Anschütz, Gerhard 

Geburtsdatum/-ort: 10.01.1867; Halle an der Saale
Sterbedatum/-ort: 14.04.1948;  Heidelberg
Beruf/Funktion:
  • Staatsrechtslehrer
Kurzbiografie: 1889 Nach dem Studium der Rechtswissenschaft in Leipzig, Genf, Berlin und Halle Referendarprüfung in Halle
1891 Promotion zum Dr. iur. bei Edgar Loening in Halle
1894 Zweites juristisches Examen, danach Tätigkeit als Regierungsassessor im preußischen Staatsdienst (Merseburg und Stettin)
1896 Habilitation in Berlin
1899 Berufung nach Tübingen
1900 Berufung nach Heidelberg
1903 Erstmals Dekan der juristischen Fakultät (bei insgesamt fünf Heidelberger Dekanaten)
1908 Berufung nach Berlin
1916 Rückkehr nach Heidelberg
1922/23 Rektor der Ruperto Carola
1933 Emeritierung auf eigenen Wunsch
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev.
Verheiratet: Elisabeth, geb. Herold
Eltern: Vater: August Anschütz, Rechtslehrer (1826-1874)
Mutter: Anna, geb. Volkmann (1832-1901)
Geschwister: 1 Bruder, Willy, Chirurg in Kiel
Kinder: 3:
August Wilhelm Theodor (gefallen 1917)
Hans Gerhard (gest. 1980)
Liselotte
GND-ID: GND/119091259

Biografie: Adolf Laufs (Autor)
Aus: Badische Biographien NF 3 (1990), 6-8

Der berühmte Heidelberger Professor, Geheime Justizrat und Badische Geheime Hofrat Dr. iur. Dr. rer. pol. h. c. Anschütz entstammte einer Hallenser Professorenfamilie. Nach rechtswissenschaftlichem Studium zu Leipzig, Genf, Berlin und Halle, den beiden juristischen Staatsexamen und der Promotion trat er als Regierungsassessor in den preußischen Staatsdienst ein. Die Berliner Habilitation eröffnete eine glanzvolle wissenschaftliche Karriere, die den jungen Rechtsgelehrten über Professuren in Tübingen, Heidelberg und Berlin wieder zurück nach Heidelberg führte, das ihm nun endgültig zur zweiten, auch in den Lebenserinnerungen gepriesenen Heimat wurde. Hier lehrte er Staatsrecht, Verwaltungsrecht, Kirchenrecht und deutsche Rechtsgeschichte. In schwerer Zeit 1922/23 amtete er als Rektor der Ruperto Carola. Der entschiedene Verfechter des demokratischen Rechtsstaats und führende Kommentator der Weimarer Reichsverfassung wollte seinen Dienst nicht im Zeichen des Hakenkreuzes tun. Darum ließ er sich emeritieren. In dem Gesuch vom März 1933 stehen die Sätze: „Aufgabe des Staatsrechtslehrers ist nicht nur, den Studierenden die Kenntnis des deutschen Staatsrechts zu übermitteln, sondern auch, die Studierenden im Sinn und Geist der geltenden Staatsordnung zu erziehen. Hierzu ist ein hoher Grad innerlicher Verbundenheit des Dozenten mit der Staatsordnung nötig. Die mir obliegende Pflicht zur Aufrichtigkeit fordert von mir, zu bekennen, daß ich diese Verbundenheit mit dem jetzt im Werden begriffenen neuen deutschen Staatsrecht zur Zeit nicht aufbringen kann. Dabei will ich anerkennen, daß dieses neue Staatsrecht in einigen Punkten, wie insbesondere die unbedingte Überordnung des Reichs über die Länder und die tunlichst unitarische Gestaltung des Verhältnisses zwischen Reich und Ländern Ziele verfolgt, die ich auch meinerseits stets vertreten habe“.
