Statistik

von Alexander Staib

Kriegsschadensbericht zu Brackenheim [Quelle: Landesarchiv BW, HStAS A 29 Bü 105, Bl. 316v -315r]
Kriegsschadensbericht zu Brackenheim [Quelle: Landesarchiv BW, HStAS A 29 Bü 105, Bl. 316v -315r]. Zum Vergrößern bitte klicken.

In ihrer einfachsten Ausprägung widmet sich Statistik „dem systematischen Sammeln und Zusammenstellen von Informationen“[1]. Die Bearbeitung der so erlangten (häufig numerischen) Daten erfolgt oft mittels mathematischer Methoden. Die geschichtliche vormoderne Statistik ist nicht mit der Statistik des 21. Jahrhunderts vergleichbar. Letztere kann neben dem praktischen administrativen Nutzen auch einen wissenschaftlichen Anspruch verfolgen, indem abstrakte und übergreifende Erkenntnisse gewonnen werden sollen. Die vormoderne Statistik hingegen entstand rein aus konkretem Nutzen für administrative Instanzen. Diese Zielsetzung ist beispielsweise bei Boden- oder Zollregistern deutlich erkennbar.

Daten wurden insofern hauptsächlich unter Verwaltungsgesichtspunkten erhoben und sollten vor Ort genutzt werden; eine Aggregation der Daten(-sätze) sowie eine umfassende staatliche Lenkung wie Planung auf Basis derselben wurde nicht angestrebt. Das Verständnis einer Abbildung von Realität mittels Zahlen war vor dem 17. Jahrhundert nicht vorhanden; die moderne Statistik ist erst ein Produkt späterer Zeit. Allgemeine Aussagen zu Aufbau und Inhalt der Quellen-Übergruppe sind schwer zu treffen. Daten wurden aus zahlreichen Anlässen – beispielweise militärischen, fiskalischen oder konfessionellen – erhoben. Entsprechend verfolgten sie jeweils einen unterschiedlichen Zweck. Häufig wurden die Informationen in Listenform erfasst. Für die konkrete Beschreibung von Aufbau und Inhalt muss die jeweilige Quellengattung (Türkensteuerliste, Visitationsprotokoll etc.), aus der die Daten entnehmbar sind, genauer betrachtet werden. Vormoderne historische Statistiken fanden nach ihrer Nutzung ihren Weg ins Archiv. Das Hauptstaatsarchiv Stuttgart sowie das Landeskirchliche Archiv Stuttgart verwahren in ihren Magazinen zahlreiche Quellenbestände der weltlichen und geistlichen Herrschaft zur Bevölkerungsstatistik Württembergs. Material, aus dem sich Angaben zu Gebäudezahlen, Liegenschaften, Viehbeständen, Gewerben, Steuer- und Vermögenswerten entnehmen lassen, ist ebenso vorhanden, jedoch nicht so umfangreich.

Die Frühe Neuzeit erlebte eine zunehmende Erhebung von Datenmaterial. Dabei handelte es sich um einen flächendeckenden Prozess, der durch Konkurrenz und Informationsaustausch zwischen einzelnen Staaten und Territorien weiter beflügelt wurde. Im Mittelpunkt standen dabei die Inventarisierung herrschaftlicher Ressourcen und die zunehmende Verwaltungsintensität der Territorien. Den konkreten Hintergrund bildeten häufig fiskalische (Abgabenverzeichnisse), militärische (Konskriptionslisten) oder konfessionelle (Kirchenbücher) Belange. Den verstärkten Zugriff des Landesherrn auf Territorium und Einwohner spiegeln die Landesbeschreibungen des 16. und 17. Jahrhunderts wider. Diese waren in Teilen kartographisch oder textuell. Sie dienten dazu, dem Landesherrn einen systematischen Überblick über seine Herrschaft zu geben; Korrelation und Aggregation waren jedoch, wie auch übergreifende Analysen und Planungen, nicht angestrebt.

