Interview zum Anbietungsmoratorium Verschickungskinderakten mit Prof. Dr. Christian Keitel
Was ist das Anbietungsmoratorium der Verschickungskinderakten und welches Ziel wird dadurch verfolgt?
Christian Keitel: In dem Moratorium empfehlen das Landesarchiv Baden-Württemberg und die beiden Arbeitskreise der Kreis- und Stadtarchive den Heimen und Behörden, Unterlagen zur Kinderverschickung erst nach 2025 den zuständigen Archiven anzubieten. Dadurch sollen Betroffene und recherchierende Archive länger Zeit haben, relevante Akten zu finden.
Warum braucht es ein Anbietungsmoratorium im Kontext der Verschickungskinderakten?
Christian Keitel: Bei den meisten Akten zur Kinderverschickung ist die Aufbewahrungsfrist (die Zeit, in der die Akten in den Heimen bzw. Behörden noch aufbewahrt werden müssen) abgelaufen. Sie müssen daher dem zuständigen Archiv angeboten werden. Archive können aber nur kleine Teile der Akten übernehmen und archivieren, der Rest wird vernichtet und kann dann nicht mehr recherchiert werden. Der Anbietungsprozess soll daher aufgeschoben werden, um den Betroffenen mehr Zeit zu geben.
Warum können die Akten nicht zu großen Teilen ins Landesarchiv bzw. in andere zuständige Archive übernommen werden?
Christian Keitel: Das Landesarchiv archiviert derzeit auf etwa 170 Regalkilometern Archivalien aus der Zeit zwischen 780 bis heute. Gegenwärtig liegen in der Landesverwaltung noch weitere 2000 Kilometer Akten, die vor allem in den letzten dreißig Jahren entstanden sind. Diese Dokumente können aus finanziellen und logistischen Gründen nur in kleiner Auswahl erhalten und somit für immer aufbewahrt werden. Das sind etwa 5 Prozent der 2000 Kilometer Akten. Künftige Historikerinnen und Historiker benötigen für ihre Arbeit lediglich einen Bruchteil aller entstandenen Dokumente.
Und könnte man die Verschickungskinderakten digitalisieren? Dann wären sie zumindest digital gesichert.
Christian Keitel: Die Digitalisierung kostet ebenso wie die sich anschließende digitale Archivierung sehr viel Geld und kann nur zu einem kleinen Prozentsatz geleistet werden. Hinzu kommt, dass die Daten für die digitale Archivierung dreifach in drei verschiedenen Systemen abgespeichert werden müssen. Geld wird daher sowohl für den Speicherpatz als auch für Hard- und Software sowie die Arbeitslöhne, derjenigen, die für die digitale Archivierung verantwortlich sind, gebraucht.
Was geschieht mit den Akten nach 2025?
Christian Keitel: Die Akten werden den zuständigen Archiven angeboten, archivisch bewertet und in Auswahl archiviert. Bei der Bewertung der Verschickungskinderakten suchen die Archivarinnen und Archivare nach Akten und anderen Unterlagen, die Aufgaben der Behörden und Heime und ihre wesentlichen Entscheidungen möglichst genau dokumentieren. Einen Eindruck können Sie in den Bewertungsmodellen des Landesarchivs gewinnen.
Welche Möglichkeiten gäbe es, um die Akten dennoch zu schützen und länger aufzubewahren?
Christian Keitel: Für eine Lösung sollten die Akten von allen Personen, die aus heutiger Sicht von staatlicher Seite Unrecht erfahren haben, für die Dauer ihres Lebens aufbewahrt werden. Danach könnten sie archivisch bewertet und in kleiner Auswahl den Archiven übergeben werden. Heute kann diese Aufgabe weder von den Heimen oder Behörden noch von den Archiven geleistet werden. Notwendig wäre daher die Einrichtung von Zwischenarchiven. Es wäre naheliegend, diese Zwischenarchive bei den öffentlichen Archiven anzusiedeln, da dort die nötigen Archivierungskompetenzen vorhanden sind und die Akten zu einem späteren Zeitpunkt archiviert werden sollen. Die Einrichtung eines Zwischenarchivs müsste von der Gesellschaft gefordert und von den Parlamenten mit ausreichend Geldmitteln ausgestattet werden. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind die dafür nötigen Mittel weder bei den Archiven noch in den Heimen und Behörden vorhanden.
Gäbe es noch weitere Möglichkeiten, die Kinderverschickungsakten zu schützen?
Christian Keitel: Denkbar wäre auch noch eine umfassende Digitalisierung der Akten. Diese Lösung dürfte aber noch teurer sein als die Einrichtung eines Zwischenarchivs. Zu bedenken ist außerdem, dass dann die originalen Papierakten verloren gehen. In juristischem Sinne wird dadurch auch die Beweiskraft vor Gericht deutlich reduziert.
Das Interview führten Gina Feis und Sophie Rücker. Sie setzten im Rahmen ihrer Masterarbeit im Fach Medienwissenschaft an der Uni Tübingen eine interaktive, journalistische Website zum Thema Kinderverschickung um. In diesem Zusammenhang entstand auch das Interview mit Prof. Dr. Christian Keitel, der in seiner Funktion als Koordinator für die Überlieferungsbildung beim Landesarchiv Baden-Württemberg für das Zustandekommen des Moratoriums verantwortlich war.
Zitierhinweis: Gina Feis und Sophie Rücker, Interview zum Anbietungsmoratorium Verschickungskinderakten mit Prof. Dr. Christian Keitel, in: Heimkindheiten, URL: […], Stand: 30.10.2024.