Die vielbeachtete Hallenser Dissertation (1891, 2. Auflage 1913): „Kritische Studien zum Begriff des Rechtssatzes und des materiellen Gesetzes“ eröffnete eine Reihe von Monographien, die mit der Schrift über den Begriff der gesetzgebenden Gewalt und den Umfang der königlichen Verordnungskompetenz nach preußischem Staatsrecht ihren Höhepunkt erreichte. Anschütz sprach dem Monarchen das Recht ab, seine Untertanen aus eigener Hoheitsgewalt normativ zu berechtigen oder zu verpflichten, womit er an die Wurzel des monarchischen Prinzips rührte. Die Habilitationsschrift galt einem wichtig gebliebenen Thema, dem „Ersatzanspruch aus Vermögensbeschädigungen durch rechtmäßige Handhabung der Staatsgewalt“. Diese wie andere Abhandlungen zeigen den historischen Sinn des Autors, auch seine Verbundenheit mit der preußischen Verfassungs- oder Verwaltungsgeschichte. Als seine liebste Publikation bezeichnete Anschütz im Rückblick die Schrift über das preußisch-deutsche Problem, in der er vorschlug, der Reichsleitung möglichst weitgehenden Einfluß auf Preußen zu verschaffen.
In den ersten Heidelberger Jahren übernahm Anschütz eine Aufgabe, die zu einem Meisterwerk führte, zur Darstellung des deutschen Staatsrechts in der Holtzendorff-Kohlerschen Enzyklopädie der Rechtswissenschaft. Als Nachfolger Georg Meyers in Heidelberg setzte er dessen Lebensarbeit, die Gesamtdarstellung des deutschen Staatsrechts, fort – als „Meyer-Anschütz“ ein Standardwerk. Mit seinem Erläuterungsbuch zur preußischen Verfassung hat Anschütz die Staatsrechtswissenschaft um eine neue literarische Kategorie: den wissenschaftlichen Verfassungskommentar, bereichert, als deren Prototyp dieses Werk von 1912 gelten kann. „Es war der Staat, es waren das Reich und Preußen, denen er anhing und deren Ausstrahlungen seinen Geist beflügelten“! wie Ernst Forsthoff betonte. Hohe Autorität gewann auch die große wissenschaftliche Leistung des Kommentarwerks zur Weimarer Reichsverfassung, dessen 14. Auflage noch kurz nach dem Verhängnis der Hitlerschen Machtergreifung herauskam.
Als Produkt Heidelberger Zusammenwirkens mit Richard Thoma entstanden die beiden gewichtigen Bände des „Handbuchs des Deutschen Staatsrechts“. Mit dem Fakultätskollegen verband Anschütz „auch eine weitgehende Gleichartigkeit der politischen Stellung und Gesinnung“. Beide schlössen sich der neugegründeten Deutschen Demokratischen Partei an, bei der sie auch blieben, nachdem diese den Namen Deutsche Staatspartei angenommen hatte. Am praktischen Parteileben freilich beteiligte sich Anschütz nicht. Zur Verfassung von Weimar bekannte er sich oft, eindrucksvoll auch in seiner Rektoratsrede 1922, in der er drei Leitgedanken ausführte: „Staatlichkeit des Reiches, Unitarismus, Demokratie“, und in der er zu drei Tugenden aufrief: „Opferfreudigkeit, staatsbürgerliches Verantwortlichkeitsgefühl, Vaterlandsliebe“. Auf ähnlichen Gedankenbahnen bewegte sich die Verfassungsrede im Reichstagsgebäude am 11. August 1923. „Was wir brauchen und in unserem demokratisch gewordenen Staate doppelt und dreifach brauchen, ist nicht sowohl eine gute Verfassung, als das ununterbrochene Vorhandensein von Persönlichkeiten, von Männern, welche die Verfassung lebendig machen, – ist eine breite und tiefe Führerschicht, aus der solche Männer, die Staatsmänner, fortwährend hervorwachsen, – ist letztlich ein hohes Maß von politischer Reife und Bildung des ganzen Volkes“. In der „Zeitschrift für badische Verwaltung und Verwaltungsrechtspflege“ (1930 Nr. 12, 1931 Nr. 1) ließ er noch heute lesenswerte, an die öffentlichen Dienstpflichten gemahnende Aufsätze zu dem Thema erscheinen: Das Beamtentum und die revolutionären Parteien. Die Weimarer Ordnung erschien Anschütz bereits innerlich unterhöhlt und in Zersetzung begriffen, als er in dem Prozeß „Preußen contra Reich“ vor dem Staatsgerichtshof der Vertretung der abgesetzten preußischen Regierung angehörte. Während der Zeit der Diktatur trat Anschütz nur einmal noch literarisch hervor: mit seiner Abhandlung über „Wandlungen der deutschen evangelischen Kirchenverfassung“ (Zeitschrift für öffentliches Recht 1940, 231-244), in der er der Rezeption des Führergedankens Schranken setzte.
