Sozialstruktur und politische Strömungen

Der Mannheimer Rheinhafen, eingeweiht 1840 (GLAK J-B Mannheim/24)
Der Mannheimer Rheinhafen, eingeweiht 1840 (Landesarchiv BW, GLAK J-B Mannheim/24)

Alle Reformen, ihnen voran die Gewerbefreiheit, waren Grundlagen für eine entscheidende Veränderung von Bevölkerung und Sozialstruktur. Ab 1862 war Baden nicht mehr so ausgesprochen Auswanderungsland wie bisher. Während vorher die Regierung sich des Bevölkerungsdrucks durch staatliche Förderung der Auswanderung erwehren musste, fand jetzt die nachwachsende Generation, abgesehen von der Depression um 1876/80, Arbeit und Verdienst. Die Industrie zog immer mehr Kräfte an, sie beschäftigte 1861 31.000 Arbeiter, 1912 214.000. Dies bedeutete insgesamt eine Verstädterung der Einwohnerschaft - 1871 lebten noch 67% auf dem Land, 1905 nur noch 45% - und eine Verlagerung der gewerblichen, Schwerpunkte. Mannheim, bis 1870 mehr Verkehrszentrum als Produktionsstätte, überflügelte die Pforzheimer, Lahrer und Lörrach-Wiesentäler Industrie bei weitem. Die Oberrheinregulierung seit 1900 entzog ihm die einzigartige Stellung als Endpunkt der Großschifffahrt, was in erneuter Steigerung der Industrie vollen Ersatz fand.

Reformen wie soziale Veränderungen riefen im Land aber auch die Gegenkräfte zur nationalliberalen Partei auf den Plan. Diese selbst hatte sich nach 1848 schon vorhandenen Ansätzen 1866 organisiert und beherrschte lange Zeit den Staatsapparat so, dass ihr ein Kampf um die Wähler von der Parteibasis aus erspart blieb. Die Demokraten führten die Traditionen von 1848 fort, ihre ursprünglich großdeutsche Einstellung verblasste unter dem Eindruck des zweiten Reiches zusehends, die Frontstellung gegen Bismarck blieb; so schlossen sich ihnen in vielfachen Bündnissen auch die von den Nationalliberalen abgespaltenen Freisinnigen an. Gegen die mit der gerade von den Demokraten erfochtenen Wahlrechtsänderung erstarkenden anderen Kräfte schlössen sie sich landespolitisch mit den Nationalliberalen 1903/04 zum liberalen Block zusammen, der vor dem Ersten Weltkrieg in einem Zusammengehen mit den Sozialdemokraten als Großblock eine eindeutig gegen das Zentrum gerichtete Politik betrieb. Die katholische Partei war inzwischen aus kleinen Anfängen zur stärksten politischen Kraft im Lande geworden, dabei scheinen sowohl das Erstarken eines konfessionellen Bewusstseins wie die negativen Auswirkungen der Gewerbefreiheit für weite Schichten des Handwerks und der Heimarbeit auf dem Lande eine Rolle gespielt zu haben. 1869 als katholische Volkspartei organisiert, nannte sie sich 1888 auch auf Landesebene Zentrum. Geschickte Wahlbündnisse nach rechts wie auch links, stets gegen die Nationalliberalen, brachten die Partei rasch in eine Schlüsselstellung im Landtag. Von der liberalen Blockpolitik an war ein Zusammengehen mit der Rechten unausweichlich. Diese war nicht besonders stark und zerfiel in mehrere Spielarten der Konservativen und den in Baden nicht einfach eine konservative Hilfsorganisation darstellenden Bund der Landwirte. Die Sozialdemokratie fand ihren ersten Ansatz naturgemäß in den industriellen Zentren Mannheim, Pforzheim-Karlsruhe und Lörrach. Anfangs bestanden über die gewerkschaftliche Arbeiterbewegung viele Querverbindungen zur demokratischen Partei. Der Aufbau einer eigenen Partei ging zum Teil mit von auswärts eigens dafür abgestellten Kräften von Mannheim aus. 1890 erkämpfte die Sozialdemokratie dort ihr erstes badisches Reichstagsmandat, ab 1897 war sie auch im Landtag vertreten. Im Ganzen zeichnete sich die. badische Sozialdemokratie durch ihre gemäßigte Richtung aus, wie das beim Umsturz von 1918 zum Ausdruck kam.

Die Gesellschaft für Spinnerei und Weberei Ettlingen, gegründet 1836 (GLAK J-B Ettlingen/5)
Die Gesellschaft für Spinnerei und Weberei Ettlingen, gegründet 1836 (Landesarchiv BW, GLAK J-B Ettlingen/5)

Großherzog Friedrich lI. (1907-1918) ist als Persönlichkeit weniger hervorgetreten als sein Vater, erfreute sich aber auch allgemeiner Achtung im Lande. Seine politischen Wirkungsmöglichkeiten hatte die Verfassungsentwicklung im Reich wie im Land noch stärker eingeschränkt. Eine Ehrenrolle des Großherzogs war die des Rektors der badischen Universitäten. Hier auf dem Gebiet der Hochschulpolitik liegen deutliche Leistungen des relativ kleinen Staates, der mit zwei Universitäten und der 1825 als polytechnische Schule gegründeten, 1885 zur Technischen Hochschule erhobenen Fridericiana in Karlsruhe drei große Hochschulen besaß, die weit über die Landesgrenzen hinauswirkten, zumal Heidelberg schon in der ersten Jahrhunderthälfte, die beiden anderen Hochschulen ab 1850 Gelehrte von internationalem Rang aufwiesen.

(Quelle: Bearbeitete Fassung aus dem Abschnitt Landesgeschichte, in: Das Land Baden-Württemberg. Amtliche Beschreibung nach Kreisen und Gemeinden, hg. von der Landesarchivdirektion Baden-Württemberg, Band I, Stuttgart, 2. Aufl. 1977)

Suche