Kriegsküche und Hungerjahre
Von Felicitas Wehnert
Hunger war oft der letztendliche Auslöser für die großen politischen Veränderungen in Europa: der Brotmangel führte mit zur Französischen Revolution von 1789, Hunger begleitete die Aufstände 1848/49. Und viele verließen aus Angst vor Verfolgung und mit der Sehnsucht nach Freiheit und einem Leben ohne materielle Not die Heimat und wanderten aus – nach Amerika oder nach Russland. Im kollektiven Gedächtnis bleiben vor allem drei Hungerkatastrophen haften: das „Jahr ohne Sommer“ 1816, der Rübenwinter 1916/17 und der Hungerwinter 1946/47.
Eine Naturkatastrophe im fernen Indonesien wirkte sich bis zum deutschen Südwesten aus. Als im April 1815 der Vulkan Tambora ausbricht, hängen die Aschewolken selbst über Württemberg und Baden. Über ein Jahr dringt keine Sonne durch. Nichts wächst mehr, die Ernte fällt aus und die Menschen hungern. Zeitgenössische Berichte erzählen von Kleiebrot, von mit Sägespänen gestrecktem Mehl, von Brennnesseln und selbst Gräsern, die gedünstet und mit etwas Salz gegessen werden.
Die Landschaft veränderte sich. Die Weinhänge wurden gerodet und zu Äckern gemacht. Zwar ersetzten Wein und Most das schlechte Wasser aus den Brunnen, die aus Unkenntnis oft neben dem Misthaufen lagen, aber jetzt waren vor allem Grundnahrungsmittel gefragt: Getreide, Rüben, Kartoffeln.
Der junge König als Krisenmanager
Wer jung und gesund ist, verlässt die verödeten Dörfer: Allein von Januar bis Juli 1817 wanderten 17.000 Menschen aus Württemberg aus, entweder über die Donau nach Ungarn, Polen und Russland oder nach Nordamerika. In Baden werden im selben Zeitraum noch einmal 16.000 Auswanderer gezählt, die sich in der Ferne ein besseres Leben versprechen.
Genau in diesem von Missernten und Hungersnöten geprägten Jahr 1816 trat der junge Wilhelm I. – eben 35 Jahre alt geworden und zudem frisch verheiratet mit seiner russischen Cousine Katharina – sein Königsamt in Württemberg an. Keine leichte Aufgabe, denn das Land war nach den Napoleonischen Kriegen ausgeblutet. Aber Wilhelm ist landwirtschaftlich vorgebildet und voller Tatendrang. Zuerst deckelte er die Lebensmittelpreise, förderte die Anpflanzung von Obstbäumen und ließ im Ausland Rinder und Schafe ankaufen. Um die Landwirtschaft anzukurbeln, gründete er in Hohenheim eine landwirtschaftliche Unterrichts-, Versuchs- und Musteranstalt, die 1847 zur Landwirtschaftlichen Akademie erhoben wurde und heute die Universität Hohenheim ist.
Um der bedrückten Stimmung etwas entgegenzusetzen, ließ er im September 1818 erstmals in den Neckarauen „ein Fest der Hoffnung“ feiern, das Cannstatter Volksfest. Und noch eine Maßnahme wirkt bis in die Gegenwart: 1820 veranlasste er, chinesische Maskenschweine mit Landschweinen zum robusten Mohrenköpfle zu kreuzen – dem Schwäbisch-Hällischen Schwein, das heute in Hohenlohe eine kulinarische und wirtschaftliche Erfolgsgeschichte ist.
Der Kohlrübenwinter
Knapp 100 Jahre später kam es zur nächsten großen Hungersnot, diesmal durch den Ersten Weltkrieg. Die anfängliche Euphorie schlug rasch in Ernüchterung um. Die Bauern waren eingezogen, die Felder blieben unbestellt zurück und wurden zertrampelt, die Nahrungsmittelproduktion sank.
