Protestschreiben von Eltern, Praktikantinnen und Zivildienstleistenden an Kinderkureinrichtungen und Aufsichtsbehörden

von Corinna Keunecke

Aus einem Schreiben des Kreisjugendamtes des Alb-Donau-Kreises an den Landeswohlfahrtsverband Württemberg-Hohenzollern. [Quelle: Landesarchiv Baden-Württemberg, Staatsarchiv Ludwigsburg 180 a II Bü 433]
Aus einem Schreiben des Kreisjugendamtes des Alb-Donau-Kreises an den Landeswohlfahrtsverband Württemberg-Hohenzollern. [Quelle: Landesarchiv Baden-Württemberg, Staatsarchiv Ludwigsburg 180 a II Bü 433] Zum Vergrößern bitte klicken.

Zwischen den 50er- und 80er-Jahren wurden in der Bundesrepublik Millionen Kinder zur vermeintlichen „Erholung“ in Kinderkur- und Erholungsheime verschickt. Die in diesem Rahmen verübte Gewalt an Kindern wurde jahrzehntelang nicht thematisiert. In den letzten Jahren begannen Betroffene, sich zu organisieren und machten ihre Erfahrungen öffentlich.

Die Erforschung der Kinderverschickung steht bisher erst am Anfang, noch sind viele Fragen offen. Eine dieser Fragen ist, warum nicht mehr Eltern Beschwerde einlegten? Und wie reagierten die Einrichtungen und Behörden auf die Kritik, die an sie herangetragen wurde?

Heime waren in den Nachkriegsjahrzehnten zumeist „totale Institutionen“.[1] Das bedeutet unter anderem, dass es weitgehend geschlossene Systeme sind, aus denen wenig nach draußen dringt – eben auch keine Klagen und Beschwerden. Betroffene berichten häufig über Briefzensur: Briefe an die Eltern wurden zerrissen oder sie mussten wortwörtlich abschreiben, was ihnen vorgegeben wurde. Bei kleineren Kindern verfassten ohnehin die „Tanten“ die Post an die Eltern. Da Anrufe und Besuche der Eltern ausdrücklich verboten waren, drang das Leid der Kinder nicht bis zu ihnen. Diese konnten erst nach der Rückkehr von ihren Erlebnissen erzählen, wobei viele Betroffene berichten, dass sie sich ihren Eltern nicht anvertrauten oder diese ihnen keinen Glauben schenkten.

Und selbst, wenn die Eltern ihren Kindern das Erzählte glaubten, gab es noch viele Hürden zu überwinden, bis sie eventuell eine Beschwerde formulierten und an die Einrichtung, Träger oder Behörden schickten: Die Missstände mussten von ihnen zum einen als wichtig genug erachtet werden, um tätig zu werden. Sie mussten zudem wissen, wer der passende Adressat für ihre Beschwerde war, was bei den vielen Akteuren im Bereich der Kinderverschickung alles andere als leicht war; zudem mussten sie in ihrem Alltag die nötige Zeit finden. Und generell musste ein grundlegendes Vertrauen darin bestehen, dass Beschwerden etwas bringen und dass die eigene Meinung Gehör verdient – eine Auffassung, die bei weitem nicht für alle Menschen selbstverständlich war und ist.[2]

Neben den Beschwerden von Eltern kamen die weiteren, bisher bekannten, ausschließlich von Menschen, die von außerhalb und für eine begrenzte Zeit in die Einrichtungen kamen und deren Lohn nicht davon abhing, ob sie die dortigen Umstände mittrugen oder zumindest dazu schwiegen: Es waren Praktikantinnen und Zivildienstleistende, die oft in Studium und Ausbildung schon andere Werte bezüglich der Kindererziehung vermittelt bekommen hatten und selbst vertraten.

Ein Beispiel ist die Beschwerde von zwei Zivildienstleistenden, die 1975 im Kindererholungsheim Herrlingen in Blaustein ihren Dienst leisteten. Sie erhoben gegen den leitenden Arzt den Vorwurf, „Bettnässern“ Spritzen (mit Vitaminen o.ä.) ohne medizinische Indikation zu verabreichen, allein in der Absicht, die Kinder zu ängstigen und züchtigen. Das eingeschaltete Gesundheitsamt maß ihren Aussagen jedoch keinerlei Bedeutung bei und der Arzt wies die Beschwerden zurück, wie der im Staatsarchiv Ludwigsburg überlieferten Aufsichtsakte zu entnehmen ist.

