zog es ihn aber auch nach Bonndorf-Holzschlag im Schwarzwald, wo er seit 1983 ein Haus besaß und eine Freundschaft mit dem 1992 bei einem Flugzeugabsturz tödlich verunglückten Bürgermeister Peter Folkerts, einem Bruder des RAF-Terroristen Knut Folkerts, pflegte. Hier tankte er die Bodenständigkeit und Nähe, die der Sozialwissenschaftler für seinen Blick auf die Wirklichkeit brauchte. Ob das die späten Folgen der Gemeindereform Mitte der 1970er-Jahre waren oder die Einführung des Euro, wo er sich in die Schalterhalle der Bonndorfer Sparkasse setzte um die Reaktionen der Bürgerinnen und Bürger zu lauschen. Dahrendorf hat Glokalisierung gelebt, also die Symbiose von global und lokal, als dieser Begriff noch lange nicht erfunden war.
Nicht nur von hier fand er auch immer wieder den Weg zur Badischen Zeitung. Der Freund von Verleger Christian Hodeige, der an der London School of Economics and Political Sience bei ihm studiert hatte, war in den letzten 12 Jahren seines Lebens ein väterlicher Freund der Redaktion und regelmäßiger Autor von Leitartikeln. Die Themenpalette war vielfältig. So schrieb er 2004 „Nicht nur Erinnerung“ zum 60. Jahrestag des D-Days, schon 2005 über die „Unvollkommene Globalisierung“, 2008 über die „Bildungsrepublik Deutschland“ oder „Embryonen sind keine Menschen“. Zuletzt 2008 beschäftigte er sich mit dem „Pumpkapitalismus“ und 2009 mit dem Verhältnis von Politik und Bürgern „Apathie und Volkszorn“. Ungern schrieb er nur über die FDP und über Israel.
Zu den Zeitungen hat es ihn Zeit seines Lebens hingezogen. Nicht nur, weil er immer ein Zeitungsleser war, wie er 2003 auf dem Forum Lokaljournalismus der Bundeszentrale für politische Bildung in Freiburg bekannte. Mit Journalismus hat er nach dem Krieg beim Nordwestdeutschen Rundfunk in Hamburg seine berufliche Laufbahn begonnen. Journalist blieb er bis zu seinem Tod. Er zählte zu den Mitbegründern der britischen Zeitung „The Intependent“ und war über Jahrzehnte regelmäßiger Autor der Hamburger Wochenzeitung „Die Zeit“. Als Leitartikler, Kolumnist und Analyst war er in unzähligen Zeitungen und Zeitschriften auf der ganzen Welt präsent. Seine Bücher füllen Bibliotheken, sein Büchernachlass wurde von seiner Witwe Christiane 2010 der Universitäts- und Landesbibliothek Bonn übergeben.
Auch sein Rat war weltweit gefragt. Die Anfragen für Vorträge, die Mitarbeit in Kommissionen und Gremien war Legion, die Ehrungen häuften sich. Mehr als 25 Ehrendoktortitel wurden ihm zum Beispiel verliehen. Dahrendorf genoss dies, auch wenn es ihm gelegentlich über den Kopf wuchs. Ruhestand war für ihn keine Option. So lange er arbeitete, lebte er. Auch wenn er durchaus das Leben zu genießen wusste, eigen und selbstbewusst. Und mit britischem Understatement, der liebenswürdigsten Form der Eitelkeit. In seinen Lebenserinnerungen zum Beispiel hat er einen Großteil seiner einzigartigen Karriere schlicht unterschlagen. Wenn es der Rede wert sein sollte, so begründete er dieses Vorgehen, wird vielleicht einmal jemand darüber reden.
Dahrendorf war ein Verfechter des politischen Liberalismus. Den freilich sah er durch die Zerstörungen der Ligaturen gefährdet, der Bindungen und Rituale also. Wirtschaftspolitisch war er ordoliberal wie die Freiburger Schule, er betonte jedoch auch den Stellenwert der Chancengleichheit und der Sozialpolitik. Dem Konzept eines Grundeinkommens stand er nicht fern.
Bis in seine letzten Lebenstage war Dahrendorf aktiv und voller Pläne. Seinen 80. Geburtstag hatte er, von seiner Krankheit schon gezeichnet, inmitten akademischer Freunde in Oxford verbracht. Mit Jürgen Habermaas, Fritz Stern, Antony Giddens, Timothy Gordon Ash und anderen hatte er dort über die Freiheit diskutiert. Wenige Tage später war er auf Einladung der liberalen Friedrich-Naumann-Stiftung in Berlin. Und am Tag darauf nahm er in Darmstadt den Schader-Preis entgegen. Mit ihm werden Gesellschaftswissenschaftler für ihren Beitrag zur Lösung aktueller gesellschaftlicher Probleme ausgezeichnet. Es sollte sein letzter öffentlicher Auftritt werden.
In seiner Dankesrede reflektierte er noch einmal sein Lebensthema: Die Verantwortung des Wissenschaftlers als Grenzgänger zwischen Geist und Tat. Er brachte auf den Punkt, was diesen Weltbürger im Laufe seiner 80 Jahre vorangebracht hat: von der Jugend in Opposition zum Nationalsozialismus über Studium und Wissenschaft in die Politik und zurück in Forschung, Lehre und Publizistik. Er wollte den Dingen auf den Grund gehen. Und er konnte die Dinge auf den Punkt bringen, was ihn zu einem gefragten Gesprächspartner und Ratgeber machte. Vor allem aber war er ein Intellektueller, der sich einmischte. In einer Zeit, in der Geist mit Politik eher nichts zu tun haben will, gibt es davon nicht viele in Deutschland, auch wenn Menschen wie er angesichts der tiefgreifenden gesellschaftlichen Umbrüche zur Orientierungssuche dringend gebraucht werden: Scharfzüngig und direkt, ohne zu verletzen, grenzenlos neugierig und undogmatisch, aber strukturiert und präzise im Denken. Dahrendorf, der dreimal verheiratet und Vater dreier Kinder war, starb wenige Tage nach seinem 80. Geburtstag in Köln. Am liebsten hätte er seine Asche in London in die Themse streuen lassen, doch bestattet wurde seine Urne auf dem Friedhof Ohlsdorf seiner Geburtsstadt Hamburg.
