Bachem, Eriba Hermann 

Andere Namensformen:
  • Bachem, Erich Hermann
Geburtsdatum/-ort: 12.08.1906; Mülheim an der Ruhr
Sterbedatum/-ort: 25.03.1960; Mülheim an der Ruhr
Beruf/Funktion:
  • Maschineningenieur, Konstrukteur, Unternehmer
Kurzbiografie: 1913–1925 Realgymnasium in Mülheim an d. Ruhr bis Abitur
1925–1930 Studium des Maschinenbaus an d. TH, heute Universität, Stuttgart vom WS 1925/26 bis zum SS 1930; Abschluss Dipl. Ing. „bestanden“; dort 1925 Mitgründer d. Akademischen Arbeitsgruppe Akaflieg, u. deren Vorsitzender; erste Kontakte mit d. Fliegerei u. Teilnahme an zahlreichen Flugwettbewerben
1930 Besuch d. Luftfahrtausstellung in Paris, danach Bericht darüber
1930–1933 techn. Berater des Württ., ab 1931 Leiter d. techn. Abteilg. des Dt. Luftfahrtverbandes in Berlin; 1931 Konstruktion des Hochleistungsseglers Thermikus; nach eigenen Angaben u. zweifach bezeugt wegen Nichtzugehörigkeit zur NSDAP entlassen
1933 VI 1 Techn. Direktor d. Fieseler Werke in Kassel, ab 1938 Leiter d. Entwicklungsabteilung
1936–1937 bei Auflösung des Dt. Luftfahrtverbandes Überführung in das NS-Fliegerkorps, NSFK; 1. Mai 1937 Eintritt in die NSDAP, Mitgl. Nr. 4 624 713; 1938 Hauptsturmführer des NSFK; 1941 Kriegsverdienstkreuz II. Kl.; 1943–1944 Untergruppenführer d. Entwicklungsgruppe Zellenteile des Reichsluftfahrtministeriums, RLM, für die konstruktive Verwirklichung von Verschlüssen u. Scharnieren
1942 II 10 Gründung d. Bachem-Werke GmbH in Waldsee, Zulieferer mehrerer Flugzeugwerke, Bau von Flugtorpedoteilen u. des Motorseglers Lerche
1944–1945 in Konkurrenz zu namhaften dt. Flugzeugbauern mit Entwurf des Raketenflugzeugs „Natter“ Teilnahme an d. Ausschreibung des RLM wg. Konstruktion u. Bau eines „Verschleißjägers“; im Sept. Auftrag, spätere RLM-Bezeichnung Ba 349; Beginn d. Entwicklungsarbeit; erster bemannter Freiflug nach Schlepp durch eine He 111 am 14. Febr. 1945; am 25. Febr. erster erfolgreicher unbemannter Senkrechtstart, erster bemannter am 1. März endet mit dem Tod des Piloten
1946 I 11 Bachem-Werke GmbH situationsbedingt in Schwierigkeiten u. Finanznot; Tätigkeit Bachems als selbständiger Ingenieur; Entwürfe von Gegenständen orientiert an d. Nachkriegssituation; bald Firmenname „Eriba“, Produktionsbeginn als GmbH; Wohnwagen aus Holz, abgewandelte Form eines 1937/38 gebauten Prototyps wieder bei Hirth in Nabern nun als „Hirth-Tramp“ gebaut; mit Fa. Trikop bis Verkauf 1948 Bau hochwertiger Kopiergeräte
1946–1948 VIII 27 Entnazifizierungsverfahren: „Mitläufer“, 2000 RM Geldbuße u. Verlust des pass. Wahlrechts für zwei Jahre wg. Mitgliedschaft in d. NSDAP ab 1937, NSFK ab 1938, Hauptsturmführer ehrenhalber, DAF, NSV, u. NS-Bund dt. Technik
1948–1952 Argentinien-Aufenthalt
1952–1960 techn. Direktor d. Ruhrtaler Maschinenfabrik Schwarz&Dyckerhoff in Mülheim an d. Ruhr, Konstruktion von Unter- u. Übertage-Diesellokomotiven u. Grubenmaschinen
1954 Bericht in Washington über die Entwicklung d. „Natter“ auf Einladung des Pentagon
1956ff. mit Erwin Hymer (1930–2013) Konstruktion von Wohnwagen, nach Bachems Tod Umwandlung d. Eriba GmbH in eine KG unter A. Protzen als Geschäftsführer, die in d. Hymer AG aufging; geplantes Projekt Bachems für ein Sport- u. Übungsflugzeug bleibt unvollendet
Weitere Angaben zur Person: Religion: rk., 1938 ausgetr.