Das 17. Jahrhundert war vom Diskurs über Merkantilismus beziehungsweise Kameralismus gekennzeichnet. In England entwickelte sich der Gedanke, eine Vielzahl von Daten zu erheben, um auf deren Basis Politik zu gestalten. Ökonomen argumentierten, dass eine Regierung – bei korrektem Verständnis der Zusammenhänge – gezielt eingreifen könne, um den Handel beziehungsweise die Landwirtschaft zu fördern. Auf dieser Basis konnte Politik effizient gestaltet, Entwicklungen berechnet und überprüft werden. Erst rund 100 Jahre später, um 1760, wurden die Ideen politisch in der Breite aufgegriffen. Der Austausch über Methoden, Zahlen und Zusammenhänge wurde territorien- beziehungsweise länderübergreifend. Das statistische Zeitalter begann mit dafür zuständigen Büros und Zentralstellen erst nach der Französischen Revolution (in Württemberg 1820).

Die historische vormoderne Statistik hat das Potenzial, die qualitativen Methoden der Geschichtswissenschaft zu ergänzen. Sie soll dabei helfen, Allgemeines und generelle Entwicklungen zu analysieren. Das Verständnis, dass ein Individuum in Beziehungen im Kontext allgemeiner gesellschaftlicher Bedingungen eingebunden ist, ist hierfür zentral. Grundsätzlich ist bei der Analyse vormoderner Statistiken jedoch in mancherlei Hinsicht Vorsicht geboten. Denn das Zahlenmaterial ist in mehrfacher Hinsicht inkonsistent: Des Öfteren fehlen einzelne Angaben, für manche Orte einer Region auch vollständig; Rückschlüsse auf die Gesamtbevölkerung sind oft nur über Umwege zu ziehen, beispielsweise über die Zahl der Herdstätten. Zudem wurden häufig keine zusammenhängenden räumlich-geographischen Einheiten betrachtet; stattdessen waren territoriale Gesichtspunkte ausschlaggebend: Fremde Untertanen wurden daher nicht regelmäßig erfasst. Weiterhin waren die Erhebungen oft nicht einheitlich: Mancherorts wurden beispielsweise Personen, die wiederholt zum Abendmahl gingen, nur einmal gezählt, andernorts wurden sie mehrfach gezählt, an einem dritten Ort wurde bloß geschätzt. Zu diesen Mängeln kommen Verluste durch Feuer, Wasser, Krieg und Alterung hinzu. Dennoch kann die nüchterne vormoderne Statistik sinnvoll neben die erzählenden subjektiven Quellen treten. Das Forschungsprojekt ‚Historische Statistik des Herzogtums Württemberg vom 15./16. bis zum 18./19. Jahrhundert‘ an der Universität Mannheim hat diverse vormoderne württembergische Statistiken bearbeitet. Für das Herzogtum liegt für die Zeit des Dreißigjährigen Krieges reichlich Datenmaterial vor, mit dem sich die Kriegsschäden näher untersuchen lassen. Von besonderer Bedeutung für die Forschung ist dabei die von Wolfgang von Hippel zusammengestellte Edition der Steuer- und Kriegsschadensberichte im Zeitraum 1629 bis 1655.

Das im 17. Jahrhundert gesammelte Zahlenmaterial muss jedoch vor dem Hintergrund der Erhebung betrachtet werden: Das Alte Reich sollte, umgelegt über die Reichskreise, Reparationszahlungen an Schweden leisten. Württemberg hatte ein Interesse daran, die Schäden etwas größer erscheinen zu lassen als sie tatsächlich waren – allerdings auch nicht zu groß, um damit nicht an Glaubwürdigkeit einzubüßen. 1652 erging ein Generalausschreiben an die Städte und Ämter des Herzogtums. Die Beamten sollten jeweils die Anzahl (1) der Haushaltungen, (2) der zerstörten oder noch unbewohnten Gebäude und (3) der bebauten oder wüst liegenden landwirtschaftlichen Flächen (Äcker, Weinberge, Wiesen und andere Flächen) berichten. Ein Jahr später wurde eine Übersicht über die Geldwerte der Kriegsschäden im Zeitraum von der Niederlage bei Nördlingen bis zur Rückkehr Eberhards III. nach Württemberg (September 1634 bis Oktober 1638) eingefordert. Die Ergebnisse wurden zusammengetragen in der „Specification, Waß das Herzogthumb Württemberg von anfang des Kriegswesens de Anno 1628.629.630. biß auf dieses 1654.te Jar an Einquartierungen, Contributions-Geltern, Blinderungen, Fridens-Geltern und Römermonaten darschiesen, ertragen und überdulden müesen“ (HStAS A 29 Bü 195 Q 3). Für die Jahre 1629 und 1655 geben Steuerangelegenheiten Einblick in die demographische und ökonomische Situation des Herzogtums.