Zudem importierte das Deutsche Reich damals zwischen einem Drittel und einem Fünftel seiner Lebensmittel, was durch die Blockade der Entente unterbunden wurde. Schon 1915 richteten wohltätige Vereine die ersten Suppenküchen ein, vor allem in Industriestätten. Weitere öffentliche Suppenküchen folgten. Im selben Jahr gab es Brotkarten. Zusätzlich wurden Milch, Fett, Eier und weitere Nahrungsmittel rationiert. Der verregnete Sommer 1916 führte zudem zu Missernten, das Getreide fiel fast aus, die Kartoffelfäule gab den Rest. Es mündete in den Hungerwinter 1916/17. Die Menschen aßen abwechselnd Kohl- und Steckrüben: morgens Kohlsuppe, mittags Steckrübenschnitzel, abends Steckrübenpudding. Der spätere erste Kanzler der Bundesrepublik und damalige Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer kreierte das „Kölner Brot“ aus Reis-, Gersten-, Maismehl und Graupen und wurde deshalb mit bitterer Ironie auch „Graupenauer“ genannt. Spätestens nach diesem Winter hatten die Menschen die Kohlrüben satt und verwendeten sie meist nur noch als Futterrüben.
Während des Ersten Weltkriegs kam auch der Begriff „Eintopf“ auf. In der bäuerlichen Küche war die sättigende Suppe mit Hülsenfrüchten, Kartoffeln und etwas Wurst und Speck zwar schon lange üblich, aber so richtig propagiert wurde das Essen aus einem Topf erst 1915 im Rahmen der Massenspeisung.
Eintopf und Lebensmittelmarken
Rund 20 Jahre später und bereits mit Blick auf die spätere Kriegswirtschaft vereinnahmten die Nationalsozialisten den Eintopf und luden ihn ideologisch auf. 1933 führten sie den Eintopfsonntag ein, um den Verbrauch von Fleisch und Fett zu reduzieren. Seit Ende des 19. Jahrhunderts produzierten die Deutschen höchstens vier Fünftel der Lebensmittel selbst, oft sogar noch weniger. Der Rest musste importiert werden. Über den Reichsnährstand, der ständischen Organisation der Agrarwirtschaft, die von den Nationalsozialisten bereits gleichgeschaltet war, wurde die Agrar- und Ernährungspolitik auf die Erfordernisse der Kriegswirtschaft ausgerichtet. Zunächst konnte der Selbstversorgungsanteil der Deutschen von 68 Prozent im Jahr 1928 auf 83 Prozent im Jahr 1938 gesteigert werden.
Doch bereits am 28. August 1939, vier Tage vor dem Überfall auf Polen und dem Beginn des Zweiten Weltkriegs, wurden Lebensmittelmarken und Bezugsscheine für Benzin und Kleidung ausgegeben. Kartoffeln, Obst und Gemüse wurden zunächst noch frei verkauft, aber bald schon rationiert. Ende 1939 gab es spezielle Karten für Säuglinge und Schwerkranke und für Soldaten zusätzliche Karten für Brot, Fleisch und Fett, Eier und Zucker. Juden waren von allen Sonderzuteilungen ausgeschlossen und erhielten ab 1942 keine Fleisch- und Kleiderkarten mehr. Je länger der Krieg dauerte, desto größer wurden die Engpässe. Die Reichsfrauenführerin Gertrud Scholtz-Klink propagierte den Kochlöffel als „die Waffe der Hausfrau“.
Ein Kochbuch von 1943 empfahl die Zubereitung von Graupenbratlingen und Kohlrabischnitzeln. Rezepte wurden ausgetauscht, wie sich für einen Kuchen das Mehl durch Kartoffeln ersetzen lässt, und wie man mit wenig Ei und Fett auskommt. Öffentliche Eintopfessen sollten das Zusammengehörigkeitsgefühl der Volksgemeinschaft stärken. An die Hausfrauen erging die Aufforderung, das eingesparte Geld für den sonst üblichen Sonntagsbraten dem Winterhilfswerk zu spenden. Vielleicht ist das ein Grund, warum vielen Älteren der Kriegsgeneration der Eintopf vergrault ist.
Ab April 1942 kam es zu drastischen Kürzungen der Monatsrationen für Normalverbraucher: Brot von 9,6 Kilo auf 6,4 Kilo, Fleisch und Wurst von 1.600 Gramm auf 1.200 Gramm, Fett von 1.053 auf 825 Gramm.
