Andre, Josef 

Geburtsdatum/-ort: 16.02.1879;  Schramberg
Sterbedatum/-ort: 15.03.1950;  Stuttgart
Beruf/Funktion:
  • Reichstagsabgeordneter, Wirtschaftsminister von Württemberg-Baden
Kurzbiografie: 1885–1893 Volksschule Schramberg
1893–1897 Schreinerlehre in Schramberg
1898–1903 Möbelschreiner in Stuttgart, Worms, Köln und Hamburg
1903 Arbeitersekretär beim württ. Landesverband katholischer Arbeiter- und Arbeiterinnenvereine
1906–1918 Abgeordneter in der Zweiten Kammer des Württ. Landtags
1916 Kriegsdienst
1919–1920 Abgeordneter in der Württ. Verfassunggebenden Landesversammlung und der Deutschen Nationalversammlung
1920–1933 Abgeordneter im Württ. Landtag
1920–1928 Abgeordneter im Deutschen Reichstag
1926 Regierungsrat beim württ. Landesgewerbeamt
1928 Präsident der württ. Landesversicherungsanstalt
1934 Rechtsberater beim württ. Caritas-Verband
1944 Inhaftierung im Zuge der Aktion „Gewitter“
1945–1946 Staatsminister im Ministerium für Wirtschaft und Minister zur besonderen Verwendung Württemberg-Baden
1946 Mitglied der Vorläufigen Volksvertretung von Württemberg-Baden und der Verfassunggebenden Landesversammlung für Württemberg-Baden
1946–1950 Abgeordneter im Landtag von Württemberg-Baden
Weitere Angaben zur Person: Religion: rk.
Verheiratet: 1. 1906 Maria Balbina, geb. Feist,
2. 1946 Anna Maria Schnell, geb. Kuhn
Eltern: Vater: Josef Andre, Strohhutarbeiter (1843–1899)
Mutter: Albertine, geb. Maurer (1842–1908)
Geschwister: 5
Kinder: 6 Töchter
GND-ID: GND/129846112

Biografie: Frank Engehausen (Autor)
Aus: Württembergische Biographien 2 (2011), 3-6

Der in beengten materiellen Verhältnissen aufgewachsene Arbeitersohn nutze die Gelegenheit zu höherer Schulbildung nicht und absolvierte nach dem Besuch der Volksschule eine Schreinerlehre bei dem Schramberger Gemeinderat Leo Ganter. Von dessen sozialdemokratischen Anschauungen offenkundig nur wenig beeinflusst, fand Andre während seiner Wanderschaft, die ihn zunächst in die württembergische Landeshauptstadt führte, Anschluss an die katholische Arbeiterbewegung und wurde Mitglied im Christlichen Holzarbeiterverband und im Katholischen Arbeiterverein Stuttgart. Auch auf den weiteren Stationen seiner Wanderschaft nutzte er die Weiterbildungsangebote der katholischen Arbeiterbewegung, engagierte sich gewerkschaftlich und trat bereits als Versammlungsredner hervor. Den Entschluss, die Gewerkschaftsarbeit zu seinem Hauptberuf zu machen, fasste Andre 1903: In Mönchengladbach durchlief er zunächst einen volkswirtschaftlichen Aufbaukurs, der von dem späteren langjährigen Reichsarbeitsminister Heinrich Brauns geleitet wurde, und daran anschließend eine Ausbildung zum Arbeitersekretär beim Volksverein für das katholische Deutschland; seinen Arbeitsplatz fand er im gleichen Jahr im Arbeitersekretariat des württembergischen Landesverbandes katholischer Arbeiter- und Arbeiterinnenvereine in Stuttgart, das zuvor vom inzwischen zum Reichstagsabgeordneten aufgestiegenen Matthias Erzberger geleitet worden war.
Neben seinen Kernaufgaben als Arbeitersekretär – der Auskunftserteilung in sozialen und versicherungsrechtlichen Fragen sowie der Koordination der Aktivitäten der katholischen Arbeiterbewegung in Württemberg – übernahm Andre auch direkte politische Aufgaben und wurde schon bald zu einem einflussreichen Mitglied der Zentrumspartei: 1906 gewann er bei den Wahlen für die Zweite Kammer den Wahlkreis Oberndorf und konnte ihn bei den folgenden Wahlen bis zum Ersten Weltkrieg jeweils behaupten. Im Landtag profilierte sich Andre als sozialpolitischer Experte seiner Fraktion, gehörte unter anderem dem Volkswirtschaftlichen Ausschuss der Kammer an, ergriff im Plenum häufig das Wort und erwarb sich dabei den Ruf eines kontroversfreudigen Politikers. Zur Zielscheibe seiner Polemiken wurden häufig die Sozialdemokraten, aber auch die Vertreter agrarischer Sonderinteressen fanden seinen energischen Widerspruch, wodurch Andre gelegentlich in Schwierigkeiten mit der eigenen Partei geriet, deren Klientel zum großen Teil Bauern waren. Als markanter Kopf ihres Arbeiterflügels konnte Andre nicht in den engeren Führungskreis des württembergischen Zentrums aufsteigen: Er scheiterte 1907 als Reichstagskandidat in der Stichwahl im Wahlkreis Freudenstadt- Horb-Oberndorf-Sulz, und 1912 fand sich für ihn offensichtlich kein aussichtsreicher Wahlkreis.