Verheiratet: 1931 (Mülheim an der Ruhr) Erika, geb. Schwarz (1908–1978), Tochter des Wilhelm Schwarz, Mitbesitzer d. Ruhrtaler Maschinenfabrik
Eltern: Vater: Wilhelm (1875–1933), Drogist
Mutter: Helene, geb. Schievekamp (1881–1961)
Geschwister: Wilhelm (geboren 1903)
Kinder: Werner (geboren 1933)
GND-ID: GND/125979398

Biografie: Fred Ludwig Sepaintner (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 6 (2016), 9-14

Bachem hat fast die Hälfte seines nicht 54 Jahre währenden Lebens in seiner Geburtsstadt verbracht. Prägende und seine Lebensleistung auch kennzeichnende Abschnitte aber wirkte er im heutigen Lande Baden-Württemberg. Sein fünf Jahre dauerndes Studium an der TH Stuttgart verschaffte ihm nicht nur die gediegene Lebensgrundlage, dort fand er auch den lebenslangen Freundes- und Kollegenkreis, entwickelte die Liebe zur Fliegerei und damit zu seinem wichtigsten Arbeitsgebiet, wie in seinen Vorträgen, Veröffentlichungen und Büchern sichtbar. Wiederum im Lande, diesmal in Waldsee, trug sich der ereignisreichste und auch bedeutendste Abschnitt seines Wirkens zu. Zusammen mit Studienfreunden gründete er seine eigene Fabrik, mit der es Bachem kriegsbedingt erstaunlich schnell gelang, in eine technische Spitzenposition vorzudringen. Seinem wichtigsten Projekt, dem ersten Senkrechtstarter der Welt „Natter“, einem Raketenflugzeug von kaum nachvollziehbarer technischer Innovation, blieb zwar die Serienfertigung verwehrt und damit der Kriegseinsatz versagt – ein Umstand, der bei der Nachwelt gewiss kein Bedauern auslöst! – die Konzeption und die Geschwindigkeit der Realisierung aber lässt den brillanten Erfindergeist umso unbeschwerter hervortreten und braucht den Vergleich mit Peenemünder Ergebnissen nicht zu scheuen; hier wie dort freilich eingedenk der großen Zahl von Mitwirkenden. Alle übrigen Leistungen Bachems – davor und danach – zeigen immer wieder den schöpferischen Ingenieur und die integre Führungspersönlichkeit, bis an seinen frühen Tod, der auch die Vollendung eines wiederum vielversprechenden Flugzeugtyps verhinderte.
Die wenigen Details, die aus Bachems Jugend in Mülheim noch greifbar sind, lassen ihn als einen aktiven, engagierten jungen Menschen erscheinen. Er besuchte das Realgymnasium, engagierte sich im katholischen Schülerbund Neudeutschland, war Ruderer und lernte nebenher noch Stenographie. Nach dem Abitur 1925 endete dieser Abschnitt. Bachem zog nach Stuttgart und studierte an der TU Maschinenbau. Dort hat sein Leben rasch neue Konturen angenommen. Unter den Kommilitonen fand er freundschaftlichen Umgang mit Fliegern wie dem Stuttgarter Wolf Hirth und Armand Protzen aus Heidenheim, die ihn seinen Vor- und Familiennamen kontrahierend Eriba nannten. Das wurde zum Begriff, überdauerte ihn sogar. Bachem beteiligte sich im ersten Studienjahr in Stuttgart an der Neugründung der Akaflieg, Akademische Arbeitsgruppe, deren Vorsitzender er wurde, und begann selbst mit dem Segelflug. Motorfliegerei war nach dem Versailler Vertrag Art. 198, 201 bis 203 und 210 zumindest bis 1926 für Deutsche sehr stark eingeschränkt und stand unter der Kontrolle der Interalliierten Luftfahrt-Überwachungskommission. Das hatte den Boom des Segelfliegens ausgelöst. Zusammen mit seinen Freunden nahm er an vielen Wettbewerben teil, besuchte 1930 die Luftfahrtausstellung in Paris und schrieb darüber. Auch sein Studium nahm nun diese Ausrichtung, und nach seinem Diplom 1930 wurde er technischer Berater des württembergischen, 1931 Leiter der technischen Abteilung des deutschen Luftfahrtverbandes in Berlin. Das ebnete ihm den Weg zum bekannten Jagdflieger des I. Weltkrieges Gerhard Fieseler (1896–1987), der am 1. Mai 1933 bereits in die NSDAP eingetreten war. Bachem wurde in diesem Jahr technischer Direktor der Fieseler-Flugzeugbau Kassel, ab 1939 Gerhard-Fieseler-Werke GmbH. Schon 1934 erteilte das RLM Aufträge an Fieseler. Am bekanntesten unter den Fieseler Flugzeugen wurde die Fi 156 Storch. Das Flugzeug absolvierte am 10. Mai 1936 seinen Erstflug und wurde in mehreren Typen und Ländern mit einer Gesamtstückzahl von 2867 Stück zum Teil bis in die 1960er-Jahre gebaut. Als Kurzstart- und Landeflugzeug mit ausgezeichneten Langsamflugeigenschaften – der Storch konnte mit nur 45km/h fliegen – war es in mehreren europäischen Luftwaffen, darunter bis 1963 auch in der Schweiz, als Beobachtungs-, Kurier- und Sanitätsflugzeug eingesetzt. International beachtet wurde der Storch noch einmal nach dem 19. November 1946, als damit der Schweizer Flugwaffe die Rettung Überlebender, darunter amerikanische Generale, gelang, deren Flugzeug am Gauligletscher abgestürzt war. Alle amerikanischen Versuche zuvor waren missglückt.