Als überzeugter Anhänger des juristisch anspruchsvollen Rechtspositivismus vertrat der Heidelberger Rechtsgelehrte eine streng normative Methode, die nur gesetzliche Lösungen bieten konnte und wollte. Die Rechtspositivisten behaupteten, die ausschließliche Bindung an das Gesetz erfordere kein Opfer sittlicher oder politischer Überzeugungen. Es trug sie die Überzeugung, sich auf ihre Normalität verlassen zu können. Diese lange gültige Annahme trog. Insofern gehörte Anschütz zu den Besiegten, obwohl er sich im Hinblick auf die Revolution von 1918 zur normativen Kraft des Faktischen bekannt und dem politisch-dynamischen Denken durchaus auch Raum gegeben hatte.
In seinen postum veröffentlichten Lebenserinnerungen (in: Ruperto-Carola, Bände 21 und 22, 1957) hat Anschütz seiner badischen Wahlheimat und Heidelberg, der wohl wichtigsten Stätte seines Wirkens, auf ebenso liebenswürdige wie lehrreiche Weise die Reverenz erwiesen.
Werke: (Auswahl) Die gegenwärtigen Theorien über den Begriff der gesetzgebenden Gewalt und den Umfang des königlichen Verordnungsrechts nach preußischem Staatsrecht, 1. Aufl. 1900, 2. Aufl. 1901; Lehrbuch des deutschen Staatsrechts (Neubearb. d. Meyerschen Deutschen Staatsrechts), 3 Bde., 6. Aufl. 1912, 7. Aufl. 1919; Die Verfassungs-Urkunde für den preußischen Staat vom 31. Januar 1850, Kommentar, Bd. 1, 1912; Die Verfassung des deutschen Reichs vom 11. August 1919, Kommentar, 1. Aufl. 1921, 14. Aufl. 1933 (Nachdruck 1968); Das preußisch-deutsche Problem, 1922; Drei Leitgedanken der Weimarer Reichsverfassung (Heidelberger Rektoratsrede), 1923 (Staat und Recht Bd. 26); Handbuch des deutschen Staatsrechts (Mithg.), 2 Bde., 1930, 1932.
Nachweis: Bildnachweise: Ruperto-Carola 9, Band 21 (1957), 36; ebda. 9, Band 22 (1957), 31.

Literatur: Friedrich Giese, Forschungen und Fortschritte 18 (1942), 21 f.; Hans Nawiasky, NDB 1 (1953), 307; Hans Müller, Staatslexikon 1 (1957), Sp. 348-351; Walter Jellinek, Süddeutsche Juristenzeitung 2 (1947), Sp. 1-4; Richard Thoma, Deutsche Rechtszeitschrift 2 (1947), 25-27; Friedrich Giese, Süddeutsche Juristenzeitung 3 (1948), 333-336; Ernst Forsthoff, Der Staat 6 (1967), 139-150.
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