Gewalt in all ihren unterschiedlichen Facetten fand nicht nur in konfessionellen Heimen statt!

von Akua Desta

 

Die Autorin als Kind im Alter von 3 Jahren [Quelle: Akua Desta]. Zum Vergrößern bitte klicken.
Die Autorin als Kind im Alter von 3 Jahren [Quelle: Akua Desta]. Zum Vergrößern bitte klicken.

„This morning I woke up in a curfew. Oh God, I was a prisoner, too. Could not recognise the faces standing over me. They were all dressed in uniforms of brutality.“[1]

Als Peter Wensierskis Buch „Schläge im Namen des Herrn” 2006 eine breite Öffentlichkeit hinsichtlich der unerträglichen Zustände in kirchlichen Heimen im Nachkriegsdeutschland aufrüttelte und eine längst überfällige Debatte anregte, hatten nicht wenige Verantwortliche reflexartig versucht, positive Erfahrungen in Einrichtungen dazu zu nutzen, die Gesamtsituation der betroffenen Kinder zu beschönigen. Mittlerweile hat sich viel in der Aufarbeitung der Heimpädagogik dieser Jahre getan und das weitverbreitete System der Gewalt und Ausbeutung vor allem in konfessionellen Einrichtungen ist recht gut dokumentiert.

Seltene kleine Momente des Glücks sind oft der letzte Rettungsanker, der einen menschlich bleiben und die Hoffnung nicht ganz verlieren lässt, dass eine Welt jenseits von Lieblosigkeit, Gewalt und Erniedrigung möglich ist und so fühle auch ich mich bis heute trotz einiger Widersprüche vor allem einer Person für manche dieser schönen Momente während meiner Heimzeit tief verbunden. Aber so wichtig diese Erfahrungen für die Kinder und Jugendlichen sind, ändert das nichts an der eigentlichen Situation.

Kinder kann man bereits sehr gezielt durch "Nadelstiche" verletzen und traumatisieren, ganz zu schweigen davon, dass Traumatisierungen und deren vielschichtige Folgen nicht an einer fixen, mathematischen Gleichung festzumachen und unterschiedlichste Erfahrungen selbst in ein und derselben Einrichtung integraler Bestandteil des Systems Heim sind. Leider geschehen auch heute noch Dinge in Einrichtungen, die nicht passieren dürften, so wie dies auch bis vor ein paar Jahren noch in dem so idyllisch anmutenden, anthroposophisch orientierten Heim der Fall war, in dem ich als Kind selbst zwei Jahre die Hölle erlebt habe. Das geht dabei oft schlicht und ergreifend unter.

Lag die Aufmerksamkeit der allgemeinen öffentlichen Debatte und in Folge derer die des Runden Tischs Heimerziehung ursprünglich auf den fünfziger und sechziger Jahren, so wurde auf Empfehlung des Runden Tischs Heimerziehung hin der Fonds Heimerziehung auf die Zeit bis 1975 ausgedehnt.[2] Doch diese Ausweitung fand kaum ihren Niederschlag in der Auseinandersetzung mit der Heimerziehung dieser Zeit, das Hauptaugenmerk blieb weitestgehend auf den schon sichtbar kalt und abweisend erscheinenden Einrichtungen der frühen Jahre der Bundesrepublik und der Blick auf eine wesentlich komplexere Realität verstellt.

Das wird auch in Ausstellungen und Publikationen zu diesem Thema deutlich. Der einseitige Fokus auf kirchlichen Heimen führt neben der ebenso einseitigen öffentlichen Wahrnehmung dann leider auch dazu, dass viele andere persönliche Geschichten unsichtbar bleiben und es Betroffenen wie mir, die jenseits dieser Einrichtungen ebenfalls Erniedrigungen, Misshandlungen und sexueller Gewalt[3] ausgesetzt waren, schwer gemacht wird, ihre Peiniger genauso als das zu entlarven, was sie waren.