Die drei Fieseler Werke in Kassel wuchsen stetig, hatten 1938, als Bachem Leiter der Entwicklungsabteilung geworden war, bereits an die 6000 Mitarbeiter und avancierten 1939 zum NS-Musterbetrieb. Fieseler arbeitete nicht nur an eigenen Projekten; auch Fremdprojekte liefen hier, wie z.B. das von Wernher von Braun unter dem Kürzel Fi 166. Dazu produzierte Fieseler in Lizenz, z.B. die Messerschmitt Bf 109. Funktionsbedingt stand Bachem bei Fieseler gleich im Kontakt zum RLM. Dass der leitende Mitarbeiter, der 1933 noch hatte nicht eintreten wollen und deswegen, wie ihm Hirth und Protzen bezeugten, seine Berliner Funktion verloren hatte, nun ständige Verbindung zur zeitgenössischen Rüstungsforschung, zu Wissenschaftlern, Ingenieuren wie zu Führenden im Regime hatte, 1937 Parteigenosse geworden war, erscheint als zeitbedingter Anpassungszwang nachvollziehbar. Wer sich in seiner Position nicht in die „Bewegung“ einreihte, hätte Misstrauen erregt.
Wie die engen Kreise der Flieger sich immer wieder überschnitten, zeigt die Gründung der Bachem-Werke GmbH 1942 in Waldsee. Bachems Geschäftspartner wurde Willy A. Fiedler (1908–1998), auch sein Stuttgarter Kommilitone. Die Arbeit des in Freudenstadt Geborenen hatte in der Ruhrtaler Maschinenfabrik begonnen, bei Bachems Schwiegervater also, bevor er 1936 zu British Aircraft und von dort zur Deutschen Versuchsanstalt für Luftfahrt, DVL, nach Berlin gewechselt hatte. Dort gewann Fiedler wesentlichen Anteil an der Fi 103-Reichenberg, der bemannten, 1944 eingestellten Version der in der Propaganda V1 genannten Raketen-Bombe. Fiedler war den Einsitzer als Erster erfolgreich geflogen. Seit 1938 war der erfahrene Testpilot dann auch Chef der Mustererprobung bei Fieseler. Mit seinen Erfahrungen und Verbindungen wurde er zum wichtigen Koordinator beim Projekt „Natter“. Das Bachem- Werk, in dessen Führung sich viele weitere Akaflieg-Mitglieder wiederfanden, arbeitete zunächst hauptsächlich als Zulieferer: für Fieseler, Hirth, auch Dornier, und produzierte Baugruppen für luftgestützte Torpedos. Ein eigenes Projekt war der Motorsegler Lerche, mit nur 40 kg ein Ultraleichtflugzeug, das in einer zweiten Version Kufen bekam und über ein gespanntes Gummiseil hochkatapultiert wurde.
Der entscheidende Vorgang der kurzen Bachem-Firmengeschichte setzte im Frühjahr 1944 ein. Die Kriegslage war inzwischen fast hoffnungslos, die Ostfront im Zurückweichen, alliierte Truppen rückten in Süditalien vor, die Invasion an der Atlantikküste stand zu erwarten. Vor allem aber war die Lufthoheit über Deutschland verloren. Beim Luftkrieg konnte tagsüber der amerikanischen und nachts der englischen Überlegenheit fast nichts entgegengesetzt werden. Was war dagegen die Wunderwaffen-Propaganda – mehr fiel auch Hitler bei seiner letzten Rundfunkrede am 30. Januar 1945 nicht ein! –, die noch 1943 durchaus gewirkt hatte? In dieser bedrängten Lage unternahm das RLM einen letzten Versuch. Es schrieb einen Wettbewerb um einen kostengünstigen, schnell in großer Stückzahl herstellbaren und leicht zu bedienenden Kleinstjäger aus, woran sich neben Heinkel, Junkers, Messerschmitt und Arado in Warnemünde auch der Außenseiter Bachem beteiligte.
