Vom Spiel zum Sport

„Leibesübungen“ für Kinder

Der auflagenstarke Ratgeber „Kindersport“ von Major a. D. Neumann-Neurode, 1926 und „Anleitung zum selbstbestimmten und eigenverantwortlichen Sport treiben“, 1953. Quellen: Landesarchiv BW, HStAS, IfSG Ke 34 und HStAS, IfSG Ke 40
Der auflagenstarke Ratgeber „Kindersport“ von Major a. D. Neumann-Neurode, 1926 und „Anleitung zum selbstbestimmten und eigenverantwortlichen Sport treiben“, 1953. Quellen: Landesarchiv BW, HStAS, IfSG Ke 34 und HStAS, IfSG Ke 40

Jetzt wurden im Freien, öffentlich und vor jedermanns Augen, von Knaben und Jünglingen mancherlei Leibesübungen unter dem Namen Turnkunst in Gesellschaft getrieben. Dieses Zitat aus dem Buch Die Deutsche Turnkunst von Friedrich Ludwig Jahn und Ernst Eiselen (Berlin 1816) markiert ein neues Phänomen. Neben die zweckfreien Kinderspiele traten die Leibesübungen. Der Bewegungsdrang der Kinder und Jugendlichen sollte in geordnete Bahnen gelenkt werden und auf ein Ziel ausgerichtet sein: Turnen und Sport sollten die Wehrertüchtigung fördern sowie die (Volks-)Gesundheit stärken und den Charakter schulen.

Auch in Württemberg war der Einfluss der Turnbewegung groß. Die Kinder kamen durch das Schulturnen und die Turnlehrer mit ihr in Kontakt. In Stuttgart gab es seit 1862 die sogenannte Turnlehrerbildungsanstalt. Die Einführung des regelmäßigen Turnunterrichts wurde maßgeblich durch den Jahn-Schüler Friedrich Wilhelm Klumpp (1790–1868) vorangetrieben und in Württemberg ab 1845 etabliert. Frei-, Ordnungs- und Geräteübungen sowie Spiele bestimmten die körperlichen Übungen der sogenannten Zöglinge. Die zweite prägende Institution war der Turnverein. Beim 1843 gegründeten Männerturnverein Stuttgart wurden ab 1896 auch Kinder aufgenommen.

Die Leitbegriffe der zeitgenössischen Turnlehrbücher wie Ordnung und Gehorsam zeigen, dass der Körper in Einklang mit einem gegebenen Wertesystem gebracht werden sollte. Ein Grundproblem war, dass die Übungen des Erwachsenenturnens auf die Kinder angewandt wurden. Hermann Hesse (1877–1962) berichtete 1891 in einem Brief an seine Eltern über das Turnen am Maulbronner Seminar: Im Turnen kann man nicht am Leben bleiben, wenn man allen Befehlen folgt.

Die durch ältere Honoratioren bestimmten Turnvereine erhielten nach 1900 durch die Spielebewegung verstärkt Konkurrenz. Besonders die Fußballvereine wurden durch Jugendliche und junge Erwachsene geprägt und waren entsprechend populär. Nach 1945 hatte sich der Kindersport endgültig etabliert. Jedoch wurden einerseits der zunehmende Medienkonsum und der allgemeine Bewegungsmangel der Kinder kritisiert, andererseits aber auch vor einem übersteigerten Leistungsprinzip im Sport gewarnt. Diesen Entwicklungen begegnete der langjährige Landeskinderturnwart des Schwäbischen Turnerbunds Adolf Kofink (1905–1996) mit der Einführung des Mutter-Kind-Turnens und der Gaukinderturnfeste.

Bis heute werden die vielfältigen Sportangebote für Kinder maßgeblich durch die ehrenamtlich organisierten Vereine getragen. Nicht zu vergessen sind zudem die Jugendlichen, die unabhängig vom Vereinssport ihren Freizeitaktivitäten nachgehen. Aber auch die Schattenseiten wie Doping, sexuelle Übergriffe und Gewalt sowie die Kommerzialisierung gehören zur Geschichte des modernen Kinder- und Jugendsports.

Markus Friedrich

Quelle: Archivnachrichten 55 (2017), S. 20-21.

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