Der Soziologe, Sozialphilosoph, Politiker und Autor hinterlässt nicht nur seine Schriften sondern auch eine Schrift. Zu seinem 80. Geburtstag ließ das Wissenschaftszentrum Berlin beim typografischen Gestalter Stefan Huber in Zürich eine Schrift entwickeln, die nun auf allen Medien des Wissenschaftszentrums verwendet wird. Für Stefan Huber zeichnet sich die Schrift, so heißt es in einer Broschüre des WZB, durch Zurückhaltung aus, ist aber auch dynamisch. Die Schrift sei klassisch gehalten, aber eigenwillig und charakterstark. Sie könne im 21. Jahrhundert bestehen. Das WZB hat dieser Schrift den Namen Dahrendorf gegeben.
Werke: Marx in Perspektive. Der Begriff des Gerechten im Denken von Karl Marx. 1953; Industrie- u. Betriebssoziologie, 1956; Soziale Klassen u. Klassenkonflikt in d. industriellen Gesellschaft, 1957; Homo Sociologicus. Ein Versuch zur Geschichte, Bedeutung u. Kritik d. Kategorie d. sozialen Rolle, 1958, 16. Aufl. 2006; Sozialstruktur des Betriebes, 1959; Über den Ursprung d. Ungleichheit unter den Menschen, 1966; Gesellschaft u. Freiheit. Zur soziologischen Analyse d. Gegenwart, 1961; Die angewandte Aufklärung. Gesellschaft u. Soziologie in Amerika, 1962; Das Mitbestimmungsproblem in d. dt. Sozialforschung. Eine Kritik, 1963; Bildung ist Bürgerrecht. Plädoyer für eine aktive Bildungspolitik, 1965; Gesellschaft u. Demokratie in Deutschland, 1965; Konflikt u. Freiheit. Auf dem Weg zur Dienstklassengesellschaft, 1972; Pfade aus Utopia. Arbeiten zur Theorie u. Methode d. Soziologie, 1974; Lebenschancen. Anläufe zur sozialen u. polit. Theorie, 1979; Die neue Freiheit. Überleben u. Gerechtigkeit in einer veränderten Welt, 1980; Die Chancen d. Krise. Über die Zukunft des Liberalismus, 1983; Reisen nach innen u. außen. Aspekte d. Zeit, 1986; Zukunft d. Arbeit, 1986; Fragmente eines neuen Liberalismus, 1987; Grenzen d. Sozialwissenschaften. 1988; Betrachtungen über die Revolution in Europa, 1990; Der moderne soziale Konflikt. Essay zur Politik d. Freiheit, 1992; Liberale u. andere: Portraits, 1994; Gesellschaft, Demokratie u. Lebenschancen, 1994; LSE. A History of the London School of Economics and Political Science, 1895–1995, 1995; Europäisches Tagebuch, 1995; Die Zukunft des Wohlfahrtsstaats, 1996; Ein neuer dritter Weg?, 1999, Liberal u. unabhängig. Gerd Bucerius u. seine Zeit, 2000; Über Grenzen. Lebenserinnerungen, 2002; Auf d. Suche nach einer neuen Ordnung. Vorlesungen zur Politik d. Freiheit im 21. Jh., 2003; Die Krisen d. Demokratie. Ein Gespräch (geführt mit dem ital. Journalisten Antonio Polito), 2003; Der Wiederbeginn d. Geschichte: vom Fall d. Mauer zum Krieg im Irak; Reden u. Aufsätze, 2004; Engagierte Beobachter. Die Intellektuellen u. die Versuchung d. Zeit, 2005; Versuchungen d. Unfreiheit. Die Intellektuellen in Zeiten d. Prüfung, 2006; Gründungsideen u. Entwicklungserfolge d. Universität. Zum 40. Jahrestag d. Gründung d. Univ. Konstanz, 2007; (mit Kurt Biedenkopf u. a.) Klimawandel u. Grundeinkommen. Die nicht zufällige Gleichzeitigkeit beider Themen u. ein sozialökologisches Experiment, 2008.
Nachweis: Bildnachweise: Foto in Baden-Württembergische Biographien 6 (2016), S. 61, Bronze von Bertrand Freiesleben (2007) aufgestellt im Foyer d. BZ, Freiburg. Foto des Künstlers mit dessen Genehmigung. – Der Zeitungsmensch, 2010, Umschlag.

Literatur: Jürgen Habermas, Jahrgang 1929. Oxforder Rede zum 80. Geburtstag von, in: FAZ vom 2.5.2009, 35; Jens Alber, In Memomriam Ralf Dahrendorf, in: Soziologie, Jg.38, H. 4, 2009, 465-475; Jürgen Kocka, Ralf Dahrendorf in historischer Perspektive, in: Geschichte u. Gesellschaft, Bd. 35, 2009, 346-352; Thomas Hauser/Christian Hodeige (Hg.), Der Zeitungsmensch. Auf den Spuren von Ralf Dahrendorf in Südbaden, 2010.
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