Auf dem III. Internationalen Astronomischen Kongress in Stuttgart 1952 berichtete Bachem, die Idee zur „Natter“ sei ihm gekommen, als amerikanische Bomber gänzlich ungehindert über seinen Betrieb geflogen seien. Er erinnerte sich an eine Anregung Wernher von Brauns von 1939, Abwehr mit bemannten Raketen zu betreiben. Damals sei das Ganze am Fehlen geeigneter Antriebe gescheitert. Nun, 1944, lagen Raketenantriebe vor, waren mit der Me 163 und durch seinen Kompagnon Fiedler mit der bemannten V1-Version schon Flugversuche unternommen worden. Bachem realisierte die Idee des kostengünstigen Einmal-„Verschleißjägers“, der dem Piloten nur den unmittelbaren Kampfeinsatz abverlangte, mit einem „Zwitter zwischen bemannter Rakete, gesteuerter Flaksalve und Flugzeug“ (Pawlas, 1975, 1445), das in kürzester Zeit große Höhen erreichen und seinen Kampfauftrag schnell erledigen sollte. Der Steigflug war ferngesteuert. Eine Kurzeinweisung von Nichtpiloten sollte zur Bedienung ausreichen. So wollte Bachem dem deutschen Pilotenmangel abhelfen. Zum Objektschutz bei kriegswichtigen Anlagen stationiert sollte das Flugzeug im Angriffsfall ohne Verzögerungen und viel Infrastruktur einsatzbereit sein und die von den Alliierten eingesetzte Verwirrtaktik beim Einflug wirkungslos machen.
Während der Erprobung schien einmal mehr der Gegensatz zwischen der Wehrmacht und der SS auf. Diese Auseinandersetzung dauerte bis Januar 1945. Dann hatte sich Himmler, der das ganze V-Waffen-Programm beherrschen wollte, mit seinem längst gegen die entsprechende Organisation der Wehrmacht aufgebauten Waffenamt wie bei der A 4/V2 (vgl. Rees, 388) durchgesetzt. Er traf die gleiche Personalentscheidung wie in Peenemünde und unterstellte das Projekt dem SS-Obergruppenführer und General der Waffen-SS Hans Kammler, einem besonders rücksichtslosen Gefolgsmann. Dazu ernannte er noch Obersturmführer Gerhard Schaller als persönlichen Sonderbeauftragten für das „Gerät N“. Vor Ort setzte er die SS-Sonderkommission 600 N (Waldsee) ein. Durch diese für Himmler typische Vorgehensweise schuf er sich konkurrierende Kontrollmöglichkeiten. Unangetastet allein ließ er das Zentrum der Projektentwicklung, das Werk Bachem in Waldsee, wo sogar Feststoffraketentests auf dem Werksgelände stattfanden. Das zuvor behutsamere und sachorientierte Erprobungsprogramm des RLM, das bis Ende März hätte laufen sollen, wurde sofort abgesetzt.
Erste Entwicklungsschritte der „Natter“ hatte die Arbeitsgruppe Wilhelm Fucks (1902–1990) aus Mitarbeitern der TH Aachen im September 1944 in Schloss Ummendorf bei Biberach an der Riß unternommen und dazu den damals größten Analogrechner eingesetzt. So erhaltene Werte testete die DVL unter Geschwindigkeiten bis 0,95 Mach. Über eine ganze Reihe recht unterschiedlicher Modelle wurden Konstruktionsmerkmale festgelegt. Gleichzeitig wurden Abwurfversuche mit Bugtrennung unternommen, die auch zu Detailänderungen wie bei der Haubenhalterung führten.