Nach Kriegsende gaben die alliierten Besatzungsmächte ab Mai 1945 in ihren jeweiligen Sektoren neue Lebensmittelkarten aus. In der Bundesrepublik wurden sie 1950 abgeschafft, in der DDR erst 1958. Der landwirtschaftlich geprägte Südwesten war vom Hunger weniger betroffen als etwa die zerbombten Industriezonen im Ruhrgebiet. Etliche hatten Verwandtschaft auf dem Dorf oder ein Gütle, wo sie Obst ernten und Kartoffeln und Gemüse anbauen konnten. Aber auch hier bildete sich ein Schwarzmarkt und es wurde zum Hamstern aufs Land gefahren. Dazu kamen spezielle Kochbücher heraus wie „Gute Kost in magerer Zeit“ von Grete Boruttau.
Magere Küche in der Nachkriegszeit
Ziel ihres Kochbuches ist es „von den tatsächlichen schwierigen Umständen auszugehen: Von Nahrungsmitteln und Zutaten, die nicht in beliebigen Mengen zu haben sind“. Der Eintopf hatte nach wie vor einen hohen Stellenwert als „Sammelsurium der verschiedensten kleinen Reste“. Dabei riet sie etwa, vorhandene Fleischwurst in kleinste Würfelchen zu schneiden, „damit die ganze Suppe von dem Geschmack aufnimmt“. Und auch nach Rinder-Herz und Kuh-Euter zu fragen, da sie „mitunter in einem Mehrfachen des Markenwertes abgegeben werden“. Wie knapp es zuging, erfährt man an der Bemerkung, dass die Suppen „derzeit eine völlig andere Einschätzung als früher“ erfahren: nicht mehr als „appetitanregende Einleitung einer Mahlzeit“, sondern sie muss vor allem „sättigen und nähren“ und könne wie früher als Morgensuppe den „Brotaufstrich und Brotbelag sparen“.
Von dem Mangel erzählen auch die „fettsparenden Winke“, die genaue Anleitung, wie ein Ei geteilt und aufgehoben wird, und wieviel Geschmack noch eine feingeriebene Käserinde erzeugen kann. Ein schmales Kapitel widmet sich den häuslichen Festen und der Gastlichkeit, die jetzt „nach diesen Jahren der ununterbrochenen seelischen Anspannung“ wieder möglich werden. Die Rezepte verwenden Hirn und Herz, Euter und Kartoffeln und Doppelbrote, „um Belag zu sparen“. Und dem Gast wird geraten, „nicht ausgehungert“ zu kommen und vielleicht sogar ein paar Lebensmittelmarken als Präsent mitzubringen.
In guter Erinnerung bleiben vielen der Kriegsgeneration die CARE-Pakete, die ab Mitte 1946 in die amerikanische und britische und schließlich auch französische Besatzungszone im Rahmen der amerikanischen Hilfsprogramme nach Deutschland geschickt wurden – mit Corned Beef und Candy Schokolade, mit Ei- und Milchpulver, mit Zucker und Honig und einer kleinen Portion Kaffee. Fast zehn Millionen Pakete gelangten zwischen 1946 und 1960 nach Westdeutschland. Zusätzlich führten die drei Westalliierten in ihren Besatzungszonen eine Schulspeisung ein. Bis 1950 bekamen Kinder und Jugendliche zwischen sechs und 18 Jahren einmal täglich eine Mahlzeit, meist aus Armeebeständen.
Literatur
- Borttau, Grete, Gute Kost in magerer Zeit, München 1947.
- Köstlin, Konrad, Der Eintopf der Deutschen, in: Tübinger Beiträge zur Volkskunde (Untersuchungen des Ludwig-Uhland-Instituts der Universität Tübingen; Bd. 69), hg. von Utz Jeggle, Tübingen 1986, S. 220-241.
Zitierhinweis: Felicitas Wehnert, Kriegsküche und Hungerjahre, in: Alltagskultur im Südwesten, URL: […], Stand: 08.08.2020