Mehrere Kindergärtnerinnen in Ausbildung, die 1967 ein Praktikum im Waldhaus in Bad Salzdetfurth absolvierten, verfassten eine im Niedersächsischen Landesarchiv überlieferte Beschwerde, in denen sie u.a. starre Tagesabläufe und Räumlichkeiten, die nicht an den Bedürfnissen der Kinder ausgerichtet waren, kritisierten; auch thematisierten sie verschiedene Formen von Gewalt. Auf diese Vorwürfe wurde inhaltlich nicht eingegangen, und es hieß, dass die Praktikantinnen sich aufgrund der Kürze ihres Aufenthalts kein Urteil über die Einrichtung erlauben könnten.[3]

Ein Pädagogikstudent jobbte 1970 in einem Erholungsheim und berichtete später als Zeitzeuge über seine Erfahrungen dort. Seine Chefin habe ihm gesagt, dass man die Kinder schlagen dürfe, sogar solle, damit man sich Respekt verschaffe. Er weigerte sich und initiierte eine Protestaktion, in deren Folge er und jene, die mit ihm protestiert hatten, gekündigt und unglaubwürdig gemacht wurden.[4] Auch anhand eines 1972 von drei Praktikantinnen des Adolfinenheims auf Borkum verfassten Beschwerdebriefes und des darauf folgenden Briefwechsels (archiviert im Pfarrarchiv Borkum) lässt sich der Umgang der Heimleitung und der lokalen Verwaltung mit der Benennung – und vermutlich befürchteten Öffentlichmachung – von Missständen nachvollziehen. Es war ebenso wie in allen anderen Fällen: Die Probleme wurden als Einzelfälle verharmlost und unter den Teppich gekehrt. Diejenigen, die Kritik geübt hatten, verließen die Einrichtungen.[5]

Dieser (Nicht-)Umgang mit Kritik zeigt uns viel über das Kinderkurwesen, die bundesrepublikanische Nachkriegsgesellschaft und den Unwillen, vielleicht auch die Unfähigkeit der Verantwortlichen, ihre Erziehungspraktiken zu überdenken und das Wohlergehen der ihnen anvertrauten Kinder in den Mittelpunkt ihres Handelns zu stellen. Es zeigt sich aber auch: Ab Ende der 60er-Jahre erfolgte zunehmend ein Umdenken im Hinblick auf Kindererziehung bei denjenigen, die in dieser Zeit ihre Ausbildung machten oder studierten. Bis diese Entwicklungen wiederum in den Einrichtungen ankamen, dauerte es noch einmal deutlich länger.

Anmerkungen

[1] Vgl. Goffman, Erving, Asyle, Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen, Frankfurt am Main 1973.

[2] Michaela Fenske hat in ihrem Buch „Demokratie erschreiben. Bürgerbriefe und Petitionen als Medien politischer Kultur 1950-1974“ (Frankfurt am Main, 2013) eindrücklich dargelegt, wie die Deutschen durch die Praxis des Schreibens von Bürgerbriefen und Petitionen in der Nachkriegszeit erst nach und nach ein neues Selbst-Verständnis von Staat, Politik und Demokratie entwickelten.

[3] Vgl. Heimortgruppe Bad Salzdetfurth der Initiative Verschickungskinder, Verschickungskinder in Bad Salzdetfurth 1953-1969, Erinnerungen, o.O. 2023.

[4] Vgl. Jürgen Brennecke, Hamburger Kinderheim “Linden-Au“ in Lüneburg 1971. Erziehungsmethoden aus der Nazizeit, URL: https://verschickungsheime.de/wp-content/uploads/2021/06/Erzieher-Erlebnisse-1971-in-Lueneburg-18-S..pdf (aufgerufen am 07.09.2024).

[5] Anja Röhl, Kindererholungsheime als Forschungsgegenstand. Erwachsene Zeit zeug*innenschaft am Beispiel eines Beschwerdebriefes im Adolfinenheim auf Borkum, URL: https://sozialgeschichte-online.org/2022/04/13/anja-rohl-kindererholungsheime-als-forschungsgegenstand/ (aufgerufen am 07.09.2024).

Zitierhinweis: Corinna Keunecke, Protestschreiben von Eltern, Praktikantinnen und Zivildienstleistenden an Kinderkureinrichtungen und Aufsichtsbehörden, in: Heimkindheiten, URL: […], Stand: 21.02.2022.

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