Das endlich an einer Lafette senkrechtstartende Raketenflugzeug war als in eine Bug-, Mittel- und Hecksektion teilbare Holzkonstruktion angelegt, die eine maximale Startmasse von nur 2200 kg hatte und beim Start einen Schub von 6500 kp erreichte. Die Dimensionen des Abfangjägers waren recht klein, nur 6,10 m in der Länge mit einer Flügelspannweite von nur 3,60 m. Der freitragende Mitteldecker hatte rechteckige einholmige Holz-Stummelflügel ohne Querruder mit nur 3,6 qm Fläche. Da es bei der „Natter“ keinen herkömmlichen Start- und Landevorgang gab, fehlte anders als bei einigen Modellen das Fahrwerk. Der Bug trug eine abwerfbare Verkleidung, hinter der sich üblicherweise die von Firma Eberspächer entwickelte Batterie der 24 drallstabilisierten 73 mm Raketen vom Typ Föhn befand. Alternativ wurden Versuche mit 34 an gleicher Stelle positionierten flügelstabilisierten 55 mm R 4 M Raketen vom Typ Orkan unternommen. Das waren die Bordwaffen des Flugzeuges. Sie sollten gleichzeitig ausgelöst und breitstreuend die gepanzerten alliierten Bomber zerstören. Dahinter im Rumpf befand sich die einsitzige vorne und hinten gepanzerte Pilotenkanzel, die eine abwerfbare Bugkappe mit Plexiglasscheiben abschloss. Die „Natter“ hatte ein eigens entwickeltes Fallschirmsystem, das den Piloten bei hoher Geschwindigkeit samt Sitz und wichtigsten Instrumenten aus dem Cockpit ziehen sollte. Etwa auf Flügelhöhe waren beim gängigen, hier beschriebenen Typ A die beiden Tanks mit zusammen 590 kg Treibstoff der zwei Antriebskomponenten des Raketenmotors angeordnet, 400 l Wasserstoffperoxyd, der sogenannte T-Stoff, sowie 190 l Hydrazin Hydrat und Alkohol, C-Stoff genannt. Das Haupttriebwerk war zu Anfang das von Hellmuth Walter (1900–1980) entwickelte HWK 109-509 A mit 1500 kp Schub, dann die HWK 109-559 A mit 1700 kp Schub und bis 2 min. Brenndauer. Beim Typ B war die stärkere D 1-Version mit 2000 kp Schub verwendet, in der durch Einbau einer zweiten Brennkammer die Brenndauer auf gut 4 ½ min. gesteigert war. Zur Schuberhöhung waren außen am Rumpf anfangs zwei, später vier 109– 553 Schmidding Starthilfe-Raketen mit Festbrennstoff angebracht, die für 10 sec. 1200 kp Schub entwickelten und danach abgeworfen werden konnten. Das Heck trug ein auffallend großes Kreuzleitwerk mit sperrholzbeplankten Flossen und Rudern an allen vier Flächen. Auch das Flugzeugheck samt dem wertvollen Raketenantrieb und Steuereinrichtungen war mit einem Fallschirm ausgestattet für die Wiederverwendung vorgesehen, sofern keine Treibstoffrückstände darin waren, was unweigerlich zur Explosion geführt hätte. Der Rest war für den Einmaleinsatz konzipiert.
Der taktische Einsatzplan der Ba 349 sah eine Steiggeschwindigkeit von etwa 200m/sec. vor. Damit sollten bis 14 000 m Höhe erreicht werden. Bis unmittelbar vor den Kampfeinsatz blieb die Maschine per Funkrichtstrahl vom Boden aus gelenkt. Der Pilot selbst übernahm erst zu Beginn der eigentlichen Kampfphase. Danach war ein Absatz-Sturz auf etwa 3000 m Höhe vorgesehen. Dann sollten die Fallschirme ausgelöst werden. Der Aktionsradius der „Natter“ blieb auf 40 km beschränkt.
Die technische Grundlagenentwicklung war bereits im Oktober 1944 so weit abgeschlossen, dass die Reihe der Modellversuche – noch ohne Starthilfe-Raketen und Raketenantrieb – Anfang November einsetzen konnten. Mit Hilfe eines Schleppseils an einer Heinkel He 111 beispielsweise wurde die „Natter“ in 3000 m Höhe gebracht und zeigte im Ganzen gute Flugeigenschaften. Angesichts der immer aussichtsloseren militärischen Lage, auch höchst problematischen Treibstofftransports, verkürzte die SS im Februar 1945 den Zeitplan. Der einzige bekannte antriebslose bemannte Freiflug fand am 14. in 3500 m Höhe statt und war ein Teilerfolg, das Auslösen der Fallschirme funktionierte nicht einwandfrei, der Pilot vermochte aber abzuspringen. Schon am 25. Februar erfolgte der erste unbemannte Start mit einem Walter Raketenmotor über eine Senkrechtstartrampe, die ebenfalls Ergebnis einer Versuchsreihe war. Prompt kam der Befehl zum bemannten Senkrechtstart, der am 1. März auf dem Heuberg scheiterte. Der Pilot, Lothar Sieber (1922–1945), fand dabei den Tod. Die Ursachen des Unglücks sind umstritten. Nach Bachems Darstellung war es das Ablösen und Wegfliegen der Cockpit-Haube, an der die Kopfstütze des Piloten angebracht war. Bei 3 g Beschleunigung habe der Rückschlag des Kopfes um 25 cm die sofortige Bewusstlosigkeit des Piloten ausgelöst, vielleicht auch seinen Genickbruch. Bei der anschließenden Untersuchung wurde noch vermutet, dass die Einstellung der zur Startstabilisierung angebrachten kleinen Strahlruder sich verschoben habe und vielleicht auch die Schmidding Starthilfe-Raketen dejustiert gewesen seien. Damit war aber keineswegs das Ende des Projekts erreicht. Angeblich einsatzbereite Ba 349 sollen in Kirchheim unter Teck beim Anrücken amerikanischer Panzer von der Luftwaffe zerstört worden sein. Dort sind gegenwärtig noch drei „Natter“-Startstellen, kreisrunde Betonplatten mit ca. 50 cm tiefen, quadratischen Löchern zur Verankerung der Lafetten, zu sehen.