Mit der für ihn wie für die gesamte Zentrumspartei unerwünschten Novemberrevolution von 1918 war die Stunde für Andres weiteren politischen Aufstieg gekommen: Bei den Wahlen zur Württembergischen Verfassunggebenden Landesversammlung und zu den Landtagen 1920, 1924, 1928 und 1932 erhielt er jeweils vordere Listenplätze und gehörte als Mitglied des Fraktionsvorstands der Zentrumspartei (ab 1920) und als Vizepräsident des Landtags zu den prägenden Figuren der württembergischen Landespolitik in den Jahren der Weimarer Republik. Andre exponierte sich mehrfach bei Themen, die innerhalb der eigenen Partei umstritten waren: zum Beispiel 1920/21 beim Streit über das Verhältnis des württembergischen Zentrums zu seiner bayerischen Schwesterpartei, die als Bayerische Volkspartei eigene politische Wege ging, oder 1924 in Zusammenhang mit dem Eintritt des Zentrums in die Regierung mit Bürgerpartei und Bauernbund unter der Staatspräsidentschaft Wilhelm Bazilles. Statt dieser rechtslastigen bürgerlichen Koalition befürwortete Andre eine engere Zusammenarbeit mit den Sozialdemokraten und musste sich in der Folgezeit den Vorwurf gefallen lassen, durch sozialpolitische Vorstöße Keile in die Koalition treiben zu wollen. Spannungen innerhalb der Parteiführung gab es auch 1925, als Andre Eugen Bolz vorwarf, die Kandidatur von Wilhelm Marx bei der Reichspräsidentenwahl gegen Hindenburg nicht ausreichend unterstützt zu haben. Diese Konflikte waren wohl ein Grund dafür, dass Andre nie ein Regierungsamt übernahm, obwohl er durch seine politische Erfahrung und seine Position innerhalb der Partei durchaus als ministrabel gelten konnte.
Andres politische Karriere auf Reichsebene verlief entlang ähnlicher Konfliktlinien wie die landespolitische: 1919 wurde er in die Deutsche Nationalversammlung gewählt und 1920, 1924 und 1928 in den Reichstag, wo er ebenfalls sein Hauptbetätigungsfeld in der Sozialpolitik fand und dem Volkswirtschaftlichen Ausschuss angehörte. Zu den Höhepunkten seiner parlamentarischen Tätigkeit zählte sein Mitwirken am Zustandekommen des Gesetzes über die Arbeitslosenversicherung von 1927. In der Reichstagsfraktion der Zentrumspartei konnte Andre keine zentrale Stellung gewinnen, obwohl er seit 1923 Beisitzer im Fraktionsvorstand war. Wie in der württembergischen Politik war auch auf Reichsebene die parteipolitische Konstellation für ihn als Repräsentanten des linken Flügels des Zentrums ungünstig. Als Gefolgsmann Joseph Wirths plädierte er nachdrücklich für eine Kooperation des Zentrums mit der Sozialdemokratie, musste aber akzeptieren, dass sich diese Option seit dem Scheitern der Großen Koalition im Herbst 1923 zunächst nicht mehr verwirklichen ließ. Als die SPD 1928 mit dem Kabinett Hermann Müller in die Regierungsverantwortung zurückkehrte, gab Andre sein Reichstagsmandat auf, da ihm seine Ernennung zum Präsidenten der Landesversicherungsanstalt Württemberg die Fortsetzung seiner parlamentarischen Doppelbelastung nicht erlaubte.