Auch außerhalb Württembergs wurde Material erhoben, welches bereits als Statistik vorliegt oder nachträglich zu einer solchen verdichtet werden kann. Beispielsweise lässt sich für Hessen die Preisentwicklung des Grundnahrungsmittels Roggen von 1537 bis 1567 verfolgen.

Anmerkungen

[1] Kriz: Statistik, S. 1035.

Quellen in Auswahl

  • Das Herzogtum Württemberg zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges im Spiegel von Steuer- und Kriegsschadensberichten 1629-1655. Materialien zur Historischen Statistik Südwestdeutschlands, bearb. von Wolfgang von Hippel (Sonderveröffentlichung der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg), Stuttgart 2009.

Literatur in Auswahl

  • Behrisch, Lars, Alteuropa, Statistik und Moderne, in: Alteuropa – Vormoderne – Neue Zeit. Epochen und Dynamiken der europäischen Geschichte (1200-1800), hg. von Christian Jaser / Ute Lotz-Heumann / Matthias Pohlig (Zeitschrift für Historische Forschung. Vierteljahresschrift zur Erforschung des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit, Beihefte, Bd. 46), Berlin 2012, S. 203-223.
  • Gierl, Martin / Behrisch, Lars / Ehmer, Josef, Art. Statistik, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 12, Berlin 2010, Sp. 927-938.
  • von Hippel, Wolfgang, Eine südwestdeutsche Region zwischen Krieg und Frieden – Die wirtschaftlichen Kriegsfolgen im Herzogtum Württemberg, in: 1648. Krieg und Frieden in Europa, Textbd. 1, hg. von Klaus Bußmann / Heinz Schilling (Europaratsausstellungen, Bd. 26), München 1998, S. 329-336.
  • Kriz, Jürgen, Art. Statistik, in: Lexikon der Politikwissenschaft. Theorien, Methoden, Begriffe, Bd. 2, 4., aktual. und erg. Aufl., München 2010, S. 1035-1038.
  • Krüger, Kersten, Historische Statistik, in: Goertz, Hans-Jürgen (Hrsg.): Geschichte. Ein Grundkurs, hg. von Hans-Jürgen Goertz (Rororo Rowohlts Enzyklopädie, Bd. 55688), 3., rev. und erw. Aufl., Reinbek bei Hamburg 2007, S. 66-87 (= Kersten Krüger, Historische Statistik, in: Formung der frühen Moderne. Ausgewählte Aufsätze, hg. von Kersten Krüger (Geschichte. Forschung und Wissenschaft, Bd. 14), Münster 2005, S. 271-284.).
  • Mocker, Ute, Quellen zur historischen Statistik des Herzogtums Württemberg vom 15./16. bis zum 18./19. Jahrhundert, in: Grundlagen der Historischen Statistik von Deutschland. Quellen, Methoden, Forschungsziele, hg. von Wolfram Fischer / Andreas Kunz (Schriften des Zentralinstituts für sozialwissenschaftliche Forschung der Freien Universität Berlin (ehemals Schriften des Instituts für politische Wissenschaft), Bd. 65), Opladen 1991, S. 126-144.

 

Zitierhinweis: Alexander Staib, Statistik, in: Der Dreißigjährige Krieg, URL: […], Stand: 23.08.2022

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