„Natter“-Produktionsanlagen waren Mitte April vor dem Einmarsch der Franzosen bei Bachem in Waldsee demontiert und nach Bad Wörishofen verlegt worden. Von dort wurden sie anrückender amerikanischer Truppen wegen nach St. Leonhard in Österreich gebracht, wo Teile der Bachem-Mannschaft samt Gerät in die Hände der 44. US-Division gerieten. Das Werk Waldsee, wo Bachem und Fiedler geblieben waren, war inzwischen von Franzosen besetzt. Im Rahmen der Aktion Overcast kam Fiedler, dem noch 1944 das Ritterkreuz verliehen worden war, in die USA, wo er von 1956 bis zur Pensionierung 1973 bei Lockheed arbeitete und ab 1958 als Chief Scientist an den Entwicklungen der Polaris und Poseidon Raketen mitwirkte.
In einer Produktionsstätte in Thüringen erbeuteten Truppen der Sowjetunion eine Natter. Den Amerikanern fielen in St. Leonhard vier Exemplare vom größeren B-Typ mit dem stärkeren Antrieb, höherem und auch etwas längerem Rumpf samt Unterlagen in die Hände. Restaurierte und unrestaurierte „Nattern“ finden sich gegenwärtig bei der Smithonian Institution unweit von Washington DC. Das Deutsche Museum München, das in Waldsee auch eine erfolglose Tauchaktion nach angeblich versenkten Walter Triebwerken veranlasst hatte, baute Ende der 1960er-Jahre aus mehreren unfertigen Geräten nach erhaltenen Plänen eine „Natter“ nach. Ein weiterer Nachbau von 2006/07 befindet sich in der militärgeschichtlichen Sammlung in Stetten am kalten Markt. In jüngster Zeit gab es auch mehrere private Initiativen in dieser Richtung.
Bachem arbeitete beim Jahresbeginn 1946 in Waldsee als Ingenieur für angewandte Technik und entwarf Gegenstände der unterschiedlichsten Bereiche, von Möbeln über Lampen bis zu Werkzeugmaschinen. Namhaft darunter wurden das Notheim Schildkröte und der Holzeinkaufswagen Rolldie. Bald verband er den Namen Eriba mit seinen Entwürfen und begann auch wieder zu produzieren, was unter dem Namen Eriba GmbH geschah. Zu Produkten des Ingenieurbüros kamen Holz-Wohnwagen, die auf einem Vorgänger der 1930er-Jahre basierten und wieder bei Hirth gebaut wurden. Über eine eigens gegründete Firma stellte Bachem bis 1948 Kopiergeräte her, die Eribaskope und Trikope. Dann verkaufte er diesen Produktionszweig, der schließlich in Gerlingen im Minolta-Konzern aufgegangen ist.