Als Exponent des linken Zentrumsflügels wurde Andre nach der nationalsozialistischen Machtergreifung zwangsläufig zur Zielscheibe von Repressionen, zumal er in den Vorjahren mehrfach öffentlich gegen den anwachsenden Rechtsradikalismus Stellung bezogen hatte. Auf der Grundlage des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom April 1933 wurde er als vermeintlicher Parteibuchbeamter entlassen; ein neues berufliches Betätigungsfeld fand er erst anderthalb Jahre später als Leiter der Beratungsstelle des Caritasverbandes in Stuttgart. Am Jahresende 1933 legte Andre die Leitung des Landesvorstands des Verbands der katholischen Arbeitervereine nieder und zog sich unter Aufrechterhaltung persönlicher Kontakte zu einigen ehemaligen Parteifreunden (zum Beispiel Bolz und Wirth) ins Privatleben zurück. Nachdem schon zuvor sein Büro mehrfach von der Gestapo durchsucht worden war, wurde Andre – wie zahlreiche andere frühere Politiker der so genannten Systemparteien – im August 1944 im Rahmen der als Reaktion auf das Attentat des 20. Juli erfolgten Aktion „Gewitter“ inhaftiert. Nach Aufenthalten im Landespolizeigefängnis, im Tiefbunker am Stuttgarter Schlossplatz, im Konzentrationslager Welzheim und im Arbeitserziehungslager Aistaig bei Oberndorf wurde er Anfang November 1944 aus der Schutzhaft entlassen.
Das Kriegsende bot Andre die Möglichkeit zur Fortsetzung seiner politischen Arbeit, die er zunächst mit großem Engagement nutzte: Er war maßgeblich an der Gründung der CDU als überkonfessionelle christliche Volkspartei beteiligt und fungierte bis 1948 als nordwürttembergischer Landes- und danach bis zu seinem Tod als stellvertretender Landesvorsitzender. Die ihm im September 1945 übertragene Leitung des Wirtschaftsministeriums in Württemberg-Baden musste Andre bereits Ende Mai 1946 auf Drängen der US-Militärregierung wieder aufgeben, er gehörte der Regierung aber noch ein weiteres halbes Jahr als Minister ohne festen Geschäftsbereich an. Von größerer Dauer war sein parlamentarisches Wirken in der Nachkriegszeit: Er blieb bis zu seinem Tod Abgeordneter im Landtag von Württemberg-Baden. Dass er dort eine zwar wichtige, aber nicht zentrale Position einnahm – so wählte ihn der Landtag zum Mitglied des Parlamentarischen Rats beim Länderrat der US-amerikanischen Zone, während er im Januar 1947 bei der Wahl zum Landtagspräsidenten scheiterte –, lag neben seiner nachlassenden Belastbarkeit wohl auch am Nachwirken der ihn prägenden Erfahrungen der parlamentarischen Arbeit der Kaiserreichs und der Jahre der Weimarer Republik: Die politische Tugend der Kompromissfähigkeit, die er als Flügelkämpfer des Zentrums, der sich nicht selten in einer Minderheitenposition befand, nur unzureichend pflegen konnte, kam auch im Alter nicht zu starker Blüte.
Quellen: NL im ACDP.
Werke: Arbeiter-Fragen auf dem Landtag 1907–1912, 1912; Zentrum und Landwirtschaft, 1918; Sozialpolitik. Zentrumspartei und andere Parteien, 1924; Arbeitslosigkeit und Erwerbslosenfürsorge, in: Politisches Jb. 1 (1926); Wie Erzberger Politiker wurde, in: Deutsche Republik 1 (1926/27); Das Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung, in: Politisches Jb. 3 (1927); Ausgabenwirtschaft in der Invalidenversicherung, 1931; Deutschland und die Union. Die Berliner Tagung 1946. Reden und Aussprachen, 1946.

Literatur: Ludwig Anderl, Die roten Kapläne. Vorkämpfer der kath. Arbeiterbewegung in Bayern und Süddeutschland, 2. Aufl. 1963, 75–77; Raberg, Biogr. Handbuch, 2001, 11–14; Franz Fehrenbacher, Josef Andre (1879–1950) – ein Schramberger in höchsten Staats- und Parteiämtern, in: D’ Kräz. Beiträge zur Geschichte der Stadt und Raumschaft Schramberg 12 (1992), 45–55; August Hagen, Gestalten aus dem schwäbischen Katholizismus, T. 4, 1963, 154–182; M. d. R. Die Reichstagsabgeordneten der Weimarer Republik in der Zeit des Nationalsozialismus. Politische Verfolgung, Emigration und Ausbürgerung 1933–1945. Eine biographische Dokumentation, hg. von Martin Schumacher, 3. Aufl. 1994, 26; Reichstagsabgeordnete der Deutschen Zentrumspartei. Biographisches Handbuch und historische Photographien, hg. von Bernd Haunfelder, 1999, 293.
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