Um ein wirklich differenziertes Bild der vielschichtigen Heimrealität zeichnen und damit Kinder und Jugendliche heute und in Zukunft wirklich effektiv schützen und ihnen eine glücklichere Existenz ermöglichen zu können, müssten auch die besonderen Bedingungen jenseits der kirchlichen Einrichtungen aufgearbeitet und benannt werden. Damit wäre sichergestellt, dass sich Akteure auf allen Ebenen endlich auch ihrer Verantwortung hinsichtlich des Geschehenen in diesem Bereich nicht länger entziehen könnten. Stattdessen werden die Erfahrungen in diesen Heimen gerne unter bereits bekannten Mustern der Heimerziehung subsumiert. und auch hier positive Eindrücke immer wieder dazu benutzt, negative zu negieren. Ein wohlbekanntes und durchaus bequemes Muster, ganz so als hätte man nichts aus dem Umgang mit der Geschichte der kirchlichen Einrichtungen gelernt.

Anthroposophische Einrichtungen sind da nur ein Teil dieser weitgehend unerzählten Geschichte. Eine Ausblendung, die nicht nur mich als Betroffene wütend macht. Scheint doch unser schmerzhaftes, persönliches Erleben und die Besonderheiten, welche all dies erst ermöglichten, von so wenig Interesse zu sein. Jenseits solcher Überlegungen wären auch andere Kriterien, die eine weitere, zum Teil erhebliche Erschwernis der Heimzeit beziehungsweise des Umgangs mit Behörden vermuten lassen, wie zum Beispiel Abstammung, Behinderung oder sexuelle Identität, mehr als nur die übliche Randnotiz wert.

Daran zu arbeiten diesen Fokus ein bisschen gleichmäßiger aufzuteilen, funktioniert allerdings wie viele andere, wichtige Anliegen in diesem Bereich wohl nur nach dem Motto steter Tropfen höhlt den Stein. Wie sagte Erich Kästner so zutreffend in seinem Weihnachtslied, chemisch gereinigt, „Wer nichts kriegt, der kriegt Geduld!“ Im Sinne aller Betroffenen bleibt zu hoffen, dass sich diese tatsächlich auch auszahlt.

 

Literatur

  •  Mehr als Geld und gute Worte. Ergebnisse der Anlauf- und Beratungsstelle Heimerziehung Baden-Württemberg (ABH). Stuttgart 2018.

 

Anmerkungen

[1] Burnin´ and Lootin´, Bob Marley, 1973.

[2] Meiner Ansicht nach eine willkürliche Begrenzung, die ich für unzulässig erachtete. Konsequenterweise hätte es jenseits der rechtlich relevanten Verjährungsfristen keine Einschränkungen geben dürfen. Entwicklungen und Unterschiede im Laufe der Zeit differenziert herauszuarbeiten und anzuerkennen ist wichtig, wer aber meint, nur gestern sei es schlimm gewesen, wird schnell apologetisch. Daher ist positiv zu vermerken, dass Baden-Württemberg seit November 2020 mit Einrichtung der Ombudschaft für Jugendhilfe eine neue Anlaufstelle für ehemalige Heimkinder eingerichtet hat.

[3] Den Begriff Missbrauch bewusst vermeidend, folge ich der Argumentation Manfred Kappelers, der zu Recht zum Schluss kommt, dass es keinen legitimen sexuellen Gebrauch von Kindern geben kann, der Begriff daher letztendlich irreführend ist.

 

Zuerst veröffentlicht in: Mehr als Geld und gute Worte. Ergebnisse der Anlauf- und Beratungsstelle Heimerziehung Baden-Württemberg (ABH). Stuttgart 2018, S.70/71.

 

Zur Autorin: Akua Desta war von Geburt an drei Jahre in einem Säuglings- und Kinderheim und von sieben bis neun Jahren in einem anthroposophischen Kinderheim.

 

Zitierhinweis: Akua Desta, Gewalt in all ihren unterschiedlichen Facetten fand nicht nur in konfessionellen Heimen statt!, in: Heimkindheiten, URL: […], Stand: 22.03.2022.

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