Um diese Zeit begannen etwa vier Jahre im Leben Bachems, die recht unscharf überliefert und auch widersprüchlich interpretierbar sind. Grimm spricht von einer „Auswanderung“ nach Argentinien; denn Bachem habe „der allgemeinen politischen Lage“ (1992, 50 u. 2005, 57) misstraut. Er stellt den Zusammenhang her zu Kurt Tank (1898–1963), der 1947 unter falschem Namen über Dänemark und Schweden nach Argentinien gelangt war und in Cordoba für Peron in Anlehnung an den Focke-Wulf Ta 183 einen Strahljäger entwickelt hat. An anderer Stelle wird gemutmaßt, Bachem habe Deutschland verlassen, weil er sich 1948 der Operation Overcast habe entziehen wollen. Das ist genauso wenig belegt und nicht nachvollziehbar; denn die Entnazifizierung Bachems lässt deutlich erkennen, dass auch das württembergisch-hohenzollersche Wirtschaftsministerium hinter ihm stand und ihn „wegen seiner außergewöhnlichen Qualitäten dem Lande erhalten“ wollte (Schreiben an die Landesdirektion Tübingen vom 9.1.1946, in: StAS Wü 13 T 2 Nr. 1528/071). Mit Blick auf die Vorgänge um Willy A. Fiedler wirken solche Konstruktionen genauso abwegig. Gesichert erscheint im argentinischen Lebensabschnitt Bachems lediglich, dass der musisch sehr begabte Mann sich schließlich in Buenos Aires dem Gitarrenbau zuwandte.
Auch das gehört zu den Wesenszügen Bachems: Er war immer vielseitig interessiert. In den frühen 1920er-Jahren beispielsweise war er Mitglied der Mülheimer Vereinigung junger Kunstfreunde, um die Wende zu den 1940ern gleichzeitig im Magischen Zirkel für Amateurzauberei und im Bund deutscher Filmamateure, neben seiner Zugehörigkeit zur Lilienthal-Gesellschaft für Luftfahrt, versteht sich.
1952 kehrte Bachem in seine Heimatstadt zurück und wurde 1953 als Nachfolger seines Schwiegervaters technischer Direktor der Ruhrtaler Maschinenfabrik. Sein Arbeitsfeld ging dort in ganz andere Richtung; er entwarf und baute verschiedene Gruben- wie Übertage-Dieselloks und Grubengeräte. Bachems Verbindung in den oberschwäbischen Raum aber riss nie ab. 1957 baute er zusammen mit Erwin Hymer in Waldsee unter dem Markennamen Eriba den „Ur-Troll“, einen Wohnwagen- Prototyp in Leichtbauweise mit einer Aluminiumhaut über der stabilen Stahlrohr-Tragekonstruktion. Selbst in der Form wollten beide Konstrukteure, die aus dem Flugzeugbau kamen, aerodynamische Grundsätze wahren. Daraus erwuchs schon vom Folgejahr u.a. mit Puck und Faun eine äußerst erfolgreiche und langlebige Wohnwagenserie, die Eriba zum bleibenden Begriff machte.
In seiner letzten Zeit hatte Bachem noch Pläne für ein Sport- und Übungsflugzeug weit vorangetrieben, das besonders preisgünstig zu werden versprach, weil er einen vorhandenen starken Automotor als Antrieb zu verwenden gedachte. Gerade 54 Jahre alt verstarb Bachem darüber. Seine Lebensleistung wurde bei seiner Beisetzung auf dem Mülheimer Hauptfriedhof u.a. von Vertretern des Deutschen Luftsportverbandes gewürdigt. Nach seinem frühen Tod wurde es in Deutschland zunächst ruhig um ihn und sein Werk. Dies hat sich seit den ausgehenden 1960er-Jahren geändert und hält bis in die Gegenwart an, wie Veröffentlichungen, vor allem aber auch „Natter“-Nachbauten zeigen.
Quellen: UA Stuttgart 120/635, Prüfungsakten Bachem; StAS Wü 13 T 2 Nr. 1528/071, Entnazifizierungsakte, u. Wü 13 T 2 Nr. 2517031, Spruchkammer-Spruch von 1948, Wü 120 T 3 Nr. 1101, Nr. 1199f. WÜ 140 T 1 Nr. 573/85, Durchweg Akten des Bachem-Werks betreffend; Auskünfte des BA Berlin, R4–2007/D- 1652 vom 3. Juni 2015 u. von Herrn Johannes Fricke, StadtA Mülheim a. d. R., vom Juli 2015 d. Ev. Kirche in Mülheim a. d.R. zur Beerdigung u. von Firma Bräutigam wg. Verbleib d. Akten d. Fa. Ruhrtaler.
Werke: zahlreiche Vorträge u. Rundfunkbeiträge in Radio Stuttgart 1927 bis 1944; ab 1925 viele Zeitungs- u. Zeitschriftenbeiträge, darunter über die Rhön-Segelflugwettbewerbe, 1925–1932; laufende Berichte über Luftfahrtausstellungen, während d. Zugehörigkeit zu Fieseler laufend Artikel in d. Fieseler Werkszeitschrift, darunter: Ein Flugzeug entsteht, Grundsätzliche Gedanken ist technisches Gestalten, 1938; nach eig. Angabe 1930 bis 1933 37 Beiträge in den Zs. Der Adler u. Der Segelflieger, darunter: Worauf beruht die Trudelsicherheit d. „Möve“?, März 1930, Dt. Luftspiele 1930, Rhönbericht 1930 u. Geschwindigkeitsmesser in Gleit- u. Segelflug, alle drei Sept. 1930, Grundsätzliche Überlegungen für die Verwendung verschiedener Gleit- u. Segelflugzeugtypen u. Die für lebenswichtige Flugzeugbauteile verwendeten Holzarten u. ihre Eigenschaften, Okt. 1930, Bei den Andern, Luftfahrtausstellung Paris 1930, Dez. 1930, Die Theorie des Segelfluges, Jan. 1931, Neue Wege des Segelflug-Startes: Der Katapultstart, Mai 1931, Zweck u. Technik d. Schlepp-Segelflüge, Juli 1931, Leimen u. Pressen, Nov. 1931, Hochstart, Maschinenstart, Autoschleppstart u. Start- u. Transportwagen, beide Febr. 1932. – Bücher: Praxis des Leistungssegelfliegens, 1931/32; Das Problem des Schnellstfluges, 1932. – Flugzeugbau u. Luftfahrt, in: Die Praxis des Leistungs-Segelfliegens Heft 18, 1936; Einige grundsätzliche Probleme des bemannten Senkrechtstartes. Erfahrungsbericht über die Bachem-Natter, in: Gesellschaft für Weltraumfahrt e.V., 1952, 89-96; Einige grundsätzliche Probleme des Starts bemannter Raketen, in: Weltraumfahrt Heft 3, Juli 1953.
Nachweis: Bildnachweise: Foto (wohl 1950er-Jahre), in: Baden-Württembergische Biographien Bd. 6, S. 3, mit Genehmigung d. Hymer GmbH Bad Waldsee. – Mehrfach bei Grimm, 1992, 43, u. 2005, 52.

Literatur: [Anonym], Aus den Geheimfächern d. dt. Luftfahrtindustrie. Die Walterraketen u. ihre Anwendung, 3. Teil: Bacem-Natter, in: Der Flieger 28, 1954, Heft 3; Erich Bachem gestorben, in: Neue Ruhrztg. vom 29.3.1960 (fehlerhafter Nachruf ); Erich Bachem zu Grabe getragen, in: Ruhrnachrichten vom 31.3.1960; P. Krekel, Erich Bachem †, in: Jb. d. Wiss. Gesellschaft für Luftfahrt, 1960, 479f.; Gert W. Heumann, Geheimrakete Natter, in: Flug Revue 1/1962, 20; Rudolf Lusar, Die dt. Waffen u. Geheimwaffen des II. Weltkrieges u. ihre Weiterentwicklung, 1964, 190; Karl-Heinz Ludwig, Technik u. Ingenieure im Dritten Reich, 1974, 473ff.; Karl R. Pawlas, Bachem BP 20 „Natter“, in: Luftfahrt international Heft 10, 1975, 1443-1481; Kurt Rohrbach, Das erste bemannte Raketenflugzeug d. Welt – Bachem Natter, in: Kultur&Technik Heft 1, 1977, 18-20; Briand Ford, Die dt. Geheimwaffen, 1981, 59-67; Ernst Vocke, überarb. u. ergänzt von Günter Frost, Die dt. Luftfahrzeugrolle 1920–1934 (LFR B), Kapitel 1: Zivilluftfahrt unter dem Versailler Vertrag, in: Luftfahrt international 2, 1981, 70-76; Joachim Dressel, Natter, Bachem Ba 349 u. a., 1989; Hans Grimm, Der Raketenpionier Erich Bachem, in: Im Oberland 3, 1992, 43-52, geringfügig überarb. in: Flugpioniere in Oberschwaben, 2005, 52-59; Joachim Dressel u. Manfred Griehl, Die dt. Raketenflugzeuge 1935–1945, 1995; Botho Strüwe, Peenemünde-West. – Die Erprobungsstelle d. Luftwaffe für geheime Fernlenkwaffen u. deren Geschichte, 1998; Horst Lommel, Der erste bemannte Raketenstart d. Welt, 2. Aufl. 1998; ders., Das bemannte Geschoss, BA 349 Natter, 2000; ders., Geheimprojekte d. DFS, 2000; Hartmut Löffel u.a., Oberschwaben als Landschaft des Fliegens, 2007, 357-360; Volker Hammermeister, Die Legende lebt, 50 Jahre Hymer-Eriba, in: Caravaning Heft 2, 2007, 12f.; www.ba349.com.
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